Hallo zusammen,
Ich möchte einen Punkt ansprechen, der sowohl in der allgemeinen Debatte als auch hier im Forum oft wiederholt wird: Deutschland braucht jedes Jahr eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen, vor allem Fachkräften.
Ich bin kein Deutscher, daher kann ich die innenpolitischen und gesellschaftlichen Folgen davon nicht bewerten. Ich möchte das Thema aber aus einer anderen Perspektive ansprechen. Ich komme selbst aus einem mittelgroßen afrikanischen Land, promoviere seit fünf Jahren in Deutschland und bin bald fertig – dann gehe ich zurück in mein Heimatland. Diese Informationen sind wichtig, um meine Kritik richtig einordnen zu können.
Wenn Deutsche davon sprechen, dass Deutschland Fachkräfte braucht, um das System aufrechtzuerhalten, wird oft verschwiegen oder nur sehr kurz erwähnt, welche Folgen die Migration für die Herkunftsländer dieser Fachkräfte hat. Ja, Deutschland hat eine alternde Bevölkerung und eine Wirtschaft, die Modernisierung braucht. Dafür werden Ärzte, Krankenpfleger, ITler, Maschinenbauer etc. benötigt. Aber diese Menschen werden in ihren Heimatländern genauso, wenn nicht sogar noch dringender gebraucht.
Es ist sogar schlimmer, weil arme Länder nur begrenzte Ressourcen haben, um diese Fachkräfte auszubilden. Wenn sie dann später abgeworben werden, stehen diese Länder vor sehr schwierigen Situationen. Auf individueller Ebene kann ich es keiner Fachkraft übel nehmen, wenn sie ihr armes Land verlässt, um sich woanders auf der Welt ein besseres Leben aufzubauen. Aber ich kann sehr wohl reiche Länder dafür kritisieren und beurteilen, dass sie ärmere Länder ausbeuten, statt ihre dysfunktionalen Systeme zu reformieren und Lösungen im eigenen Land zu finden.
Deutschland hat eine der höchsten Arzt-Raten pro Kopf. No offense, aber wenn ihr ein paar Wochen länger auf einen Termin wartet, ist das nicht das Ende der Welt. Der Arzt, der aus einem ärmeren Land abgeworben wird, wird dort dringender gebraucht. Genauso wie ITler, Maschinenbauer und andere Fachkräfte. Ärmere Länder können sich nicht entwickeln, wenn ihnen ständig ihr Humankapital genommen wird.
Jahrhundertelang haben Europäer afrikanische Länder versklavt, vergewaltigt, unterdrückt und sich dabei ziemlich gut bereichert. Jetzt, nach dem Ende des Kolonialismus, kommen die Europäer noch einmal und benutzen besagten Reichtum, um ärmere Länder erneut auszubeuten. Purer Neokolonialismus.
Bevor ich nach Deutschland kam, waren die Deutschen für mich alle gleich. Einige Zeit später habe ich angefangen, die Unterschiede zu erkennen: Egal ob Rechtsextreme, Konservative, Sozialdemokraten, Grüne etc. – die deutsche Gesellschaft ist sehr vielfältig. Ich habe in meiner Zeit hier viel gelernt und mich persönlich enorm weiterentwickelt, und dafür bin ich Deutschland sehr dankbar. Aber leider verlasse ich das Land nach fünf Jahren mit der Erkenntnis, dass die Deutschen – wenn es um die Welt außerhalb Deutschlands geht – alle gleich sind. Sie (und andere Europäer auch) sehen ärmere Länder als eine einfache Lösung für ihre jahrzehntelang ignorierten Probleme.
In Deutschland wird oft darüber gesprochen, wie die Superreichen weiterhin so leben, ohne sich um die Folgen für das Klima oder die soziale Gerechtigkeit zu kümmern. Für uns im Rest der Welt seid ihr alle die Superreichen, die sich nicht dafür interessieren, welche Folgen ihre Politik für andere Länder und Menschen hat. Ihr baut keine nachhaltigen Systeme auf, und wenn diese scheitern, löst ihr eure Probleme, indem ihr Geld darauf werft.
Um den Bezug zur Lage noch einmal herzustellen: Ich bitte euch, Philip und Ulf, wenn ihr das nächste Mal (und am besten jedes Mal) darüber sprecht, dass Deutschland Migration und Fachkräfte braucht, erwähnt bitte auch, wie schlimm das für die Herkunftsländer sein kann. Vielleicht entwickelt sich in Deutschland langsam ein Bewusstsein dafür, dass man die Probleme im Land mit inländischen Lösungen angehen sollte.