Klimaktivismus: Legitim, sinnvoll oder sogar notwendig?

Im Thema „Klimanotstand - Handeln jetzt!“ haben sich durch eure lebendige und engagierte Diskussion einige Unterthemen ergeben. Eine Differenzierung lohnt sich aus meiner Sicht, damit das Thema wieder übersichtlicher wird und den Leser*innen ermöglicht, einzelnen Diskussionssträngen zu folgen.
Hier geht es nun um den Klimaaktivismus, insbesondere um die „letzte Generation“. Wie notwendig ist dieser Protest? Zeigt er Wirkung? Ist er berechtigt?

Ich denke, der Protest generell ist in jedem Fall notwendig, sinnvoll und legitim, wobei legitim sich hier auf die moralische Legitimität bezieht (die ordnungs- oder strafrechtliche Legitimität ist selten gegeben).

Letztlich muss differenziert werden zwischen den jeweiligen Protestformen des Klimaaktivismus:

  1. Völlig gesetzeskonformer Protest (Petitionen, einfache Demonstrationen)
    Der ist ohne jeden Zweifel legitim und vermutlich auch sinnvoll und notwendig. Ob er hingegen hinreichend viel bewegt, kann durchaus bestritten werden, da diese Art des Protests natürlich sehr leicht seitens der Politik zu ignorieren ist.

  2. Protest unter Nutzung von Ordnungswidrigkeiten und strafrechtlichen Grauzonen (FFF im Hinblick auf die Schulpflicht, Sitzblockaden usw.)
    Diese Protestformen sind meiner Meinung nach auch legitim, sinnvoll und notwendig. Ziviler Ungehorsam in dieser Form ist in einer Demokratie notwendig, die davon ausgehende Disruption macht es schwieriger, die Proteste zu ignorieren, die Disruption ist jedoch nicht so schwerwiegend, dass die Gefahr droht, dass die öffentliche Meinung sich zu Ungunsten der Klimabewegung entwickelt.

  3. Protest unter Nutzung von leichten Straftaten gegen die Allgemeinheit oder Unternehmen (Hausfriedensbruch, Besetzungen, kontrollierbare Eingriffe in Straßen- und Bahnverkehr wie z.B. das Abschrauben von Schildern, reparierbare Sachbeschädigungen an öffentlichem Eigentum und Denkmälern)
    Diese Protestformen sind meiner Meinung nach in begrenztem Umfang noch sinnvoll und notwendig. Die Frage nach der Notwendigkeit richtet sich dabei nach der Sinnhaftigkeit: Notwendig sind sie, wenn sie sinnvoll im Hinblick auf die verfolgte Sache sind, daher tatsächlich ein hohes Potential dafür haben, etwas zum Positiven zu ändern. Wenn das Ziel zudem noch moralisch legitim ist, wären solche Aktionen damit auch legitim, wenn sie sinnvoll wären.
    Durch diese Gruppe verläuft daher für mich die Grenze dessen, was ich noch unterstützungswürdig finde. Die Grundgesetz-Beschmier-Aktion war z.B. einfach nur dumm im Hinblick auf das verfolgte Ziel - damit verärgert man einfach zu viele Leute für ein bisschen negative Pressewirksamkeit.

  4. Protest unter Nutzung von leichten Straftaten gegen andere Bürger und Institutionen der Allgemeinheit (Abstechen von SUV-Reifen, Festkleben an Kunstwerken, Umweltschutz-Grafittis an Häuserwänden)
    Für diese Protestformen habe ich kein Verständnis mehr. Ja, man kann den Angriff auf Kunstwerke politisch-moralisch rechtfertigen, aber es ist so offensichtlich, dass man dadurch weite Teile der Bevölkerung gegen sich aufbringt, dass es in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen steht.

