Kalte Progression abfedern, eine Entlastung?

Eine Sache ist mir bei der Lage schon häufig aufgefallen:

Die Abfederung der kalten Progression (KP) wird als Steuerentlastung dargestellt.

Das ist leider falsch, und es ist schade, dass dies sowohl von der allgemeinen deutschen Medienlandschaft als auch von euch immer wieder so verbreitet wird.

Ihr wisst natürlich, worum es bei der KP geht, und ihr habt es bestimmt auch schon im Podcast erklärt. Hier ist nur ein kurzes Zitat aus dem entsprechenden Wikipedia-Artikel zur Erklärung für andere: „Kalte Progression ist die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Eckwerte eines progressiven Steuertarifs nicht an die Preissteigerungsrate angepasst werden.“ (Quelle: Kalte Progression – Wikipedia)

Genau diese Definition beschreibt auch das Problem, das ich hier habe. Real erhöht sich die Steuerbelastung durch die KP. Wenn diese also ausgeglichen wird, wird die Gesamtbelastung real nicht reduziert, sondern konstant gehalten.

Nominal habt ihr recht; das ist jedoch wirtschaftlich für die Einzelpersonen irrelevant, da sich ihre wirtschaftliche Situation nicht verändert, sondern lediglich die Zahlen aufgrund der Inflation größer werden. Ihr habt natürlich auch recht, wenn man es als einzelne Schritte betrachtet. Wenn die KP nicht automatisch ausgeglichen wird, erhöht sich die Belastung immer zuerst, bevor sie dann durch einen Ausgleich auf das vorherige Niveau gesenkt wird. Auch das wäre unehrlich; viel eher hätten wir dann durch den Zwischenzeitraum mit erhöhtem Steuerniveau eine über einen längeren Zeitraum gesehene Gesamterhöhung, anstatt wie behauptet eine Senkung der Steuern.

Eine Folge dieses Fehlers ist eine falsche Bewertung des Bundeshaushalts. Anstatt dass dieses reduzierte verfügbare Geld mit anderen Ausgaben ausgespielt werden sollte, sollte man häufiger aufzeigen, wo der Staat schleichend die Steuern erhöht. Oft wird die KP nur bei der Einkommensteuer betrachtet, aber bei Freibeträgen gibt es ganz ähnliche Effekte. Dort gibt es jedoch deutlich seltener Ausgleiche.

Eine weitere Folge ist die Behauptung, dass es zu einer umgekehrten Umverteilung, also von Arm zu Reich, kommt. Wenn korrekt berichtet würde, dass dieser Ausgleich weder eine Erhöhung noch eine Senkung darstellt, dann würde auch nicht dieser fehlerhafte Schluss gezogen werden. So wird schnell ein Kulturkampfthema daraus, wie im letzten Jahr wieder zu sehen war.

Das Thema ist für viele Menschen schon obskur genug, obwohl es für die wirtschaftliche Situation von vielen Millionen Menschen von großer Relevanz ist. Daher sollte euch dieser Fehler, der das Thema noch weiter verwirrt, besser nicht unterlaufen.

Liebe Grüße,
Lars Heinendirk

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Was du sagst, ist auch nicht falsch, aber ebenfalls nur der Blick aufs halbe Ganze, denn die Inflationsrate spiegelt die Steigerung des Verbraucherpreisindex wieder. Insbesondere am oberen Ende der Einkommensskala wird aber immer weniger vom Einkommen verkonsumiert, und stattdessen mehr investiert. Gewinne aus Anlagevermögen liegen aber selbst bei konservativem Einsatz in der Regel immer noch deutlich über der Inflationsrate oder auch den üblichen Lohnsteigerungen. Das Resultat ist – und es dürfte extrem schwierig sein Untersuchungen zu finden, die das Gegenteil belegen – dass die Menschen am oberen Ende der Einkommensskala genau nicht diejenigen sind, die über die letzten Jahrzehnte einen Wohlstandsverlust hinzunehmen hatten, der irgendwie ausgeglichen werden müsste, sondern das sind diejenigen insbesondere im Niedriglohnbereich.

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Von der Inflation besonders betroffen sind Menschen mit niedrigem Einkommen, weil sie ihr gesamtes Einkommen für das tägliche Leben einsetzen müssen. Wer viel verdient, ist kaum betroffen. Die Inflation tut dann nicht so weh.
„Auf gar keinen Fall Steuererhöhung“ ist für Ideologie und wird der Situation nicht gerecht.
Wenn für wichtige Projekte und Zwecke genug Geld verfügbar wäre, was laut Lindner nicht der Fall ist, sehe ich nicht, warum dann der Ausgleich der kalten Progression-zumindest was Gutverdiener:innen betrifft- unverzichtbar ist.
Mehr arme Kinder in Deutschland als in 2/3 der anderen EU-Länder… ich schäme mich dafür.

