Ich glaube es geht hier um die Frage, was Stöhr mit „infektiöser“ meint - also um Textinterpretation. Ich versuche mal meine Interpretation nachvollziehbar zu machen:
Für Stöhr ist gar nicht die Frage, ob sich B117 gegen eine andere Variante durchsetzt (weil es infektiöser ist) - davon geht er aus und das sagt er auch ganz deutlich (" obwohl dort etwa 90 Prozent die britische Mutation haben dürften"). Insofern ist der Vorwurf hanebüchen, er würde das negieren.
Der Punkt ist, dass es Stöhr in dem zitierten Absatz um die Frage geht, was diese Durchsetzung von B117 epidemiologisch bedeutet und wie damit politisch umzugehen ist. Natürlich kann man das Wort „infektiöser“ in dem Satz so auslegen, als würde er diese infrage stellen. Aber das klappt auch nur bis zu der Stelle, wo er von der Durchsetzung der Mutation redet. Außerdem spricht er im selben Satz von „Befürchtung“ und macht damit den Kontext seiner Aussage deutlich: Er bezieht sich auf die zahllosen Aussagen von einer „ganz neuen Pandemie“, auf diverse Grafiken, die exponenziell steigende Infektionszahlen allein aufgrund der Ausbreitung der B117-Variante unterstellen etc. In diesem Kontext ist seine Aussage: die Befürchtungen, die dahinter steckten (und ich würde ergänzen: die dadurch geschürt wurden) haben sich nicht bestätigt und das zeigen die Zahlen aus UK, Irland etc.
Was genau geben die Zahlen denn Deiner Meinung nach „nicht her“. Um die Frage, ob sich B117 durchsetzt (also Menschen schneller oder stärker infiziert als andere Varianten) geht es ja nicht. Der Drops ist gelutscht, auch für Stöhr. Nochmal: es geht um die epidemiologische Frage, was das fürs Infektionsgeschehen heißt. Behauptet wurde, abgeleitet von Zahlen, die so unsicher sind, dass sie einen solchen Schluss eigentlich gar nich zulassen, was sogar Drosten betonte, dass B117 unter den gegebenen Bedingungen - also in Deinen Worten „unter massiven Maßnahmen“ - zwangsläufig einen um das 1,3 bis 1,5-fache höheren R-Wert hat, als die bisher dominante Variante. Auf dieser Rechnung basieren die oben angesprochenen Befürchtungen. Und diese Annahme vom Dezember sieht Stöhr durch die reale Entwicklung des Infektionsgeschehens - wiederum „unter massiven Maßnahmen“, den von etwas anderem war ja nie die Rede - falsifiziert. Eine kleine Gegenrechnung: Der R-Wert in UK lag vor 1-2 Wochen kurzzeitig bei 0,63 und da bei weitgehender Verbreitung von B117. Rechnet man den unterstellten Faktor von 1,3 bis 1,5 dazu, wäre man bei einem R-Wert von 0,48 bzw 0,42 - das ist in etwa das Niveau von Wuhan im Februar 2020. Wie dem auch sei, Fakt ist, dass die Maßnhamen (vielleicht mit einigen Verschärfungen) deutlich mehr epidemiologischen Effekt gehabt haben, als die Ausbreitung der Mutation - und das ist genau das Gegenteil von dem, was die erwähnten Kurven (u. a. im Spiegel-Interview mit Brinkmann) suggerieren.
Ich sagte ja eingangs, dass es um unterschiedliche Interpretationen geht. Zu meiner gehört vielleicht auch, dass ich einer Person wie Stöhr mit seiner Berufserfahrung etwas credit gebe, wenn er von Epidemiologie spricht und nicht gleich annehme, dass er einfach nur dumm ist und selbst Grundlegendes und Offensichtliches einfach nicht kapiert. Meiner Meinung nach ist diese Haltung auch sehr viel geeigneter für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen und Interpretationen als das derzeit leider immer weiter verbreitete Lager-Denken á la „wenn du nicht meine Position vertrittst, hast Du einfach keine Ahnung“.