Liebe Vorkommentatoren,
nach Durchsicht der Antworten möchte ich meinen Kommentar nochmals ausdifferenzieren.
Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Corona-Epidemie erachte ich das Thema Patientenwille, Patientenverfügung (PV), Vorsorgevollmacht (VV) und Betreuungsverfügung (BV) als sehr relevant.
Ich möchte folgende Erklärungen anfügen:
- Eine PV besteht aus 2 Elementen:
A) Sie beschreibt eine Situation, in der - und NUR in der !!! - diese zu gelten hat. In den Muster PVs sind die Situationen in der Regel … „wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren Erkrankung befinde“ … und „wenn ich mich im Sterbeprozess“ befinde.
B) Sie beschreibt Maßnahmen, die in den o. g. Situation angewandt oder nicht mehr angewandt werden sollen bzw. dürfen!
Hieraus ergeben sich mehrere Probleme:
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die PV hat NUR Geltung in den definierten Situationen. Wobei die Definition des Sterbeprozess eigentlich überflüssig ist, weil sich therapeutische Maßnahmen abseits der Symptomlinderung in diesem Fall sowieso verbieten.
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Diese Situationen lassen sich theoretisch ausdifferenzieren. Dies ist für den Laien i. d. R. nicht möglich, weil er nicht in der Lage ist, alle Eventualitäten (z. B. Wachkoma, dauerhafte Abhängigkeit von Beatmung, Querschnitt, …) diverser Erkrankungssituationen zu antizipieren.
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Oftmals entstehen Situation, in denen die PV nicht greift. Dann verstehen die Patienten/Angehörigen nicht, dass man bestimmte Therapien jetzt doch einsetzt.
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Die Situation „Endstadium einer unheilbaren Krankheit“ ist vermutlich in der internistischen Medizin, z. B. im Kontext einer fortgeschrittenen Krebserkrankung fassbarer als in meinem Alltags einer chirurgischen Intensivstation. Hier lässt sich unter Umständen besser definieren, wann eine Tumorerkrankung fortgeschritten ist und absehbar zum Tode führt (wobei auch hier der Horizont ggf. nicht klar absehbar ist)
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In der chirurgischen Intensivmedizin entstehen oft Akutsituationen aus dem Alltagsleben heraus (Herzinfarkt, Hirnblutung, Infektion …) oder nach geplanten Operationen. Patienten mit ggf. vorhandenen Vorerkrankungen finden sich plötzlich in Situationen mit Langzeitbeatmung, Organersatzverfahren, kognitiven Einschränkungen wieder, in denen sie oftmals ihren Willen nicht mehr äußern können, in denen die Intensivmedizin die Lebens- und die Organfunktionen oftmals über Wochen und Monate aufrechtrechterhalten kann und in den eine klare Prognose oftmals nicht direkt abschätzbar ist. In diesem Kontext sind dann eine Vielzahl wichtiger Einscheidungen zu treffen (z. B. wie lange soll eine Therapie aufrechterhalten werden, sollen gewisse Folgeeingriffe durchgeführt werden …). Gleichzeitig sind alle intensivmedizinischen Maßnahmen mit Risiken und Komplikationen (typisch: Hirnblutung unter Blutverdünnung bei Organersatzverfahren) verbunden. Die Wahrscheinlichkeit für deren Verwirklichung nimmt dabei mit Dauer der fortschreitenden Behandlung zu.
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Das gleiche gilt für die aktuelle COVID-19 Pandemie. Patienten verschlechtern sich akut. Es bestehen Therapiemöglichkeiten durch Beatmungsunterstützung, maschinelle Beatmung und Lungenersatzverfahren. Es gibt Patienten, die sich unter diesen Therapieformen erholen, - aber viele, aktuell die Mehrzahl, trotz langem Intensivaufenthalt nicht. Zugleich wissen wir noch zu wenig, um verlässlich eine Prognosen abgeben zu können. Der Kontext „Endstadium …“ lässt sich nicht anwenden.
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Die moderne Intensivmedizin ermöglicht es uns, vielen Patienten das Überleben aus Akutsituationen zu ermöglichen. Zugleich versterben viele Patienten trotz Maximaltherapie. Eine Langzeitintensivaufenthalt ist eine enorme Belastung - für Patienten und Angehörige. Auch wenn Patienten nach schweren Erkrankungen überleben, kehren ist sie meist nicht in demselben Zustand in ihr Alltagsleben zurück, wie vor der Erkrankung. Oft sind lange Phasen der Rehabilitation erforderlich (Mo - Jahre). Oft entstehen dauerhafte Einschränkungen: kognitive Defizite, körperliche Einschränkungen, Beatmungsabhängigkeit, Pflegebedürftigkeit, Dialyseabhängigkeit, Angststörungen.