  5. Protestformen, die erhebliche wirtschaftliche Schäden hervorrufen können (z.B. die Sabotage der Pipelines zur Raffinerie in Schwedt, Blockadeaktionen an Flughäfen usw.)
    Der wirtschaftliche Schaden kann bei solchen Aktionen schnell in die Millionen gehen - das ist einfach vom Standpunkt der Demokratie nicht mehr zu rechtfertigen. Das ist übrigens abzugrenzen von den Einsatzkosten der Polizei, hier entstehen zwar auch theoretische Kosten in Millionenhöhe, aber zum einen entstehen diese nicht real (die Bereitschaftspolizisten werden bezahlt, ob sie im Einsatz sind oder wegen Einsatzfreiheit nur üben…) und zum anderen fließen die real entstehenden Kosten wieder in den Wirtschaftskreislauf.

  6. Protestformen unter Nutzung von gefährlichen oder unkontrollierbaren Mitteln (z.B. Abseilaktionen auf der Autobahn, aber auch Blockadeaktionen an Flughäfen im Falle eines medinischen Notfalls an Bord)
    Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es bei einer Abseilaktion wegen der ablenkenden Wirkung zu einem schweren Unfall kommt. Auch dann wird man versuchen, dem Autofahrer die Schuld zu geben („Er hätte sich halt nicht ablenken lassen dürfen!“), aber auf diese Weise die Kausalität und objektive Zurechenbarkeit des eigenen Verhaltens klein reden zu wollen geht einfach gar nicht.
    Wann immer man einen Stau auf der Autobahn erzeugt, riskiert man vorhersehbar, dass es zu Auffahrunfällen kommen könnte, deshalb sind solche Aktionen auf Autobahnen einfach tabu und weder legitim, noch sinnvoll oder gar notwendig. Ein Unfall wie im Rahmen der A3-Blockade vom 13.10.2020 muss nicht sein

2 „Gefällt mir“
  1. Protestformen unter Nutzung von aktiver Gewalt (z.B. Steine- und Böllerwürfe gegen Polizisten auf Demonstrationen)
    Bei Gewalt herrscht denke ich - hoffe ich - ein Konsens, schließlich wollen wir nicht, dass Union und FDP mit ihrem populistischem Gebrabbel von „der neuen RAF“ am Ende Recht behalten. Aktive Gewalt muss eine absolute Grenze bleiben und sollte von niemanden unterstützt werden - auch nicht, wie in Lützerath geschehen, dadurch, dass man sie toleriert und gewalttätige Mitdemonstranten gewähren lässt. Der Zweck heiligt hier nicht die Mittel. Selbst wenn diese Aktionen sinnvoll wären, daher das Ziel objektiv voranbringen, wären sie nicht mehr legitim.

Das ist mein persönlicher Take zur Frage, was sinnvoll ist und bis wann eine sinnvolle Aktion legitim ist. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass die Einschätzung der Sinnhaftigkeit von anderen Diskutanten unterschiedlich beurteilt werden kann, sodass man durchaus auch noch Aktionen aus Gruppe 4 für legitim halten kann, auch habe ich Verständnis dafür, dass erhebliche wirtschaftliche Schäden nicht für jedermann ein Ausschlusskriterium sind, sodass auch Gruppe 5 noch als legitim erachtet werden kann. Ebenso kann ich nachvollziehen, zu sagen, dass gewisse Risiken für Leib und Leben in Anbetracht der Wichtigkeit des Klimaschutzes in Kauf genommen werden müssen (also auch Gruppe 6 legitim sei), würde das aber persönlich strikt ablehnen. Nicht mehr nachvollziehen kann ich hingegen, wie man zu dem Schluss kommen kann, dass aktive Gewalt legitim sein könnte.

Daher: Ich ziehe für mich die Grenze beim Verlauf von Gruppe 3 bis 4, kann aber alles bis Gruppe 6 noch akzeptieren, wenngleich ich es ablehne, bedeutet: ich würde nicht an solchen Aktionen teilnehmen oder sie auch nur durch psychische Beihilfe unterstützen, würde aber auch nichts unternehmen, sie aktiv zu verhindern.

