Kernaussage der Jenninger-Rede

Ulf sagt bei Minute 37 in der aktuellen Lage LdN251 über die Jenninger-Rede:

Und im Grunde muss man schon ganz ehrlich sagen, ist das dieses ganz klassische völkisch nationale Narrativ, dass da bedient wird: Die Deutschen sind im Grunde von Hitler verführt worden und so furchtbar antisemitisch waren sie eigentlich auch gar nicht und irgendwie waren die Juden ja auch selber schuld.

Wolfgang Benz sieht das in seinem Artikel bei der BPB genau anders herum:

Den Nationalkonservativen in der [CDU/CSU-]Fraktion war Jenninger tatsächlich inhaltlich zu weit gegangen, weil er sich nicht mit erinnern, gedenken und mahnen begnügen, sondern erklären wollte, wie einig die deutschen Partei- und Volksgenossen einst mit dem „Führer“ gewesen waren. Jenninger hatte erstmals versucht, mit der Lebenslüge aufzuräumen, nach der Adolf Hitler mit einer verbrecherischen Entourage Macht über die Deutschen gewonnen und das Volk (angeblich gegen dessen Wissen und Willen) ins Verderben geführt habe.

Es ging also gerade nicht darum, das klassische völkisch nationale Narrativ zu bedienen, dass die Deutschen nur von Hitler verführt worden waren und eigentlich gar keine Antisemiten sind, sondern im Gegenteil wollte Jenninger deutlich machen, dass die Deutschen durchaus aktiv mitgemacht haben.

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir deutlich weniger verwerflich, als ihr das dargestellt habt, dass Laschet ein Buch über die Rede geschrieben hat, in der er die Rede inhaltlich verteidigt.

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Mir ist die Jenninger~Rede aber in Ulfs Sinn in Erinnerung: als Entschuldigung für die armen Deutschen, die verführt worden sind.

Wenn das allgemein so verstanden worden wäre, wie von Benz dargestellt, hätte es auch kaum den Skandal darum gegeben. Und wenn ich das richtig lese, sagt Benz ja auch nur, das es in nationalkonservativen Kreisen so verstanden worden sei.

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Danke für deinen Beitrag und den verlinkten Artikel. Gutes Beispiel darüber, wie sich ein Bild ändern kann, wenn man die Recherchetiefe erhöht.

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Als ich das unterwegs gehört habe, bin ich auch über den Punkt gestolpert, die Juden seien selbst schuld gewesen, und habe mir vorgenommen, mir den Zusammenhang mit der Jenninger-Rede zuhause genauer anzuschauen.
Zum einen hat Jenninger eine Frage gestellt, ohne sich mit der Bejahung zu identifizieren, aber auch ohne sich davon zu distanzieren. Bei der BPB wird das als Stilmittel der „erlebten Rede“ bezeichnet. [ Unglücklicher Staatsakt - Philipp Jenningers Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 | bpb.de ] Dieses Stilmittel birgt ein Risiko, missverstanden zu werden.
Zweitens heißt es in der Lage nur, das bediene ein Narrativ, und in diesem Narrativ komme die Selbstschuld der Juden vor. Das ist also noch einen Schritt weiter von Jenningers Rede entfernt. Aber so wie es formuliert ist, ist es nicht falsch.

Ich schließe daraus:

