Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan/Türkei

Liebe LdN, seit über 2 Wochen tobt der Konflikt um Bergkarabach im Südkaukasus. Es sind die heftigsten Auseinandersetzungen seit dem Waffenstillstand der 90er Jahre, bei denen zahlreiche Menschen getötet wurden. Bei dem Konflikt geht es um eine Fläche so groß wie die sächsischen Landkreise Bautzen und Görlitz, hat aber eine enorme Sprengkraft für die gesamte Region. Es ist ein ebenso facettenreicher wie komplexer Konflikt, der verschiedene Akteure einbezieht. Dabei stehen auf der einen Seite Armenien und das nach Unabhängigkeit strebende Bergkarabach (auch Arzach genannt) sowie Russland als Schutzmacht für Armenien (nicht für Arzach), das Waffen an Armenien sowie seinen Nachbarstaat Aserbaidschan liefert. Aserbaidschan und die Türkei als sein engster Partner haben Armenien in der Zange und sind wirtschaftlich und militärisch weit überlegen. Allein deswegen sind militärische Vorstöße seitens Armeniens als Verteidiger undenkbar. Weitere Akteure sind Georgien als direkter Anreiner und christlicher Wertepartner Armeniens, der aber mit Russland im Clinch steht, sowie der Iran als Regionalmacht und auch Israel, das Aserbaidschan mit modernen Waffen beliefert.

Der Konflikt ist gefährlich und traurig zugleich, geht er doch auf den schwelenden ethnischen Hass zurück, der im ossmanischen Völkermord an den Armeniern 1915/1916 mündete, bei dem bis zu 1,5 Mio. Armenier ermordet wurden und einen Großteil ihres historischen Siedlungsgebietes verloren und der sich heute noch seitens der Türkei und Aserbaidschan in vielfacher Weise äußert. Nun hat der Konflikt einen weiteren Ursprung im Zuspruch des Gebiets von Russland an Aserbaidschan, obwohl die Bevölkerungsmehrheit stets armenisch war. Stalin hat den Gebietszuspruch ermöglicht, um die Akzeptanz des Kommunismus in Aserbaidschan zu fördern. Eine Anhörung der armenischen Seite fand nicht statt.

Soweit der grobe Abriss, der Konflikt ist dabei natürlich vielschichtiger. Es geht um Ethnien, Religion, Geopolitik, Energie und Macht. Ich frage mich, wie ihr den Konflikt bewertet? Ist die Schenkung des Territoriums an Aserbaidschan völkerrechtlich überhaupt gültig? Was können Deutschland und Europa tatsächlich tun, um die europäischen Nachbarn zu befrieden?

4 „Gefällt mir“

Ich hole das Thema mal wieder hoch. Ich fände es auch interessant, dazu mal etwas in der Lage zu hören. Ich denke das ist schon aufgrund der Involvierung der Türkei aber auch Russlands ein sehr interessantes Thema.

Insbesondere würde mich eine Einschätzung zur völkerrechtlichen Lage interessieren und wie diese in den Medien dargestellt wird. Häufig heißt es ja pauschal, völkerrechtlich würde die Region Bergkarabach zu Aserbaidschan gehören.

Prof. Luchterhandt (Uni Hamburg) hat dazu was veröffentlicht, das ich aber nicht bewerten/einschätzen kann: https://dearjv.de/onewebmedia/Otto_Luchterhandt_DE.pdf

Vielleicht dort mal ein einordnendes Interview mit einem Völkerrechtler?

In der Bundespressekonferenz dieser Woche gab es zwei Veranstaltungen, in denen jeweils eine Seite (Armenien/Aserbaidschan) thematisiert worden ist.

VG

1 „Gefällt mir“

Vielen Dank für den Beitrag und fürs Teilen des Dokuments von Prof. Luchterhandt. Das ist ein starkes Bekenntnis pro unabhängiges Arzach. Mich würde interessieren, wie Ulf und Philip den Konflikt völkerechtlich und geostrategisch einordnen. @benutzer, hast du einen Link zu den Bundespressekonferenzen parat?
Danke und LG, Thomas

@ThomasB, hier findest du das Video zur Bundespressekonferenz mit den Vertretern der Armenischen Seite: Redirecting...

1 „Gefällt mir“

Danke, das ist sehr informativ! So traurig, dass der Konflikt in den Nachrichten derzeit untergeht… Liebe LdN, könnt ihr das Thema bitte an geeigneter Stelle wieder hervorholen? Sicher gibt es derzeit viele andere traurige Themen, die die Nachrichtenlage bestimmen und die ihr sowie viele Zuhörer*innen für wichtig erachten. Corona ist nach wie vor pressebestimmend und das nicht zu Unrecht, aber dieser Konflikt vor den Toren Europas braucht mehr Aufmerksamkeit.

