Viele Aspekte sind hier schon genannt und auch richtig erläutert worden, ich würde gern aus sprachwissenschaftlicher Sicht noch einige Dinge beisteuern, die die Kontroverse um diese Rede evtl. verständlicher machen und dabei auf ein ganz aktuelles, ähnlich gelagertes Beispiel (und die erschreckenden Parallelen) verweisen. Ich selbst habe aber die öffentliche Debatte damals nicht mitbekommen, weil an mich noch nicht zu denken war, insofern kann ich das nur rekonstruieren, hoffe dabei aber, nicht zu selektiv zu sein.
Die Linguistik hat sich sehr eingehend (ich würde dazu auch sagen: abschließend) mit dieser Rede beschäftigt; es sind ganze Qualifikationsschriften, z. B. Anfang der 90er, dazu entstanden. Der wichtigste Punkt scheint mir zu sein, dass Jenninger, der ja explizit eine ‚Gedenkrede‘ im Deutschen Bundestag in seiner Funktion als Präsident von ebendiesem hält, die Textsorte verfehlt: Er hält keine Gedenkrede. – Jedenfalls dann nicht, wenn man gesellschaftliche und öffentliche Erwartungen, d. h. auch die Rezipientenperspektive, einbezieht. Allgemein gesprochen: Wenn etwas als X markiert wird, dann wird erwartet, dass auch X enthalten ist. Beispiel: Soll eine Trauerrede am Grab eines Verstorbenen gehalten werden, dann ist die Erwartung nicht, dass über diese Person ausschließlich Negatives berichtet wird, Fehler, Verfehlungen, Charakterschwächen usw.
Die Funktion der Gedenkrede, d. h. dieser Textsorte, ist es, eine integrative Funktion zu erfüllen, also bspw. zu erinnern, Trauer zu zeigen, mahnen („Lehren aus der Geschichte“) usw. Was Jenninger allerdings macht: Er erklärt. Ihm wurde ja auch vorgeworfen, eine Geschichtsstunde, eine Vorlesung zu halten. Er verletzt damit die Normen und Erwartungen, die an diese Textsorte eigentlich gestellt werden. Das zeigt sich auch an der sog. Nomination. Insbesondere Reden haben bestimmte Routinen und Phrasen (ganz wertneutral zu verstehen), bedienen sich sog. formelhafter Sprache, um eine Absicht deutlich zu machen. Bestimmte Phrasen und Nominationen müssen vorhanden sein, um eine Textsorte zu erkennen (vgl. Vaterunser, „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“ oder ganz klassich: der Wetterbericht: „kann es bis zu … werden; es ist mit … zu rechnen und örtlich kann es …“). In der Analyse zeigt sich, dass die Jenninger-Rede zum einen zu sehr erklärt, weil die Täter-Perspektive ein viel zu starkes Gewicht bekommt und das „wir“ viel zu wenig. Gedenkreden leben vom „wir“, von dem Bezug auf die Eigengruppe, in diesem Fall den Deutschen, verbunden mit spezifischen Attributionen. Das kommt bei ihm aber nur verschwindend gering im Vergleich zu anderen, explizit als Gedenkreden markierten Reden vor. Dagegen kommt „Hitler“ (Fremdgruppe; so auch für die jüdische Bevölkerung) sehr viel häufiger vor und wird daher als unangemessen empfunden, weil auch entsprechende Eigenschaften und Einstellungen übernommen werden, von denen er sich nicht distanziert, sondern sie eher befördert.
Würde man den Text nur lesen, ist er aus meiner Sicht gar nicht wirklich kontrovers (Bsp.: „Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht.“), er wird aber vorgetragen; entscheidend ist also auch das Medium. Und als Gedenkrede markiert, ist der Vortragsstil, die sprachlich-stilistische Ebene etc. dazu auch wenig ansprechend und null emotional, eigentlich fast teilnahmslos/ohne wirklich Anteilnahme, unangemessen und monoton (gutes Gegenbeispiel in wirklich allen Belangen: Steinmeiner, Gauck).
Seine Erklärung war: „Meine Rede ist von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden, wie ich sie gemeint hatte […]“. – Warum das so ist, ist klar und einleuchtend: Er hat die impliziten Regeln und Erwartungen einer Kommunikationsgemeinschaft, die an diese Rede bzw. Textsorte gestellt werden, verletzt. Aus meiner Sicht entspricht das Urteil, das in der „Lage“ gesprochen wurde, genau den Empfindungen und Empörungen, die geäußert wurden, nachdem diese Rede damals gehalten wurde. Inhaltlich ist das m. E. zwar nicht haltbar, aber die Wirkung des mündlichen Vortrags dominiert die Interpretation. Was insg. vielleicht auch zeigt, dass die Erwartungshaltungen an bestimmte Textsorten konstant und verfestigt sind.
Das angesprochene aktuelle Beispiel ist das vom Grünen-Parteitag, als eine Videobotschaft von Carolin Emcke gezeigt wurde. Paul Ziemiak hat ihr für eine Stelle, die sie vorgetragen hat, Antisemitismus vorgeworfen („geschichtsvergessene Entgleisung“). Der Vorwurf ist allerdings völlig unbegründet, da Emcke bei den entsprechenden Begriffen („Eliten“, „Juden und Kosmopoliten“) gestikulierend Anführungszeichen gezeigt hat. Die Funktion von Anführungszeichen ist u. a., eine Thematisierung von Sprache selbst vorzunehmen, also eine Metaperspektive einzunehmen (oder etwas als Zitat zu kennzeichnen usw.). Diese sog. metasprachlichen Markierungen finden sich auch bei Jenninger, zumindest im Schriftlichen. Im Mündlichen dagegen kaum bzw. sind nur schwer als solche erkennbar. Was also die Einstellung des Sprechers ist, wann ein Zitat kommt, wo er etwas sprachlich markiert, um sich davon zu distanzieren oder es zu befürworten, wird bei ihm nicht deutlich. Er vermischt verschiedene Sprachebenen und damit auch Einstellungen sowie Sprachhandlungen (Stichwörter hier: Deixis und Deontik).
tldr: Jenninger hat keine Gedenkrede gehalten, weil Funktion, Absicht und Wirkung auseinanderfallen und (implizite) Regeln der Textsorte nicht berücksichtigt werden.