LdN 213 - Religion

In der Folge 213 wurde, ich glaube von Philipp, aber auch unter Zustimmung von Ulf, der häufig gehörte Satz geäußert, dass „Religion nicht das Problem sein“. Vielleicht ist Religion nicht DAS Problem, aber es ist sicher ein Problem.

Gucken wir uns mal die Themen der LdN 213 und weitere aktuelle Themen an:

Die Wahl von Trump 2016 und die (zum Glück knapp verpasste) Wiederwahl 2020: Ohne die Evangelikalen in den US undenkbar.

Das Töten von Menschen für das Zeigen von Karikaturen und auch die enorme Empörung von nicht-gewaltbereiten Muslimen über das Zeigen von Karikaturen: Ohne den Islam und islamische Bilderverbot nicht denkbar.

Die faktische Abschaffung des Abtreibungsrechts in Polen: Ohne den Einfluss der Katholische Kirche in Polen undenkbar.

Die Situation zum Thema Sterbehilfe in Deutschland, die zum Glück durch unser Verfassungsgericht kassiert wurde: Ohne den Einfluss der Kirchen in Deutschland auf die Politik kaum denkbar.

Ja, es gibt auch andere Ideologien, die Menschen dazu verleiten, schlimme oder dumme Dinge zu tun, aber Religion ist oft mit dabei.

“With or without religion, good people can behave well and bad people can do evil; but for good people to do evil - that takes religion.” - Steven Weinberg

Stimmt leider nur zu oft…

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Als Christ muss ich hier widersprechen. Das Christentum ist inhärent friedliebend und vergebend. Ich hatte diese Diskussion schon oft mit Freunden und Verwandten. JA, es gibt speziell in den USA ultra-orthodoxe Auswüchse des Christentums, die sich daneben benehmen bzw. gewalttätig seien können. Das ist jedoch eine verschwindend kleine Anzahl. Also <0.1% aller Christen. Im Islam haben wir 75-90% SUNNI Muslime, die ALLE mehr oder weniger an die Sharia glauben. Die Sharia ist ein Konstrukt das ganzheitlich das öffentliche Leben, die Gesetze und das Privat-Leben regulieren möchte. Es steht im direkten Konflikt zum GG.

Meine These ist, dass der Islam aus der Menge der Religionen besonders negativ hervor sticht, besonders einfach gewalttätig ausgelegt werden kann, und besonders schädlich für die Demokratie ist.

Das sollte man, finde ich, klar aussprechen und Reformation bzw. Stellungnahme aller in Europa lebenden Muslime einfordern.

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Ich denke Religion ist nicht (der Ursprung) des Problems, aber die Stärke einer ähnlich gerichteten Gruppe kann sehr stark als Brandbeschleuniger dienen.

Evil is mostly a point of view.
“Give a man a fire and he’s warm for a day, but set fire to him and he’s warm for the rest of his life.” - Terry Pratchett

Hallo @I_disagree,
deine Aussagen

und

empfinde ich zusammen mit deiner Einschätzung zur Sharia als zu absolut. Tatsächlich sind 87-90% Sunniten. Aber glauben an die Sharia bedeutet ja nicht, dass sie diese wörtlich nehmen oder diese versuchen zu 100% zu verfolgen.
Natürlich hat die Sharia einen Einfluss auf die Kultur und Lebensweise von Muslima, aber genau so hat die Bibel einen extremen Einfluss auf die westliche Kultur und Lebensweise.

Ich würde sagen: Einige Menschen sehen dies Sharia als ein solches Konstrukt. Einige nicht ALLE. Genau wie im Christentum gibt es auch hier unterschiedliche Auslegungsrichtungen und Ströme innerhalb der Religion. Im Christentum existieren auch extreme Meinungen, wie @stobies in seinem Post bereits nahegelegt hat und eine

einzufordern empfinde ich als zum friedliebenden Christ erzogenen Menschen eindeutig zu übergriffig und aggressiv.

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Deine These mag zutreffend sein. Deine Forderung ist aber schon deswegen sinnfrei, weil du dessen Erfüllung selbst blockierst.

Du forderst eine Stellungnahme ALLER in Europa lebenden Muslime.