1 „Gefällt mir“

Der Abgeordnete des EP Martin Sonneborn, hat die Region besucht und einen Bericht (in seiner ihm eigenen Weise) dazu auf YouTube veröffentlicht, um für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Link: In Gefahr & größter Not - YouTube

Feedback LdN 214:
Vielen Dank, dass ihr über den Krieg berichtet habt! Das war ein gutes Interview, was viele Aspekte dieses - in der Tat - sehr alten und vor allem komplizierten Konfliktes nüchtern beleuchtet hat. Natürlich stellt sich die Frage, warum man genau diesen Krieg in eurem Podcast erwähnen sollte, da auf der Welt zahlreiche blutige Konflikte schwelen. Die Notwendigkeit ergibt sich aus mehreren Punkten:

  1. Die Türkei als NATO-Partner treibt ihre expansionistische Außenpolitik weiter voran, die direkte Auswirkungen auf Europa hat. Clinch mit Griechenland, Provokationen in Zypern, Einmischung in Libyen, Syrien, Irak und eben auch den Südkaukasus betreffen die EU sowie ihre direkte Nachbarschaft. Erdogan verfolgt in aller Ruhe sein Ziel des ottomanischen Großreichs und Europa schweigt weitestgehend. U.a. der Weltspiegel berichtete. Der traurige Krieg in Bergkarabach - oder Arzach - ist ein weiteres Puzzlestück. Erdogan schreckt dabei auch nicht zurück, islamistische Kämpfer aus Syrien nach Karabach zu verlegen (n-tv berichtete).
  2. Deutschland liefert weiterhin Waffen ohne Ende an die Türkei, die sie beliebig auf den Schlachtfeldern einsetzen kann. Zahlreiche Medien berichteten, u.a. die SZ (auch wenn von 2019, hat der Artikel nicht an Relevanz verloren). Sie wurden zwar nicht in Bergkarabach eingesetzt, aber jedem ist klar, dass die Türkei dann andere Waffen problemlos nach Aserbaidschan schicken kann. Anders sieht es mit den Drohnen aus, die Israel nach Aserbaidschan exportiert und die den Krieg mitentschieden haben. Diese beinhalten Dual-Use Technik aus Deutschland. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) berichtete.
  1. Man kann die Armenier vielleicht sogar als bedrohtes Volk ansehen, wenn man sich die Geschichte anschaut. Im letzten Jahrhundert wurde dem kleinen, aber stolzen und ehrwürdigen Volk übel mitgespielt. Es ist nicht leicht, Ereignisse von vor über einhundert Jahren auf die heutige Zeit zu projizieren, aber im Grunde ist Armenien immer noch der Spielball der Regionalmächte Russland und Türkei - heute wie Ende des 19. Jahrhunderts. Und der ethnische Hass von damals, als die Armenier diskriminiert, verfolgt und massenweise ermordet wurden, spinnt sich auch heute noch fort. „Armenier“ ist in der Türkei ein Schimpfwort, die Anerkennung des Völkermords von 1915 wird in der Türkei mit einer mehrjährigen Haftstrafe belegt, Völkermörder werden als Helden gefeiert, nur als Beispiele. In Aserbaidschan ist es nicht besser. Krassestes Beispiel: „Der aserische Leutnant Ramil Safarow fiel [2004] mit einer bei Tesco in Budapest eigens gekauften Axt über den schlafenden armenischen Leutnant Gurgen Margaryan her und zerfleischte ihn mit 16 Axthieben.“ (Welt) Im 1. Weltkrieg hat Deutschland den Völkermord an den Armeniern als Partner der Osmanen toleriert, und heute - unter immerhin glimpflicheren Bedingungen - schweigt Deutschland erneut und die EU sieht sich nicht zum Handeln bereit. Zahlreiche Medien berichteten, u.a. die DW.

  2. Aserbaidschan hat mithilfe der Türkei sowie russischen und israelischen Waffen gewonnen, nachdem sie massiv aufgerüstet haben. Das Geld für die Waffenkäufe stammt aus Verkäufen von Erdgas und -öl, was die EU durch ihre Importe mitfinanziert. Demnächst geht eine neue Pipeline ans Netz, u.a. FAZ berichtete. Nicht nur Umweltschützer sind entsetzt.