  1. Der Diskussion des Textes der Jenninger-Rede funktioniert besser schriftlich als mündlich, weil man sehr genau darauf achten muss, was gesagt wurde. Das spricht nicht für die Qualität des Textes als Rede.
  2. In diesem Fall leitet die Lage über eine Kette von Interpreation und Assoziation zu einem Extrempunkt, der so nicht im Orginaltext steht. So wie es formuliert ist, ist es nicht falsch, wenn man genau aufpasst. Aber ich hätte mir im Sinne der Ausgewogenheit (die die Lage glücklicherweise oft praktiziert) gewünscht, wenn darauf hingewiesen worden wäre, dass diese Interpretations-/Assoziationskette nicht alternativlos ist.
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Ja,
das bestreitet Benz meines Erachtens auch nicht. Was er jedoch anführt ist, dass die Rede selbst nicht das angesprochene „Narrativ“ bedient (wenn man sich den Wortlaut durchliest), sondern das Jenninger schlichtweg von dem Text als Vortragender überfordert war und die Rede womöglich nicht zuletzt deswegen großflächig missverstanden wurde.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass Jenninger selbst seine Rede auch ebenso verstanden wissen wollte, wie es ihm vorgeworfen wurde (und wird) erscheint mir etwas… sagen wir oberflächlich, aufwandsoptimiert.

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Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat die Rede auch verteidigt, weil sie das damalige Mitläufertum gut beschrieben hätte. Problematisch war weniger der Inhalt, sondern Form und Aufbau der Rede. Das Stilmittel der erlebten Rede funktioniert nicht sonderlich gut, wenn man kein talentierter Redner ist, sondern die Rede relativ emotionslos von seinem Zettel abliest.

Zu der Zeit vertraten ja viele noch die Auffassung, dass die Bevölkerung von den Gräueltaten an den Juden nichts gewusst hätte. Wobei es in Wahrheit eher Gleichgültigkeit und kein streng gehütetes Staatsgeheimnis war. Hat sehr schön gezeigt, dass auch latenter Antisemitismus sehr gefährlich sein kann und es gar keine Mehrheit für die Vernichtung braucht, sondern nur genug Leute, denen es egal ist.

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Im Gegenteil: Benz ist eine Sekundärquelle. Wir haben hingegen mit dem Originaltext der Rede gearbeitet.

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Tut mir leid, da hatte ich mich leider missverständlich ausgedrückt.
Ich meinte, dass ich meine Recherchetiefe erhöht hatte, indem ich über den verlinkten Artikel zur dort verlinkten Mitschrift gelangt bin und sich darüber das Bild bei mir geändert hat, da ich die Einschätzung dazu aus der LdN251 nicht ganz teilen kann.

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Was mich an diesem Thread sehr freut, ist, dass ich nun endlich glaube, zu verstehen, was das ein-zweimal wiederholte „Jenninger hat es aber gar nicht böse gemeint“ (Ich glaube, von Philip) bedeuten könnte.
Das Bild von der Rede, dass ich aus dem Podcastabschnitt bekommen habe, wirkte nämlich so, als ob man sie gar nicht „nicht böse“ meinen könnte.

Die Rede gibt es anscheinend hier:

Nachdem ich sie gelesen habe, kann ich durchaus verstehen, wie man ein Buch zu ihrer Verteidigung schreiben kann und könnte, ohne es gelesen zu haben, nicht sagen, ob das Buch doof ist, oder nicht.
Ich finde den Hinweis darauf, dass ihr mit dem Original-Text gearbeitet habt, unpassend, denn Sekundär-Literatur mag einem ja Hinweise geben, auf die man selbst (oft in Eile) nicht sofort kommt.

Schlussendlich könnte es natürlich so sein, dass die von mir verlinkte Rede die falsche ist.
Kaiser Wilhelms Hunnenrede wurde danach ja auch in verfälschter Form verbreitet, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Wenn das so ist, würde ich mich über einen Hinweis freuen.

Zitat aus der Rede:

Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine
Rolle angemaßt - so hieß es damals - , die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht
endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht
sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?

Das allein genommen wäre ein Skandal. Schon der nächste Satz zeigt aber doch die Haltung des Redners.

Und vor allem: Entsprach
die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden
Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und
Überzeugungen?

