LdN 204 Softwareentwicklung durch die öffentliche Hand

Hallo,
zum Thema „warum scheitert die öffentliche Hand bei Softwareprojekten?“ möchte ich einfach mal ein paar Thesen in den Raum werfen, die sich aus eigenen Beobachtungen und Tätigkeiten speisen.

  • zu wenige kompetente Techniker/Softwareingenieure im eigenen Haus

  • zu wenige kompetente Projektmanager im eigenen Haus

  • Tieferliegende Ursachen: indiskutable Bezahlung im Vergleich zur sog. Wirtschaft, unattraktive Arbeitsumfelder AKA staublangweilige Verwaltungen, verknöcherte Prozesse, veraltetes Teamwissen

  • Fachseite entweder überlastet mit zuvielen verschiedenen Vorhaben (die wenigen, die mit den ITlern sprechen können), oder desinteressiert

  • Vorstellung „IT = Server und Netzwerke“, dass es zwischen Leuten, die die Systeme betreuen, und denen, die neue Anwendungen an den Start bringen, deutliche Unterschiede in Zuständigkeit, Prioritäten und technischen Wissensfeld gibt, wird nicht gesehen.

  • Festkleben an der Papierwelt

  • kein Druck „Den Deckel drauf zu kriegen.“, alle Zeit der Welt, keine Konsequenzen wenn es mal länger dauert

  • Politik overrules fachliche Notwendigkeit

  • wenn Entwicklungsprozesse vorhanden sind, dann komplette Unagilität. Man lebt noch in den 80ern und 90ern des vorigen Jahrhunderts.

  • Dokumentationswahn

  • Vollständigkeitswahn, wenn konzipiert wird, dann muss alles bis in die letzte Schraibe vorgedacht und festgelegt sein

  • oder am anderen Ende Praktikantentum „lass das mal den Lehrling programmieren“, wo dann entsprechende Anfängerlösungen rauskommen

  • Abhängigkeit von Beratungshäusern, die nach Aufwand vergütet werden und ein großes Interesse haben, die Zeitschiene auszudehnen

Da gibt es natürlich viele Abhängigkeiten zwischen diesen Spiegelstrichen.

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Danke für diese ausführliche Übersicht - genau so habe ich das auch erlebt.

Zugleich ist es aber einfach nur faszinierend zu sehen, wie Admins auch bei Behörden aufblühen, wenn man sie einfach mal machen lässt …

Vieles, nein leider alles, deckt sich auch mit meinen Erfahrungen. Und das betrifft leider nicht nur das „große Ganze“, auch im allgemeinen Alltag in der Wald und Wiesen Behörde werden solche Vorhaben nach Kräften torpediert.

Ich bin selber als Beamter im ÖD (aktuell A14) und mein unmittelbar Vorgesetzter (B3) weiß, dass ich mit verhältnismäßig wenig Programmieraufwand Prozesse in unserem Institut semi-automatisieren kann, so dass für diese „handwerklichen“ Dinge weniger Zeit benötigt wird, die dann in andere Aufgaben investiert werden kann. Als ich dann versucht habe mir dafür zwei „große“ Monitore (27, WQHD Auflösung) beschaffen zu lassen bin ich erstmal auf taube Ohren gestoßen. Steht mir nicht zu, hat sonst auch niemand, sind zu teuer, [beliebige Scheinargumente einfügen] und generell reicht der 24" Monitor ja auch voll aus, und der ist schließlich arbeits-ergonomisch total toll, weil man ihn höhenverstellen, pivotieren, kippen, bla bla bla kann.

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Nicht Software-Entwicklung, aber verwandtes Thema: Modernisierung der Bundes-IT: Verheerende Zwischenbilanz - DER SPIEGEL

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Ein Ansatz wäre, Ulfs und meinen Vorschlag zu kombinieren: fähige Leute zu marktgerechter Vergütung einstellen, und sie dann einfach machen lassen.

Science-Fiction? Abstrus? Leider ja.

Es ist ja bei weitem nicht so, dass aus der freien Wirtschaft größtenteils tolle, fehlerfreie und datenkonforme Softwareprodukte geliefert würden. Der Trend geht zum Ausliefern des halbfertigen Produkts und danach jahrenlangem Nachpatchen. Ob das jetzt nur am Management liegt oder eben auch zum Teil an den hochgelobten, aber teuren Softwareentwicklern, mag jeder selbst beurteilen.

Der Staat kann vermutlich niemals dasselbe Gehalt wie in der freien Wirtschaft zahlen, denn es gibt dort an der erstellten Software keine Marge zu verdienen. Deswegen muss man vermeintlich gute Leute eben anders locken. Mit besserer Work-Life-Balance z.B. Mit Arbeitsplatz-Sicherheit.

