Zunächst einmal: Ich bin für jeden Menschen dankbar, der seine Religion als Inspiration für mehr Mitgefühl und Mitmenschlichkeit nimmt, statt als Anlass zu trennen oder zu verdammen. Ich fände es noch besser, er/sie würde dies einfach aus einem Gefühl der Mitmenschlichkeit tun, ohne dafür eine Religion zu benötigen. Aber wie gesagt, ich bin froh über jeden Menschen guten Willens, egal aus welcher Motivation.
Du sprichst 2 unterschiedliche Aspekte an: Die Rolle des Christentums und die Rolle des Islam. Deswegen auch eine zweiteilige Antwort.
Zum Islam: Ja, ich stimme dir zu, dass der Islam unter den Religionen (zumindest in der jetzigen Zeit) eine Sonderrolle einnimmt. Aus der Menge der problematischen Ideologien sticht der Islam durch eine Reihe besonders schlechter Ideen heraus. Wo das Christentum noch das Gebot „dem Kaiser was des Kaiser ist“ hat (und sich somit zumindest implizit als vereinbar mit einer weltlichen Staatsmacht sieht), setzt der Islam die Sharia mit einem ganzheitlichen Regelungsanspruch. Und die Idee, dass man durch Selbstmordattentate gegen Andersgläubige einen Fast Pass für das Paradies hat, ist, sagen wir mal… problematisch.
Zum Christentum: Dass das Christentum „inhärent“ friedliebend und vergebend sei, das widerlegt schon die historische Perspektive. Es war wenig Friedliebendes an der Hexenverfolgung, den Kreuzzügen oder am Judenhass eines Martin Luther.
Es ist interessant, dass du das Wort „ultraorthodox“ benutzt, dass ja nichts anderes heißt als „extrem der rechten (richtigen) Lehre folgend“. Ich würde nämlich auch sagen, dass das der Unterschied zwischen den „guten“ Christen und den (aus meiner Sicht) „Problem-Christen“ die Nähe zur Schrift ist.
Die Leute, die in Polen die Abschaffung des Abtreibungsrechts vorantreiben sind nicht weniger katholisch, sondern mehr (im Sinne von „Näher an der Linie, die von Rom vorgegeben wird“). Und die Evangelikalen, die in den USA Trump möglich gemacht haben, sind nicht weniger bibeltreu, sondern mehr.
Glücklicherweise haben die meisten Christen heute eine gesunde Distanz zwischen sich und ihre heiligen Schriften gebracht. So würden die wenigsten Christen heute Sklaverei gutheißen, obwohl sowohl das alte Testament sogar Regeln für das gottgefällige Sklaventum aufstellt und Jesus im neuen Testament noch explizit die Sklaven dazu auffordert, bei ihren Herren zu bleiben. Beides Dinge, mit denen noch vor weniger als 200 Jahren die Sklaverei als Gottgewollt verstanden wurden. Und auch Homosexualität, welche in der Bibel noch als ein Gräuel bezeichnet und mit der Todesstrafe belegt war, ist heute für viele Christen völlig akzeptabel. Viele Fortschritte bei den Menschenrechten wurden gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erstritten. So hatte der Vatikan zumindest bis 2015 nicht die Charta der Menschenrechte unterzeichnet, ich glaube, bis heute nicht.
Ich würde für diese Entwicklung weniger der Reformation die Verantwortung geben, sondern der Aufklärung, die in vielen Teilen der Welt die Religion gezähmt und die Schranken der Menschlichkeit verwiesen hat.
Und ja, da hat der Islam sicherlich noch einiges aufzuholen. Aber in der Summe kann ich auch dem aktuellen Wirken des Christentums, gerade da, wo es noch nennenswerten Einfluss hat, wenig abgewinnen. Die entsprechenden Beispiele (Trump, Abtreibungsrecht, selbstbestimmtes Sterben) habe ich genannt.