Hier versucht er, sich in das Denken der Mitläufer und viel wichtiger, der Vorteilsnehmer, zu begeben, um deren Haltung herzuleiten. Es ist niemals als eigener Gedanke Jenningers zu verstehen. Da muss man schon mit einem bösen Willen weglassen und interpretieren. In einer späteren Passage steht:

Die rasante Industrialisierung und Verstädterung
insbesondere nach 1871 führte zu einem weitverbreiteten, diffusen Unbehagen
an der Moderne überhaupt. Gerade in diesem Umwälzungsprozeß, der von vielen
Menschen als bedrohlich empfunden wurde, spielten die Juden eine ganz
herausgehobene, oftmals glänzende Rolle: in der Industrie, im Bankenwesen und
Geschäftsleben, unter Ärzten und Rechtsanwälten, im gesamten kulturellen
Bereich wie in den modernen Naturwissenschaften. Das weckte Neid und
Inferioritätskomplexe,

Damit ist doch klar, dass die oben stehende rhetorische Frage der Vorteilsnehmer, der Gewinnler, nicht die rhetorische Fragen von Jenninger sein kann. ME würdigt er hier die Leistung der Juden uneingeschränkt.

Auch der folgende Satz ist mM nach klar:
Die rasche Identifizierung mit den westlichen Siegern förderte die Überzeugung,
letzten Endes - ebenso wie andere Völker - von den NS- Herrschern nur
mißbraucht, „besetzt“ und schließlich befreit worden zu sein.

Wieder hat sich Jenninger hier in das Denken der Verdränger hinein versetzt, um es verständlich zu machen. Es ist aber nicht sein eigenes Denken, und ich finde es fast unmöglich, es so auszulegen.

Die Rede ist kein Meisterwerk, aber sie scheint mir ehrlich gemeint. Die kritischen Passagen hätter er besser erklären sollen, anstatt sich auf sein offensichtlich wenig ausgeprägtes Rednertalent zu verlassen.

Dass Laschet diese Rede verteidigt, würde ich ihm also nicht vorwerfen, so sehr ich mit Grausen seiner möglichen Kanzlerschaft entgegensehe.

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Auf youtube gibt es eine Tonaufnahme.
da es auch zwischenrufe gibt, könnte ich mir gut vorstellen dass das ein Orginal ist.

Kleiner Kritikpunkt: Beim „O-Ton Zitat“ bei 36:30 hast du einen Satzeinschub einfach weggelassen:
„Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so hieß es damals - , die ihnen nicht zukam?“

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Ich habe mir aus Anlass der letzten Lage Jenningers Rede nochmal angehört. M.E. ist sie auf zwei verschiedenen, aber miteinander verknüpften Ebenen höchst problematisch: Zum einen versucht Jenninger, die Perspektive des „verführten“ Deutschen einzunehmen; auf diese Weise unterstützt er zumindest implizit Sichtweisen, die Schuld und Beteiligung der Deutschen bei der Judenverfolgung relativieren. Zum anderen macht er die Einnahme dieser Perspektive als rhetorischen Kunstgriff nicht hinreichend deutlich, so dass für den Zuhörer möglicherweise unklar bleibt, inwieweit Jenninger sich selbst von den Beschreibungen („Faszinosum“) distanziert. Die öffentliche Empörung und anschließende Diskussion bezieht sich nach meiner Wahrnehmung hauptsächlich auf den letzteren, nämlich den rhetorischen Aspekt, und lenkt damit ab von der tiefer liegenden inhaltlichen Problematik der Darstellung Jenningers.

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@erg: Das ist die Rede von Jenninger, danke für den Link, den ich eigentlich in den Folgennotizen erwartet hätte. Man kann sich die Rede auch auf YouTube anhören, da ja vielfach der Vortragsstil eigentlicher Anlass der Kritik war:
Skandalrede im Bundestag - Philipp Jenninger

Im Vergleich wurden ein paar Passagen von Jenninger weggelassen.