Auf lange Sicht könnte man auch seitens des Bundes wieder stärker auf eigene Ausbildung setzen. Nur, der Wille dazu müsste da sein, und da eben seit Jahrzehnten nur noch privatisiert wurde und auch keine Umkehr zu erkennen ist, fehlt es eben an jeder Ecke.

Genau das möchte ich auch nochmal bekräftigen. Ja, im öD liegt einiges in diesem Bereich im Argen, da brauchen wir nichts schön reden. Ich mach IT bei einer Behörde und das ist teilweise wirklich wahnsinnig mühsam, zumal ich hier auch nur der Mittelsmann zum Eigenbetrieb bin und damit weniger Kunde, als Bittsteller. Schlimm ist, dass man hier wirklich Lichtjahre zurück liegt, allein Lotus Notes kostet mich Jahre meines Lebens. Dazu kommt miserable Ausstattung, Rückständigkeit, fehlende Zugriffsmöglichkeiten von Außen etc.
Aber, und das Aber ist groß, ich darf mich regelmäßig mit Spezialsoftware herumschlagen, die ganz sicher nicht günstig ist und für Anwendungen im Bereich der Höchstverfügbarkeit gemacht ist. Was einem hier teilweise vorgesetzt wird, ist wirklich unterirdisch, und zwar der ganze Prozess von Aufnahme eines Featurerequests bis zur Umsetzung, Dokumentation und Support.

Zum Thema Bezahlung: Hier verkauft sich der öD schlicht viel zu schlecht. Was mein Vorschreiber in A14 verdient, kann man in Tabellen nachsehen, bei mir in A11 ebenso. Was die Leute aber meistens nicht sehen, ist das Brutto/Netto-Verhältnis, Altersversorgung etc. Ich gehe übrigens mit 60 in Pension, das dürfte für die wenigsten Arbeitnehmer erreichbar sein. Wenn man die Jobs jetzt noch attraktiv, zum Beispiel durch gescheite Arbeitsumfelder, Arbeitsmittel etc. kriegen würde, wäre das eine gute Werbung.
Nebenbei, ich hatte dieses Jahr keinerlei existentielle Ängste durch ein kleines Virus, zumindest nicht in finanzieller Hinsicht :wink:

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Einfach nur auf Eigenentwicklung im öffentlichen Dienst zu setzen ist der falsche Ansatz, befürchte ich. Das Deutsche Patentamt hat z. B. ein eigenes Entwickler-Team, welches sehr bemüht ist, oft aber doch „am Kunden vorbei“ programmiert. (Außerdem ist der Client in Java geschrieben, was geschwindigkeitstechnisch die ziemliche Katastrophe ist.)

Ich würde auch sagen: unbedingt Know How aufbauen/erweitern/erneuern. Aber nicht zwangsläufig auf Eigenentwicklungen setzen, bitte! „Make or buy“-Fragestellungen gelten auch für den öffentlichen Dienst.

Ganz ehrlich? Das würde ich als Bestrafung empfinden. Haben Sie die Freiheit, länger zu arbeiten, wenn Ihnen danach ist?

Habe es auch nicht als negativ formuliert, sondern zu den Vorteilen im öD gezählt. Grundsätzlich kann ich auch noch verlängern, was je nach Pensionsansprüchen sogar Sinn machen könnte. Dann darf ich meines Wissens nach einen Teil der Tätigkeiten nicht mehr ausführen, aber prinzipiell geht es schon. Schaun mer mal… :wink:

Ich arbeite in als Softwareentwickler in der „freien“ Wirtschaft. Dabei entwickle ich hauptsächlich im Auftrag von so etwas wie einer Behörde.

Den eingangs genannten Punkten kann ich im Wesentlichen zustimmen.

Das Gehalt von beispielsweise A14 wäre gar nicht so das Problem. Das ist auch nicht unbedingt weniger als man bei einem Softwaredienstleister verdient.

Wichtiger wäre für mich die passende Arbeitsatmosphäre. Um so einen Job zu machen, bräuchte ich:

  • die Befugnis alle technischen Entscheidungen selbst bzw im Entwicklerteam treffen zu dürfen. Dazu gehört die frei Wahl der Technologien und die Erlaubnis alles, was an Legacysystemen da ist nach und nach wegschmeißen zu dürfen

  • ein kleines Team aus fähigen anderen Entwicklern. Vermutlich würde für den Anfang eine andere Person reichen

  • freie Wahl der Hardware. Ein vernünftiger PC darf nicht das Problem sein auch wenn er über 2000€ kostet

Hochwertige Software habe ich bisher nur im Opensourcebereich gesehen. Der Rest verrottet einfach über die Zeit. Systeme zu bauen, die auf Dauer nutzbar und wartbar sind ist wirklich nicht einfach, Um gegen die Entropie anzukommen, muss es meiner Meinung nach zumindest eine fähige Person geben, die sich der Codebasis über längere Zeit verpflichtet und nicht alle 3 Monate bei einem anderen Kunden in einem neuen Projekt ist.

