Kriegsalltag in Kyiv (Interview mit Paul Gäbler)

Liebes Lage der Nation Team,

vielen Dank für den Beitrag zur Lage vor Ort in Kyiv! Ich finde das Interview sehr gelungen, würde aber dieses Format trotzdem gerne nutzen, um noch ein paar Punkte zu dem Thema hinzuzufügen. In Kyiv mag es inzwischen wieder eine Art „normalen“ Alltag geben (es gibt weiterhin nachts eine Ausgangssperre), in vielen anderen Teilen des Landes ist dies aber nicht der Fall und das Leben aller Ukrainer*innen hat sich besonders seit letztem Jahr trotzdem fundamental geändert.
Ich hoffe, dass es in Zukunft auch verstärkt Maßnahmen geben wird, die die massive Traumatisierung der Bevölkerung adressiert, denn der Wiederaufbau und eine demokratische Zukunft können nur nachhaltig stattfinden, wenn die Zivilgesellschaft resilient und stark ist.
Ich bin selbst Ukrainerin und arbeite für die EU in Brüssel und merke immer wieder, wie weit weg der Krieg sich hier trotz allem für viele anfühlt. Daher werde ich nicht müde in Erinnerung zu rufen, dass der Krieg bereits 2014 angefangen hat, dass damals diplomatische Lösungsansätze grandios gescheitert sind, und dass es keine diffuse Angst v.a. osteuropäischer Staaten vor Russland ist, sondern die Appelle zu entschiedenerem Handeln auf historischen Erfahrungen beruhen, die ernst genommen werden sollten.
Das soll keinesfalls Kritik an eurer Folge sein! Ich bin schon seit langem begeisterte LdN Hörerin und fand es bei diesem wichtigen - und für mich sehr emotionalen - Beitrag endlich an der Zeit euch mal zu schreiben!

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Ich wollte mich ebenfalls zum Interview äußern, leider jedoch deutlich kritischer als meine Vorrednerin.

Ich bin selbst Ukrainerin, geboren in Kyjiw und höre die Lage schon seit etlichen Jahren. Hier muss ich mich aber zum Wort nehmen, weil mich diese Reiseberichte von Nicht-Betroffenen Menschen, die darüber erzählen wie in Kyjiw alle nur Party machen und Schokotörtchen in Cafés essen einfach auf den Sack geht.

  1. Int-Partner erzählt, dass er von Zuhause fliehen musste, 6-7 seiner Freunde im Krieg gefallen sind und sein Bruder jeden Tag in Lebensgefahr schwebt. Beim 2. Int-Partner triggert jedes lautes Geräusch Anxiety. Das steht im direkten Kontrast zu dem Fazit der Reise, dass man in Kyjiw kaum was von Krieg mitbekommt, die Menschen glücklich sind und den Luftalarm ignorieren.

Die Realität ist, dass Leute sich auf ihre Social Media einloggen und durch Sterbeanzeigen von eigenen Freunden scrollen. Die einzigen, die in Kyjiw den Krieg vergessen, sind die Touristen.

Zum Thema Luftalarm: Die meisten russischen Raketenangriffe werden mit sehr unpräzisen Raketen geflogen. Diese kann ukrainische Luftabwehr mittlerweile mit hoher Erfolgsquote abfangen. Anders sieht es aus mit mehr komplizierteren Systemen wie Kalibr oder Kinschal - hier ist die ukrainische Luftabwehr immer noch nahezu machtlos. Eine solcher Kalibr-Raketen traff heute Nacht ein Wohnhaus in Mykolajiw, tötete eine Person und verletzte weitere 23. Viele Ukrainer:innen entscheiden mittlerweile anhand der Information über ankommende Raketen, ob sich der Weg in den Keller oder Metro „lohnt“.

Slowjansk ist jetzt natürlich auch nicht besetzt, sondern war es nur kurz im Jahr 2014. Es ist mir auch unklar, warum man ausgerechnet jetzt wieder den Fass nach dem gemeinsamen russisch-ukrainischen Miteinander aufmacht?! Wir sind seit 9 Jahren im Krieg mit Russland und seit etlichen Jahrhunderten im Befreiungskampf vor russischer/sowjetischer Einflussnahme. Die ganze ukrainische Kultur dreht sich buchstäblich um die Freiheit und die Befreiung von der Unterdrückung durch Russland. Ein Teil dieser Unterdrückung war bspw. auch der Verbot der ukrainischen Sprache, weshalb viele Ukrainer:innen entweder kein Ukrainisch können, oder im Alltag Russisch sprechen. Es war nie ein Problem, nur jetzt fangen die Menschen absichtlich an mehr Ukrainisch zu lernen und zu nutzen - das Land und die ganze Kultur ist buchstäblich am Rande einer Auslöschung, wenn man Russland nicht stoppt. Mir ist es unverständlich, warum man in Deutschland in dieser äußerst toxischen Beziehung ständig nostalgisch nach „Brüdervölker“ sucht.

Sorry für diesen äußerst harschen Kommentar. Die Lage war (und ist) für mich all diese Jahre zu einem politischen Safe Space geworden, u.a. durch die stets sehr kompetente Beiträge zur Ukraine. Eben im Vergleich zu den sonst ausgezeichneten Beiträgen, war dieser leider enttäuschend.

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