In Summe ist es schon so, wie von Ulf angemerkt, dass die Jenninger Rede einen großen Fokus auf den Versuch des Erklärens legt, wie es dazu kommen konnte. Das abschließende Fazit, dass die Deutschen nur von Hitler verführt und es keinen ausgeprägten Antisemitismus gab, erschließt sich mir nach vollständigem lesen und hören nicht so, wie von Ulf angemerkt. Sehr wohl bieten einzelne Passagen durchaus das Potential für eine solche Interpretation.

Aber egal, da es ja eigentlich um Laschet als vermeintlichen Verfasser der Rede und als Autor des anschließenden Buches ging. Ob er der Verfasser der Rede war, konnte ja nicht geklärt werden. Das mangelnde Gespür für Moment und Situation spricht zumindest dafür. In der verlinkten Quelle des Ruhrbarone.de ist mir der folgende Kommentar aus dem Jahr 2010 ins Auge gesprungen:

—- Zitat —-

Bevor sich hier alle Laschet-Fans mit Wikipedia-Wissen die Jenninger-Rede schönsaufen, einfach mal ein passender Satz, den Sebastian Haffner zu dieser unsäglichen Rede gesagt hat. Er merkte damals an, dass man besser “am frischen Grab des Ermordeten nicht über die interessanten Seiten seines Mörders” sprechen sollte. Zu einer solchen Rede ein Pro-Büchlein zu schreiben, spricht Bände über Laschet? Der Mann ist mir ein Rätsel. Er steht für alles und nichts…

Fand ich irgendwie erwähnenswert…

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Habe nochmal über den schwierigen Redenabschnitt nachgedacht. Der Autor hätte ohne weiteres sehr viel deutlicher und unmissverständlicher formulieren können, z.B, so:

Und was den galoppierenden Antisemitismus anging, wie konnte er sich in so grossen Teilen der Bevölkerung festigen? Es war der Neid auf die Bildungs- und Geschäftserfolge einer Jahrhunderte lang drangsalierten Minderheit. Die Juden massten sich nichts an, sie nutzten die Möglichkeiten, die ihnen offenstanden und brachten das Land zu einer kulturellen Blüte. Neid ist eine böse Kraft, die eine zerstörerische Phantasie in Gang setzt. Man bildet sich ein, die Beneideten hätten ihren Erfolg unrechtmässig erlangt, und es wäre in dieser kranken Logik an der Zeit, unrechtmässig erlangte Güter zurückzufordern und unter seinesgleichen aufzuteilen. Den Neid und die Gier mussten die Nationalsozialisten nur aufgreifen, verstärken und orchestrieren. Und nun konnten sie allen die es gerne hörten, verkünden, dass durch die endlich errungene Macht der NS das „gerechte Verlangen des Volkes“ in die Tat umzusetzen wäre.

Natürlich kann man sprachlogisch feststellen, dass Jenninger (oder Laschet?) die Motive des Pogroms nicht relativiert hat. Aber warum hat er an dieser Stelle die nötige Klarheit umschifft? Wäre doch viel einfacher gewesen. Stattdessen der rhetorische Kunstgriff, den die missverstehen konnten, die ein Interesse daran hatten und dazu halt nicht genau hinschauen durften, wozu ihnen der Abschnitt die Gelegenheit bot.

Das Haffner-Zitat von @myUser finde ich jetzt noch passender als es mir gestern vorkam.

Wenn tatsächlich Laschet der Autor war, dann sieht die Rede ihm ähnlich. Nirgends anecken, das Netzwerk vor allem anderen pflegen und ölen, Gewichtiges sagen (was ihm nichts kostet), um anschliessend NICHTS zu tun wie zu erwarten ist (KIlimaschutz, da kann man sich jahrelang winden mit vielen Wählern im Rücken).