Übrigens führen alle Entlastungen und Zuwendungen an ärmere Familien zu wirtschaftsförderndem Konsum, da diese ihr Geld ausgeben müssen, während Entlastungen oder Inflationsausgleich bei reicheren Menschen nur zu mehr Geld auf Konten führt.

Warum wurde die Mehrwertsteuer auf bestimmte Lebensmittel nicht wie in Spanien auf 0 gesetzt??

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Natürlich ist es eine Verteilung von arm zu reich.
Während die kalte Progression in der Sozialversicherung nicht ausgeglichen wird, wird sie bei den Steuern ausgeglichen.
Die Abgaben verschieben sich also zu Ungunsten Armen.

Ich fürchte ihr sprecht hier aneinander vorbei. @Lars geht es vor allem um den Fakt und die öffentliche Darstellung. Ihr denkt die Abschaffung der kalten Progression allerdings eher von den Folgen.

Es ist doch eindeutig so, dass die Kalte Progression eigentlich eine regelmäßige versteckte Steuererhöhung ist. Sie ist daher, nach meinem Dafürhalten, eigentlich nicht fair und angemessen. Wenn der Staat mehr Einnahmen braucht, sollte er Steuern einführen und nicht einen Mechanismus schaffen, der die inflationsausgleichende Lohnerhöhungen anknabbert und damit verbundene Reallohnverluste verursacht.

Die deutsche Wikipedia hat ein schönes GIF zum Effekt der Kalten Progression.

Das GIF zeigt, dass bei ausschließlichem jährlichem Inflationsausgleich ein Mitbürger nach 20 Jahren mit Kalter Progression 6,5 % Realeinkommen verloren hat.

Daher halte ich es für populistisch die Abschaffung der Kalten Progression als Entlastung der Einkommensstarken darzustellen. Stattdessen war es notwendig diese abzuschaffen um ein langfristig faires Steuersystem zu erreichen. Was man allerdings versäumt hat ist, den damit verbundenen Steuerausfall durch eine offene Steuererhöhung auszugleichen. Stellschrauben dafür gibt es etliche. Erbschaften, Grundsteuer, Steuern auf Kapitalgewinne. Notfalls kann man auch Arbeitseinkommen höher besteuern, aber da ist die Wissenschafft eher kritisch ist und empfiehlt den Fokus auf Vermögensbesteuerung.

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Selbst wenn sie es ist (was ich auch gar nicht bestreite), ist sie notwendig.
Die Inflation betrifft auch den Staat, er hat also mehr Kosten für die gleiche Leistung. Was ist daran verwerflich, das auszugleichen?
Und außerdem gibt es den Freibetrag, der jährlich erhöht wird, um genau das abzufedern. Hast du das in deiner Berechnung berücksichtigt?

Deine Grafik bitte ich dann auf die Sozialversicherung zu übertragen. Die hat keinen Freibetrag und ist sogar gestiegen (während die Steuern gesunken sind).

Nur tut er das mit der kalten Progression über Gebühr.

Angenommen ich habe eine Gehaltserhöhung von 3% bei exakt 3% Inflation. Sowohl ich, als auch der Staat haben damit 3% mehr Ausgaben.

Nun steige ich damit im Durchschnittssteuersatz um 0,5%. Der Staat versteuert mir nun 3% mehr Einkommen, wodurch er seine 3% Inflation ausgleicht, und legt nochmal 0,5% durch die kalte Progression oben drauf. Er nimmt also 3,5% Steuern ein und bekommt so sogar ein Realsteuerplus.

In meinen Augen ist das ein ziemlich intransparentes Steuersystem, Freibeträgen die das ausgleichen sollen zum Trotz. Besser wäre die Abschaffung von Freibeträgen und Kalter Progression.

Wenn der Staat Mehreinnahmen schultern muss, dann soll er dafür eine neue Steuer einführen oder bestehende transparent erhöhen. Solange er die dann verantwortungsvoll für Investitionen in die Zukunft investiert, hat da sicher niemand etwas dagegen. Steuererhöhungen haben aus meiner Sicht nur deshalb einen so schlechten Ruf, weil der Staat teilweise unverantwortlich mit Steuergeldern umgeht (Beispiele gerne auf Anfrage).

