Vielen Dank für Eure Antworten schon einmal! Im Wesentlichen kann ich in Euren Antworten zwei Argumentationslinien erkennen:
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„Es geht bei der Energiewende um Industriepolitik und Freiheitsenergie!“ Wenn wir jetzt die Energiewende hinkriegen, dann vermeiden wir Knappheit in der Zukunft. Als Achillesverse an dem Argument sehe ich, dass das Emissionshandelssystem letzendlich politikgemacht ist. Wenn wir auf EU-Ebene in 10 Jahren den Windkraftausbau verbockt haben werden, dann könnte im Zweifelsfall die Politik einfach ein paar Gigatonnen zusätzliche Emissionsrechte als „Stabilitätsreserve“ aus dem Hut ziehen (oder Emissionen aus den Jahren 2040-2050 durch „frontloading“ vorziehen) weil das Stromnetz sicherlich „too big to fail“ sind.
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Das andere Argument ist: „Auch im Rahmen des EU-Zertifikatssystems kann es passieren, dass Zertifikate einfach stillgelegt werden, wenn sie nicht abgerufen werden.“ So werde der Effekt der Carbon Leakage aus dem Stromsektor in andere EU-Länder und -Industrien gedämpft. Aber dieser Effekt hängt maßgeblich davon ab, wie der EU-Zertifikatemarkt, insbesondere diese „Stabilitätsreserve“ funktioniert.
Ich habe mir daher noch einmal das EU-Zertifikatssystem etwas genauer angeschaut. Das System vergab im Jahr 2021 ca. 1.571 Mio Tonnen CO2-Äquivalente jährlich, welche derzeit pro Jahr um 43 Mio Tonnen reduziert werden. Emissions cap and allowances
1.571 mio t / 43 mio t pro Jahr = 36,5 Jahre, also steuert uns das System derzeit langsam, aber stetig auf CO2-Neutralität in den vom System betroffenen Sektoren im Laufe des Jahres 2048 hin. Das bedeutet, die EU gönnt sich bis 2050 alleine in den vom Emissionshandel betroffenen Sektoren bis 2050 (und da sind Straßenverkehr und Gebäude nicht dabei) noch einmal ca. 28 Gigatonnen CO2.
(Kleine Randbemerkung: Der EU-Emissionshandel inkludiert ca. die Hälfte der EU-weiten Emissionen, welche ca. 8% der weltweiten Gesamtemissionen ausmachen. Gönnen sich also alle Länder der Welt einen - in Relation zu ihren derzeitigen Emissionen - ähnlich großen Schluck aus der Pulle, wie es die EU in ihrem Emissionshandel in Stein gemeiselt hat, dann kommen wir bis 2050 weltweit auf ca. 700 Gigatonnen an Emissionen. Laut IPCC macht das das 1,5-Grad Ziel eher unwahrscheinlich, das 2-Grad Ziel wahrscheinlich und das 1,7-Grad Ziel würde mit 67% Wahrscheinlichkeit erreicht. Das ignoriert allerdings, dass die EU sich im Gegensatz zu Ländern des Globalen Südens eher anstrengen sollte …)
Die Zertifikate werden nach einem komplizierten Verfahren vergeben, bei dem es hin und wieder passiert, dass Zertifikate erst einmal bei der Komission liegen bleiben (z.B. wenn eine Fluglinie pleite geht und die ihr zustehenden kostenlosen Zertifikate nicht bekommt, weil eine Menge für neue, berechtige Marktteilnehmer zurückgehalten wird oder weil die Vergabe/Auktion von Zertifikaten in die Zukunft verschoben wurde). Bei diesen liegengebliebenen CO2-Zertifikaten (2021 scheinen da 900 Mio t aufgelaufen zu sein) scheint es verschiedene Ideen zu geben, wie man damit umgeht: Zum Wohle des Klimas löschen, Verkaufen um sinnvolle Dinge zu finanzieren, als Konjunkturpaket verschenken, etc. Damit es fancier klingt, scheint man diese Reste nun „Stabilitätsreserve“ zu nennen. Man geht wohl davon aus, dass in der Phase bis 2030 wieder eine Reserve auflaufen wird und die Entscheidung, was damit passieren soll, obliegt, soweit ich das verstehe letzendlich EU-Politik.
Also bin ich nun geneigt, Felix Matthes (und Robert Habeck) leicht zu widersprechen und eher der Ansicht von Claudia Kempfert zu folgen: Es ist im Rahmen des EU-Emissionshandels schon vorstellbar, dass diese angedeutete Carbon Leakage von deutscher Braunkohle in andere Sektoren unterbleibt. Das scheint allerdings kein Selbstläufer zu sein, sondern setzt entsprechendes Handeln auf EU-Ebene um das Jahr 2030er voraus. Zudem ist mir nicht so richtig klar, um wie viel es sich handelt und wie viel da maximal auflaufen kann. Allerdings würde ich mich, wie @MarkusS noch einmal über ein Experteninterview zu dem Thema freuen 