Viele Aspekte sind hier schon genannt und auch richtig erläutert worden, ich würde gern aus sprachwissenschaftlicher Sicht noch einige Dinge beisteuern, die die Kontroverse um diese Rede evtl. verständlicher machen und dabei auf ein ganz aktuelles, ähnlich gelagertes Beispiel (und die erschreckenden Parallelen) verweisen. Ich selbst habe aber die öffentliche Debatte damals nicht mitbekommen, weil an mich noch nicht zu denken war, insofern kann ich das nur rekonstruieren, hoffe dabei aber, nicht zu selektiv zu sein.

Die Linguistik hat sich sehr eingehend (ich würde dazu auch sagen: abschließend) mit dieser Rede beschäftigt; es sind ganze Qualifikationsschriften, z. B. Anfang der 90er, dazu entstanden. Der wichtigste Punkt scheint mir zu sein, dass Jenninger, der ja explizit eine ‚Gedenkrede‘ im Deutschen Bundestag in seiner Funktion als Präsident von ebendiesem hält, die Textsorte verfehlt: Er hält keine Gedenkrede. – Jedenfalls dann nicht, wenn man gesellschaftliche und öffentliche Erwartungen, d. h. auch die Rezipientenperspektive, einbezieht. Allgemein gesprochen: Wenn etwas als X markiert wird, dann wird erwartet, dass auch X enthalten ist. Beispiel: Soll eine Trauerrede am Grab eines Verstorbenen gehalten werden, dann ist die Erwartung nicht, dass über diese Person ausschließlich Negatives berichtet wird, Fehler, Verfehlungen, Charakterschwächen usw.
Die Funktion der Gedenkrede, d. h. dieser Textsorte, ist es, eine integrative Funktion zu erfüllen, also bspw. zu erinnern, Trauer zu zeigen, mahnen („Lehren aus der Geschichte“) usw. Was Jenninger allerdings macht: Er erklärt. Ihm wurde ja auch vorgeworfen, eine Geschichtsstunde, eine Vorlesung zu halten. Er verletzt damit die Normen und Erwartungen, die an diese Textsorte eigentlich gestellt werden. Das zeigt sich auch an der sog. Nomination. Insbesondere Reden haben bestimmte Routinen und Phrasen (ganz wertneutral zu verstehen), bedienen sich sog. formelhafter Sprache, um eine Absicht deutlich zu machen. Bestimmte Phrasen und Nominationen müssen vorhanden sein, um eine Textsorte zu erkennen (vgl. Vaterunser, „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“ oder ganz klassich: der Wetterbericht: „kann es bis zu … werden; es ist mit … zu rechnen und örtlich kann es …“). In der Analyse zeigt sich, dass die Jenninger-Rede zum einen zu sehr erklärt, weil die Täter-Perspektive ein viel zu starkes Gewicht bekommt und das „wir“ viel zu wenig. Gedenkreden leben vom „wir“, von dem Bezug auf die Eigengruppe, in diesem Fall den Deutschen, verbunden mit spezifischen Attributionen. Das kommt bei ihm aber nur verschwindend gering im Vergleich zu anderen, explizit als Gedenkreden markierten Reden vor. Dagegen kommt „Hitler“ (Fremdgruppe; so auch für die jüdische Bevölkerung) sehr viel häufiger vor und wird daher als unangemessen empfunden, weil auch entsprechende Eigenschaften und Einstellungen übernommen werden, von denen er sich nicht distanziert, sondern sie eher befördert.

Würde man den Text nur lesen, ist er aus meiner Sicht gar nicht wirklich kontrovers (Bsp.: „Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht.“), er wird aber vorgetragen; entscheidend ist also auch das Medium. Und als Gedenkrede markiert, ist der Vortragsstil, die sprachlich-stilistische Ebene etc. dazu auch wenig ansprechend und null emotional, eigentlich fast teilnahmslos/ohne wirklich Anteilnahme, unangemessen und monoton (gutes Gegenbeispiel in wirklich allen Belangen: Steinmeiner, Gauck).