  3. Wo sind die Werte, von denen Heiko Maas immer erzählt? Wo ist das weltpolitische Engagement, was gefordert wird? In diesem Krieg ist es glasklar, wer wen angegriffen hat und es ist nicht schwierig nachzuvollziehen, wer mit verbotenen Waffen das Völkerrecht bricht und Waffenruhen ignoriert. Man kann sicher nicht sagen, dass ARM und AZ beide unschuldig sind. Unabhängige Nachrichten gibt es zwar kaum, aber wem traut man mehr? Aserbaidschan, das einen Angriffskrieg lostritt und mit all seiner Überlegenheit Erfolge erzielen muss, das Reporter überwacht und bytheway im Index der Pressefreiheit auf Platz 168 von 180 liegt (Reporter ohne Grenzen berichtete)? Oder Armenien, das sich immerhin auf Platz 61 befindet, halbwegs demokratisch regiert wird und absolut keinen Grund hat, als verteidigende Streitmacht Streubomben und Phosphormunition einzusetzen oder gar die bereits verhandelten Waffenruhen zu brechen? Warum sollte Armenien die Waffenruhen, die vorher durch Russland und den USA erreicht wurden, brechen, wenn sie nur in Frieden dort leben wollen?

  1. Und schließlich sollte man deswegen auch die (deutschen) Medien kritisieren, wenn sie bspw. beide Seiten als gleichwertige Aggressoren darstellen und am Textende stets mit einem „…gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan“ aufwarten. Damit geben sie den Erzählungen Aliyevs und Erdogans nach und wiederholen ihr Narrativ. Ich bin kein Völkerrechtler, aber die rechtliche Lage Bergkarabachs ist gewiss nicht eindeutig pro Aserbaidschan. Die Berliner Zeitung und Prof. Luchterhandt, Völkerrechtler (Emeritus) an der Uni Hamburg, zeigen ein ganz anderes Bild auf.

Nun werden die Armenier wieder vertrieben. Die Überlebenden des Völkermordes von 1915 sind zum Großteil ins Ausland geflohen, weshalb es heute eine sehr starke Diaspora u.a. in den USA, Frankreich und Russland gibt, die auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen. Einige Überlebende haben sich auch in Bergkarabach niedergelassen, von dem sie nun wieder fliehen und alles zurücklassen müssen. Auch Azeris mussten in den 90ern fliehen, dies war jedoch die Konsequenz der Pogrome und Massaker an den Armeniern (bspw. von Sumqayit) sowie den darauffolgenden Vergeltungstaten. Die Flüchtenden von heute bangen zwar nicht ums Überleben, aber ihnen wird alles genommen. So müssen sie auch ihr kulturelles Gut zurücklassen und bangen, dass es nicht zerstört wird. Dazu gehört die Kathedrale von Sushi oder das Kloster Dadivank, denen das gleiche Schicksal ereilen könnte wie dem armenischen Friedhof in Culfa in der aserbaidschanischen Exklave Nakhichevan. Dieser wurde Anfang der 2000er dem Erdboden gleichgemacht und zu einem Schießübungsplatz umgewandelt.

Ich bin mir sicher, dass ich als Deutscher in Aserbaidschan eine ähnliche herzliche Gastfreundschaft genießen würde wie in Armenien, und ich bin davon überzeugt, dass in beiden Ländern gutmütige Menschen wohnen, die einfach nur in Frieden leben wollen. Aber die nationalistischen Autokraten/Diktatoren, die die Türkei und Aserbaidschan regieren, geben dem Frieden keine Hoffnung. Ich würde mir wünschen, wenn dies erneut Thema in der Lage der Nation wird. Danke!

Liebe Lage der Nation,
der Konflikt um Berg-Karabach ist zwar militärisch entschieden, doch sind noch viele weitere Punkte unklar. Welchen Status wird Berg-Karabach in Zukunft haben? Wie ergeht es den Zurückkehrenden? Was passiert mit den armenischen Klöstern, die nun in den Händen von Aserbaidschan sind? Werden AserbaidschanerInnen in die eroberten Gebiete ziehen? Wie steht es um die armenischen Kriegsgefangenen, die von Aserbaidschan misshandelt werden (Der Spiegel berichtete) und welche Maßnahmen kann der EGMR treffen? Hat die EU jeglichen Einfluss in der Region verloren?

Es wäre sehr interessant, wenn ihr dazu noch einen Beitrag machen könntet. Vielen Dank!

Ich möchte das Thema noch einmal höher priorisieren. Die EU und Deutschland verraten gerade mit Armenien ihre moralische Position (Ukraine) zugunsten des Interesses an Gas aus Aserbaidschan. Das ist falsch im Kontext Ukraine und in keiner Weise wertebasiert.
Das AA schweigt bis auf eine Reisewarnung und natürlich gedenken wir dem Genozid im WK l.