Ignorierst aber schon bei Erstellung deiner Forderung all diejenigen die nicht nach der Sharia leben und sich trotzdem für Muslime halten.

Eben deshalb würdest du mit ziemlicher Sicherheit niemandem glauben der deine Forderung erfüllen möchte.

Zunächst einmal: Ich bin für jeden Menschen dankbar, der seine Religion als Inspiration für mehr Mitgefühl und Mitmenschlichkeit nimmt, statt als Anlass zu trennen oder zu verdammen. Ich fände es noch besser, er/sie würde dies einfach aus einem Gefühl der Mitmenschlichkeit tun, ohne dafür eine Religion zu benötigen. Aber wie gesagt, ich bin froh über jeden Menschen guten Willens, egal aus welcher Motivation.

Du sprichst 2 unterschiedliche Aspekte an: Die Rolle des Christentums und die Rolle des Islam. Deswegen auch eine zweiteilige Antwort.

Zum Islam: Ja, ich stimme dir zu, dass der Islam unter den Religionen (zumindest in der jetzigen Zeit) eine Sonderrolle einnimmt. Aus der Menge der problematischen Ideologien sticht der Islam durch eine Reihe besonders schlechter Ideen heraus. Wo das Christentum noch das Gebot „dem Kaiser was des Kaiser ist“ hat (und sich somit zumindest implizit als vereinbar mit einer weltlichen Staatsmacht sieht), setzt der Islam die Sharia mit einem ganzheitlichen Regelungsanspruch. Und die Idee, dass man durch Selbstmordattentate gegen Andersgläubige einen Fast Pass für das Paradies hat, ist, sagen wir mal… problematisch.

Zum Christentum: Dass das Christentum „inhärent“ friedliebend und vergebend sei, das widerlegt schon die historische Perspektive. Es war wenig Friedliebendes an der Hexenverfolgung, den Kreuzzügen oder am Judenhass eines Martin Luther.

Es ist interessant, dass du das Wort „ultraorthodox“ benutzt, dass ja nichts anderes heißt als „extrem der rechten (richtigen) Lehre folgend“. Ich würde nämlich auch sagen, dass das der Unterschied zwischen den „guten“ Christen und den (aus meiner Sicht) „Problem-Christen“ die Nähe zur Schrift ist.

Die Leute, die in Polen die Abschaffung des Abtreibungsrechts vorantreiben sind nicht weniger katholisch, sondern mehr (im Sinne von „Näher an der Linie, die von Rom vorgegeben wird“). Und die Evangelikalen, die in den USA Trump möglich gemacht haben, sind nicht weniger bibeltreu, sondern mehr.

Glücklicherweise haben die meisten Christen heute eine gesunde Distanz zwischen sich und ihre heiligen Schriften gebracht. So würden die wenigsten Christen heute Sklaverei gutheißen, obwohl sowohl das alte Testament sogar Regeln für das gottgefällige Sklaventum aufstellt und Jesus im neuen Testament noch explizit die Sklaven dazu auffordert, bei ihren Herren zu bleiben. Beides Dinge, mit denen noch vor weniger als 200 Jahren die Sklaverei als Gottgewollt verstanden wurden. Und auch Homosexualität, welche in der Bibel noch als ein Gräuel bezeichnet und mit der Todesstrafe belegt war, ist heute für viele Christen völlig akzeptabel. Viele Fortschritte bei den Menschenrechten wurden gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erstritten. So hatte der Vatikan zumindest bis 2015 nicht die Charta der Menschenrechte unterzeichnet, ich glaube, bis heute nicht.

Ich würde für diese Entwicklung weniger der Reformation die Verantwortung geben, sondern der Aufklärung, die in vielen Teilen der Welt die Religion gezähmt und die Schranken der Menschlichkeit verwiesen hat.

Und ja, da hat der Islam sicherlich noch einiges aufzuholen. Aber in der Summe kann ich auch dem aktuellen Wirken des Christentums, gerade da, wo es noch nennenswerten Einfluss hat, wenig abgewinnen. Die entsprechenden Beispiele (Trump, Abtreibungsrecht, selbstbestimmtes Sterben) habe ich genannt.