Seine Erklärung war: „Meine Rede ist von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden, wie ich sie gemeint hatte […]“. – Warum das so ist, ist klar und einleuchtend: Er hat die impliziten Regeln und Erwartungen einer Kommunikationsgemeinschaft, die an diese Rede bzw. Textsorte gestellt werden, verletzt. Aus meiner Sicht entspricht das Urteil, das in der „Lage“ gesprochen wurde, genau den Empfindungen und Empörungen, die geäußert wurden, nachdem diese Rede damals gehalten wurde. Inhaltlich ist das m. E. zwar nicht haltbar, aber die Wirkung des mündlichen Vortrags dominiert die Interpretation. Was insg. vielleicht auch zeigt, dass die Erwartungshaltungen an bestimmte Textsorten konstant und verfestigt sind.

Das angesprochene aktuelle Beispiel ist das vom Grünen-Parteitag, als eine Videobotschaft von Carolin Emcke gezeigt wurde. Paul Ziemiak hat ihr für eine Stelle, die sie vorgetragen hat, Antisemitismus vorgeworfen („geschichtsvergessene Entgleisung“). Der Vorwurf ist allerdings völlig unbegründet, da Emcke bei den entsprechenden Begriffen („Eliten“, „Juden und Kosmopoliten“) gestikulierend Anführungszeichen gezeigt hat. Die Funktion von Anführungszeichen ist u. a., eine Thematisierung von Sprache selbst vorzunehmen, also eine Metaperspektive einzunehmen (oder etwas als Zitat zu kennzeichnen usw.). Diese sog. metasprachlichen Markierungen finden sich auch bei Jenninger, zumindest im Schriftlichen. Im Mündlichen dagegen kaum bzw. sind nur schwer als solche erkennbar. Was also die Einstellung des Sprechers ist, wann ein Zitat kommt, wo er etwas sprachlich markiert, um sich davon zu distanzieren oder es zu befürworten, wird bei ihm nicht deutlich. Er vermischt verschiedene Sprachebenen und damit auch Einstellungen sowie Sprachhandlungen (Stichwörter hier: Deixis und Deontik).

tldr: Jenninger hat keine Gedenkrede gehalten, weil Funktion, Absicht und Wirkung auseinanderfallen und (implizite) Regeln der Textsorte nicht berücksichtigt werden.

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Und wenn die „Angehörigen“ die Anregung dazu geben, in der Rede zu erklären, wie es zu dem Mord kommen konnte?
Aus Wikipedia zu Philipp Jenninger:
„Dies erfolgte nach Jenningers Angaben auf Anregung des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Werner Nachmann, der ihm gegenüber darlegte, er höre von jungen Leuten in Deutschland immer wieder, sie bekämen keine Antwort auf die Frage, wie es eigentlich ‚zu Hitler gekommen‘ sei.“

Aber ich stimme zu: Auch wenn es diesen Vorschlag gab, hätte er es nicht tun sollen. So eine Erklärung gehört in ein Schulbuch, aber ich nicht in die Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht.

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Danke für den Link, habe mit die Rede angehört.

Ich denke, Jenninger spricht erkennbar in der Überzeugung, dass sich so etwas wie der Nationalsozialismus nie wiederholen dürfe.
Es ist weniger, dass man ihn für einen verkappten Nazi halten könnte (zumindest nicht, wenn man zuhört).

Allerdings ist die Rede unfassbar unempathisch. Sie gibt den Tätern sehr ausführlich das Wort, nutzt ihre Sprache, und beschreibt ausführlich und im graphischen Detail einen Massenmord. Und dann rühmt er direkt danach das „Wirtschaftswunder“. Das ist wirklich schwer zu ertragen.

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Ich liebe dieses Forum! Gerade in diesem Thread habe ich so viel Neues und andere Sichtweisen kennen gelernt, dass ich das Forum als kaum verzichtbare Ergänzung der Lage ansehe. Danke Allen, die dazu beitragen!

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