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Zur VV: Diese bevollmächtigt eine vertraue Person, den Ärzten den mutmaßlichen Patientenwillen zu transportieren. Dies hilft den Ärzten, in komplexen Situationen entscheiden zu können, ob eine medizinische Maßnahme, vom mutmaßlichen Patientenwillen abgedeckt ist. Ärzte sind immer dazu verpflichtet, den mutmaßlichen Patientenwillen zu erörtern, sei es durch Anhörung von Angehörigen, Freunden, vorbehandelnden Ärzten. Auf der Grundlage Ihrer Meinungsbildung, müssen Sie die weiteren medizinischen Maßnahmen begründen. Dabei dürfen Ehepartner nicht automatisch eine gesetzlich begründete Entscheidung treffen. Ein Ehepartner würde sicherlich immer von Ärzten im Hinblick auf den mutmaßlichen Patientenwillen angehört, sollte es aber zu einem uneinheitlichen Bild kommen oder sollten die Ärzte zu einem anderen Schluss kommen, hat der Ehepartner per se keine rechtliche Handhabe. Eine Person, die eine VV hat, kann unter der Berufung auf den Patientenwillen einer medizinisch indizierten Therapie (Beatmung, Dialyse, …) widersprechen. Dies wäre dann für die Ärzte bindend, sofern sie keine Zweifel an der korrekten Ausübung des Patientenwillens durch den Bevollmächtigten haben.
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Eine Betreuung: Kann sich ein Patient nicht äußern, liegen keine gültige PV, keine VV vor und müssen medizinische Entscheidungen getroffen werden, werden Ärzte i. d.R. eine gesetzliche Betreuung anregen. Ein Angehöriger oder ein Berufsbetreuer werden vom Gericht eingesetzt. Ein Patient kann auch vorab im Rahmen einer Betreuungsverfügung jemanden bestimmen, der als Betreuer eingesetzt werden soll. Hier besteht dann in gewisser Weise eine Kontrollfunktion durch das Gericht. Nachteil: das Verfahren kann bis zu mehreren Wochen dauern. Berufsbetreuer sollten 24h erreichbar sein, sind es aber oft nicht. Zudem folgen sie meist der ärztlichen Einschätzung. Somit ist der individuelle Patientenwille m. E. nicht so gut abgedeckt wie durch eine PV oder VV.
Unabhängig davon, für welches Instrument man sich entscheidet. Es ist m. E. essentiell, sich zu gesunden Lebzeiten damit auseinanderzusetzen, welche Wünsche man für sich hätte, wenn man in eine der o. g. Situationen kommt.
Als Arzt habe ich keine Aktien an konkreten Maßnahmen. Für mich ist es nur wichtig zu wissen, ob dass, was ich aus meiner medizinischen Expertise entscheide, auch dem Patientenwillen entspricht. Ich bin der Ansicht, dass viele Patienten bei entsprechender Aufklärung vieles, was wir im Alltag tun, ablehnen würden! Und wichtiger als Gedanken über konkrete Maßnahme ist die Frage, welches Leben für einen Menschen lebenswert ist? D. h. ob das Therapieziel, dass ich realistischer Weise erreichen kann, auch vom mutmaßlichen Patientenwillen abgedeckt ist. Z. B. Kann sich jemand vorstellen, dauerhaft auf Beatmung oder künstliche Ernährung angewiesen zu sein? Kommt jemand damit zu recht, alles neu Lernen müssen bzw. manches nie mehr zu lernen? Würde sich jemand wünschen, dass man ihm eine künstliches Herz einsetzt? Es geht oftmals gar nicht nur um die Entscheidung für oder eine Therapie zu Beginn einer Akutsituation. Viel häufiger geht es um Entscheidungen, die sich im Verlauf einer längeren Therapie mit zunehmenden Risiken und abnehmenden Erfolgsaussichten bzw. größeren zu erwartenden dauerhaften Einschränkungen ergeben. Natürlich ist es unsere Aufgabe als Ärzte, im Bedarfsfall all diese Frage mit den Angehörigen zu klären. Oft geschieht dies aber unter Zeitdruck und schwerer Belastung im Rahmen der Akutsituation. In Familien, in denen diese Dinge im Vorfeld geklärt sind, können diese Prozesse viel besser durchlaufen werden.
Ich lehne eine Patientenverfügung nicht ab, möchte nur darstellen, dass Sie Limitationen hat. Eine VV ist nach meiner Einschätzung das tragfähigere Instrument. Es bedarf natürlich eines Vertrauensverhältnis und einer entsprechenden Kommunikation, nicht zuletzt einer guten Beratung im Vorfeld. Hier sind auch die Ärzte gefragt! Und ich glaube zutiefst, dass bei entsprechender Aufklärung eine VV am Ende alle Beteiligten (Patienten, Angehörige und Ärzte) entlasten kann. Für Angehörige ist es schlimmer, nicht zu wissen, was jemand, mit dem man eng verbunden war, gewollt hätte, als sich dessen Willen ganz sicher zu sein. Um die Akzeptanz einer VV zu erhöhen, ist es aber essentiell die Angehörigen in dem Sinne zu entlasten, dass Sie NIE diejenigen sein werden, die die Entscheidung für oder gegen eine Maßnahme treffen werden. Es ist ihre ausschließliche Aufgabe, den Patientenwillen zu transportieren. Auf dieser Grundlage können sie einer Maßnahme widersprechen. (Sie können aber z. B. nicht eine medizinische nicht indizierte Maßnahme einfordern!) Die Entscheidung, Maßnahmen einzuleiten oder zu beenden obliegt am Ende immer dem Arzt. Dieser muss Patientenwillen und medizinische Indikation zusammenführen.
Auch wenn dieser Kommentar einiges wiederholt, so hoffe ich doch etwas Sensibilität für dieses Thema zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen ist in der Intensivmedizin ärztlicher Alltag. Sie ist für Ärzte genauso belastend wie für die Patienten und die Angehörigen. In diesen Zeiten der Coronapandemie umso mehr.
Mfg,
IS