Und by the way: Ich habe es an anderer Stelle schon einmal erwähnt. Wir sollten nicht hohe Einkommen stärker belasten, denn da sind wir schon in der OECD-Spitze. Viel eher muss man an Vermögen oder unnötigen Konsum heran.

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Unnötiger Konsum ist ein wichtiger Wachstumstreiber

Ja das ist er. Aber da muss nicht so sein. An anderer Stelle haben wir auch schon darüber gesprochen, dass man auch mit nachhaltigen Konsum Wirtschaftswachstum haben kann, beispielsweise durch Mieten und Teilen statt Besitz.

Dazu gibt es bisher etliche Konzepte, die bloß noch teilweise ein Nischendasein fristen.

Anyway, die Diskussion darüber würde die Diskussion in die irre führen.

In Finnland ist der Spitzensatz mit 56,95 Prozent weltweit am höchsten, gefolgt von Dänemark (56,5 Prozent), Japan (55,97 Prozent), Österreich (55 Prozent) und Schweden (52,85 Prozent). Auch Deutschland zählt zu den Hochsteuerländern - hierzulande liegt der Einkommensteuersatz in der Spitze bei 45 Prozent und steht damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 37,77 Prozent.

Der Einkommensteuersatz liegt zwar bei 45% (und damit 10% niedriger als an der Spitze). Aber der Durchschnittssatz liegt ja wesentlich niedriger.

Hierzu leider passend war die sinngemäße Aussage in der Folge, dass „Reiche“ (ob man ein hohes Einkommen mit Reichtum gleichsetzen kann, sei mal dahingestellt…) von dem Kinderfreibetrag besonders profitieren würden. Das ist ein sehr merkwürdiges Framing, da der höhere Effekt dadurch entsteht, dass Gutverdienende einen höheren Grenzsteuersatz haben. Dies gilt natürlich für alle anderen Werbungskosten gleichermaßen. Das ist allerdings nur die logische Kehrseite eines progressiven Steuertarifs und kein Steuergeschenk für Gutverdienende.

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Der Kinderfreibetrag führt dazu, dass Familien mit höherem Einkommen mehr Geld für ihre Kinder bekommen.
Es gibt überhaupt gar keinen Grund, warum das so sein sollte, und erst recht kein Recht darauf. Kinder sind keine Werbungskosten.
Wenn überhaupt ein Unterschied bestehen dürfte, dann müsste es umgekehrt sein und ärmere Familien müssten mehr Kindergeld bekommen. Aber warum nicht gleich viel? Und nur für sehr arme Familien etwas mehr.

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Wenn die Einkommen auch mit der Inflationsrate steigen, werden die inflationsbedingten Mehrkosten des Staates nach Abschaffung der kalten Progression genau kompensiert.
(Mit kalter Progression wurden sie jedoch überkompensiert, weil die Steuerzahler auf gleiche Reallöhne wachsende Steuersätze zahlen mussten.)

Das tun sie doch oft nicht. Oder?

Hier [1] gibt’s eine ganz gute Übersicht. Im Schnitt sind die Löhne in den letzten 15 Jahren stärker gestiegen als die Inflationsrate. In den letzten drei Jahren sind sie dagegen weniger stark gestiegen. Der Reallohn dürfte etwa auf das Niveau von 2015 zurück gefallen sein.

[1]

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Wenn wir uns für den Fall, dass Einkommen mit der Inflationsrate steigen, einig sind, fände ich das gut.

In dem Fall, dass die die Menschen Realeinkommensverluste beim Bruttoeinkommen haben, sollten sie im Allgemeinen nicht auch noch einen höheren Anteil davon an Steuern zahlen, bei den Nettoeinkommen real also noch mehr verlieren, finde ich.

In Ausnahmefällen wie Pandemie oder Krieg mag es sein, dass es besonderen Finanzbedarf des Staates gibt, aber der wird ja auch durch Schulden/Sondervermögen „versorgt“, und das sollten Ausnahmen sein.

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In dem Fall schlägt die kalte Progression aber ebenso zu, nur dass die Betroffenen nicht einmal nominal so viel haben, wie vorher.

Ich bleibe dabei. Was ist eure Lösung für die Sozialversicherung? Oder geht es nur um die Probleme der Besserverdienenden?

Man könnte einfach die Beitragsbemessungsgrenzen nach derselben Logik steigen lassen wie die Eckwerte.