Eine Sache ist vielleicht noch wichtig und das ist im Umfeld einer Behörde ggf. nicht leicht zu verstehen. Obwohl es hart und komplex sein kann, lieben alle guten Softwareentwickler, die ich kenne Ihren Job. Dort hat niemand Probleme auf 40h die Woche zu kommen. Es macht wirklich Spaß zur Arbeit zu gehen. Eher in Rente zu gehen oder mehr Sicherheit sind dabei nicht unbedingt, die Dinge die mich reizen würden.

PS:

Auch wenn ich heutzutage kein Projekt mehr in Java anfangen würde, ist die Nutzung von Java mit Sicherheit nicht der Grund dafür, dass ein Client zu langsam ist.

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Das ist ein Punkt, der auch „mit mir klingelt“ (rings with me :wink:

Ich arbeite gerne, und auch bei meinen Kollegen sehe ich ein sehr hohes Maß an Eigenantrieb. Die Leute arbeiten einfach von alleine. Alles was sie benötigen ist ein taugliches, nicht-behinderndes Arbeitsumfeld (Hardware, Software, warmer trockener Arbeitsplatz, nette Kollegen, gesicherte Versorgung mit Fressi und Kaffee, keine lästigen administrativen Prozesse) und ab und zu eine ehrlich gemeinte Anerkennung der geleisteten Arbeit. Dann rollt das ganz von alleine.

Leider entspricht das Menschenbild in vielen Behörden (und nicht nur dort) der „Natura corrupta“ des Kalvinismus: „Der Mensch ist schlecht und faul. Er muss eingehegt und kontrolliert werden.“ In so einem kontrollwütigen, demotivierenden Umfeld wollen viele nicht arbeiten. Auch das Warten auf die Rente ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich lebe jetzt, nicht in 15 Jahren. Mir ist es egal, wann ich verrentet werde, solange ich dann die Freiheit habe, so lange und und in dem Umfang weiterzuarbeiten, wie ich will.

Also, alles was man in den Behörden braucht, sind klevere Volljuristen, die in ihrer Freizeit bereits intensive Programmiererfahrungen gesammelt haben und die gerne IT-Projektleiter sind (weswegen sie wahrscheinlich Jura studiert haben und dann in den öffentlichen Dienst gegangen sind). Dann kann man alle Softwareprojekte einfach in-house durchführen.

Ja klar brauchen wir besseres IT und Softwareentwicklungs-Know-How in den Behörden, aber ob alles oder auch nur vieles in-house durchgeführt werden muss oder sollte, glaube ich nicht.

Meiner Meinung nach sollte man die Behörden lieber so aufstellen, dass sie IT-Projekte erfolgreich managen und modern managen können. Das geht damit los, dass Anforderungen besser beschrieben werden und Entscheidungen zeitnah getroffen werden. Und das man sich öfters mal traut anzufangen, bevor die letzte Anforderung ausspezifiziert wurde.

(Disclaimer: Ich arbeite bei einer IT-Beratung, die viel für die öffentliche Hand tut.)

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[quote=„ThomasAnderson, post:13, topic:1819“]
die Behörden lieber so aufstellen, dass sie IT-Projekte erfolgreich managen und modern managen können.[/quote]
→ zu wenige kompetente Techniker/Softwareingenieure im eigenen Haus, um Dinge spezifizieren zu können, was die sinnvoll und umsetzbar sind
→ zu wenige kompetente Techniker/Softwareingenieure im eigenen Haus, um die Lieferleistungen (Software, Services, Consulting) bewerten zu können
→ zu wenige kompetente Projektmanager im eigenen Haus, um die Projekte steuern zu können

Bzgl. der freien Wahl der Hardware. Das ist etwas, was ich auch prozesstechnischer Sicher verstehen kann, wenn ein bestimmter Warenkorb im Hause vorhanden ist, der bestellt werden kann, da dieser auch auf Lager ist. Dazu sollte aber in jedem Fall auch potente Hardware gehören.
Dass der teuerste verfügbare und gleichzeitig sinnvolle Arbeitsplatz immer noch weniger als ein Monatsgehalt mit Arbeitgeberanteil ist, wird in der Regel nicht gesehen, auch in der freien Wirtschaft nicht. Der zugehörige Produktivitätsgewinn auch nicht.

Es ist einfach nur Wahnsinn und das Argument „mehr sollte nicht nötig sein“ kommt meines Erachtens in der Regel von Führungskräften, die nicht einmal ansatzweise die gleichen inhaltlichen Tätigkeiten haben oder jemals hatten wie ihre Mitarbeiter.