2 „Gefällt mir“

Hier sind einige Beiträge aus dem alten Thread „Klimanotstand - Handeln jetzt!“:

Für mich ist nur Gewalt gegen Personen illegitim und natürlich sowieso nicht legal. Die letzte Generation trainiert ihre Mitstreiter*innen aber im Sinne von Gewaltfreiheit und Kommunikation. Sie respektieren das Grundgesetz und die Demokratie. Um Legalität geht es an dieser Stelle in erster Linie nicht. Deshalb ist hier nur die Rede von Legitimität, denn ob eine Aktion rechtswidrig ist oder nicht, möchte ich den Gerichten überlassen. Legitim ist für mich alles bis auf deine Nummer 6. und 7. Nr. 5 finde ich ebenfalls sehr schwierig, weil es auch die Aktivisten selbst ins Unglück stürzt.

Die „normalen“ Proteste wie du ihn unter 1. und 2. beschreibst, hat zwar etwas bewegt, aber noch überhaupt gar nicht zu ausreichenden Maßnahmen im Sinne von Klimaschutz und Klimagerechtigkeit geführt. Aus diesem Grund ist es aus meiner Sicht notwendig, Proteste disruptiver im Sinne von störender zu gestalten. Die Zeit drängt. Wir haben keine Zeit mehr.

Die Frage, ob auch diese Art von Protesten sinnvoll ist, würde ich ganz klar mit „ja“ beantworten. Denn auch all diejenigen, die sich aufregen, die die Sinnhaftigkeit verneinen, beschäftigen sich endlich bewusst mit dem Thema. „Nicht mit dem Thema Klima“ würdest du jetzt sicher antworten, aber das sehe ich anders. Viele Veränderungen in der Geschichte wurden durch genau solchen zivilen Widerstand in Gang gesetzt. Wirklich im eigenen Alltag oder im eigenen Sinn für Ästethik gestört zu werden, bewirkt ein „Aufrütteln“, Wachrütteln. Das ist nie angenehm. Denn wenn es angenehm ist, stört es niemanden und bewirkt wenig. Und übrigens stört es anscheinend niemanden, dass er sowieso aus anderen Gründen im Stau steht. Dass man als Kind, als Rollstuhlfahrer, als Kranker, als alter Mensch mit Rollator, als Radfahrer ständig von PKWs blockiert wird: auf Gehwegen, mit Parken in zweiter Reihe, mit der selbstverständlichen Inanspruchnahme von unglaublich viel Platz, mit der schlechten Luft, die nachweisbar gesundheitsschädigend für die Anwohner*innen ist.

Ich unterstütze die letzte Generation in ihren bisherigen Aktionen, auch wenn ich mich nie selbst auf eine Straße kleben würde.

Warum regen sich nicht alle über die Bundesregierung und unseren Bundestag auf, die unser Grundgesetz nicht beachten? Die das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhalten? Die die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts den Schutz künftiger Generationen nicht beachten?

Wo sind die täglichen Klimainformationen in den öffentlich-rechtlichen Sendern (z.B. Klima vor 8)?

Was anscheinend viele nicht begreifen: Man kann sich von den Protestaktionen gestört fühlen in seinem Alltag, aber es kommen größere Störungen auf uns zu, und zwar mit riesen Schritten. Es ist eine Illusion zu glauben, dass alles weitergehen kann wie bisher. In ein paar Jahren werden Klimaaktivisti unser geringstes Problem sein.

1 „Gefällt mir“

Die wirkliche Fragen sind:

  • Welche Formen von Protest sind effektiv?
  • Welche Formen von Protest sind moralisch vertretbar?

Mit Teilfragen wie

  • Wie behaltet man die moralische Hoheit über den Gegner?
  • Wie steigert man die Aufmerksamkeit und Unterstützung?
  • Ist der Gegner überhaupt empfindlich für public opinion oder moralische Argumente?
  • Wie sorgt man dafür dass der Gegner an Kohärenz und Zusammenhalt verliert?

Ich habe Kinder und deswegen finde ich jede effektive Form von Protest moralisch vertretbar.

1 „Gefällt mir“