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Mit der Aufklärung in das Massensterben zweier Weltkriege und in den Faschismus. Ich bezweifle doch stark dass man einfach von Religion sprechen sollte und dem Säkularisierung gegenüber stellen sollte. Der westliche Bezug auf Religion ist meisten stark fokussiert auf Islam und Christentum. Deren konkretes Historisches Verhalten findet sich nicht unmittelbar in anderen Religionen wieder.

Und selbst bei diesen beiden Religionen ist das Bild mehr als ambivalent. Betrachtet man die katholisch geprägte Theologie der Befreiuung oder die Rolle in der Wissensproduktion vor der Aufklärung, übrigens gibt es im Islam verschiedene Auslegungsformen auch jenseits der religiösen Prägung so war es unter Islamischen Rechtsgelehrten sehr verbreitet, die Scharia als Privatsache zu betrachten und nicht als staatliche. Der gesuchte Begriff hier ist Ideologie nicht Religion.

So, um das hier noch zu einem Abschluss zu bringen…

Ich hatte ja eingangs geschrieben, dass Religion nur ein, und nicht „das“ Problem sei. Es gibt natürlich weitere Ideologien, die problematisch sind.

Wir würde dennoch weiter auf dem Standpunkt bleiben, dass Religionen eben auch oft solche problematischen Ideologien sind. Problematisch zumindest aus 2 Gründen:

  1. Im Grunde sind Religionen dogmatisch aufgebaut und entziehen sich damit zu einem gewissen Grad einem Realitätscheck. Und auf diese dogmatischen Positionen lassen sich gerade die Fundamentalisten gerne zurückfallen, wenn sie sonst in Erklärungsnot wären.

Und 2. geben auch gemäßigte Formen der Religion gerade diesem Dogmatismus Deckung, da sie oft nicht bereit sind, das empirische Grundproblem einzuräumen, und damit den Fundamentalisten Argumentationsbrücken bauen.

Statt einzuräumen, dass es keinen Sinn macht, mit irgendeiner heiligen Schrift die Welt erklären zu wollen, geht es nämlich dann um die richtige oder falsche Auslegung. Und das ist dann leider Ansichtssache. Bessere wäre es, den gesamten dogmatische Ansatz abzulehnen, und anzuerkennen, dass unser Wissen um die Welt immer nur unvollständig, vorläufig, und revidierbar ist.

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Ich bestehe so auf dem Begriff Ideologie, weil auch die Religion in diesem Sinne zur Ideologie werden kann. Aber slebst Verfassungspatriotismus kann dazu werden wie man in den USA unter McCarthy sehen konnte.

Aber das Religion grundsätzlich dogmatisch ist theoretisch nicht so einfach herleitbar. Denn das eine stark institutionalisierte Religion wie der Katholizismus eine inhärenten Tendenz zum Dogmatismus hat kann ich verstehen. Vielleicht auch, wenn auch in stark abgeschwächter Form Religionen die sich auf eine einzelne Schrift berufen, obwohl selbst dar die Kanonik eine Institution bedarf, welche diese festlegt.
Bspw. die Anthroposophie ist absolut Dogmatisch mit ihrem Steiner Bezug aber dezentrale Religionen wie Buddhismus oder Hinduismus oder der Ahnenglaube in Vietnam sind nicht per se dogmatisch.

Die inhärente Problematik der Religion im allgemeinen lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn man das Bild die Religion der Rationalität gegenüberstellt, damit versucht diese dem Wissen gegenüber zustellen. Das ist allerdings ein Bild aus der Aufklärung und nicht unbedingt vollständig aufrecht erhaltbar. Die Religion ist nicht dogmatischer als andere Ideologien ob es der Neoliberalismus und sein Menschenbild ist oder die heteronormativität die regelmäßig in eine reaktionäre Männlichkeit umschlägt.
gerade im Bezug auf die Wirtschaft gibt es eben keine Vorstellung der Revidierbarkeit oder Vorläufigkeit.

Mit der Auslegung macht du es dir zu einfach. Die Theologie vieler Religion ust ziemlich komplex mit klaren prozedualen Standards und einer anspruchsvollen Theorie. Darin hat die Theologie einiges mit der Juristerei gemeinsam nicht zuletzt das Verfassungsgericht betreibt ja nichts anderes als Auslegung der Verfassung. Die nähe ist auch nicht sonderlich verwunderlich da sich die Rechtstradition aus der kirchenrechtstradition entwickelt hat.

Es gibt übrigens auch in den USA eine Vorstellung dass man die Verfassung exakt nach dem damligen Willen der Gründungsväter auslegen sollte, soweit ist das von der theoretischen Grundlage her nicht entfernt von der Vorstellung das Gott der souverän ist dessen Wille man auslegt.

Ebenso sind die angelsächsichen Vertreter des Atheismus genauso Dogmatisch in ihrem affirmativen Szientismus wie einige Religionsvertreter.
Ideologie hat aufjedenfall eine inhärente Tendenz zur Dogmatik doch welche Ideologien konkret Dogmatischer sind als andere, ist an der jeweiligen Ideologie zu entschieden und dafür ist der Begriff Religion zu allgemein da die Religionen untereinander als auch innerhalb viel zu unterschiedlich sind.
Was die Monotheistischen Abrahamitischen Religionen angeht (du scheinst dich ja vor allem auf diese zu beziehen) wäre ich mir beim Judentum beispielsweise nicht so sicher dass diese Religion ein besonderes inhärentes Problem mit Dogmatismus hat. Dafür ist der Staat Israel zu säkular und die Diskussionskultur zwischen Rabbinern zu wichtig. ich finde es zum Beispiel wahnsinnig Spannend, dass eine anerkannte Interpretation ist, dass der erste Mensch nicht ein Mann ist sondern ein geschlechtsloser Mensch ein Androgynos ist und diese Interpretation folgt einer sehr anspruchsvollen und stringenten Logik. Hier wen es interessiert kann mal reinhören.

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So eine umfangreiche Antwort verdient natürlich noch eine Replik.

Zunächst mal sind wir uns einig, dass Ideologien sicherlich nicht ausschließlich religiös sind und es auch viele andere schädlichen Ideologien gibt, und einige dieser Ideologien (u.a. die Antroposophie) auch sehr dogmatisch daherkommen. Da sind wir in „violent agreement“.

Das viele Theologien durchaus umfangreich und komplex sind, auch da stimme ich mir dir überein. Wo wir wahrscheinlich abweichen ist, dies als Qualitätsmerkmal zu sehen. Denn ohne einen gesicherten Realitätsbezug hat auch eine noch so komplexe Theologie nur geringen Wert für unsere Gesellschaft. In der Logik lernt man früh, dass man aus einem Widerspruch beliebige Schlussfolgerungen ziehen kann.

Natürlich schult auch der Umgang mit Fragen wie „Wie viele Engel können auf einer Nadelspitze tanzen?“ im Rahmen der Dogmatik das Denken und die rhetorischen Fähigkeiten (siehe auch den angesprochenen Bezug zur Juristerei). Aber darüber hinaus läßt sich hier wenig Nützliches gewinnen. Gleiches, würde ich sagen, gilt für das Nachdenken über die Natur der Dreifaltigkeit, Transsubstantiation, Eschatologie, oder womit sonst Theologen aller Religionen ihre Zeit verbringen.

So kann ich auch persönlich der Dikussion um den Androgynos wenig Spannendes abgewinnen. Aber wo du das Judentum ansprichst: Auch da tun sich die Probleme auf, je orthodoxer die Gläubigen unterwegs sind, gerade auch in Israel zu beobachten beim Umgang mit Corona.

Schließlich zum Scientismus: Ich finde da bei den neuen Atheisten wenig Dogmen. Stattdessen die Idee eines wissenschaftlichen Skeptizimus, der nachvollziehbare, interpersonelle Belege für Behauptungen fordert.

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Differenzierte Debatte hier. Als jemand, dem Religion am Herzen liegt, sehr schön!
Das Erhellendste, was ich aktuell zum Thema Religion gelesen habe: https://www.republik.ch/2020/11/17/es-gibt-zu-wenig-raum-fuer-religiositaet-das-foerdert-die-gewalt?