Job, Shopping, Schule

Liebe Lage!
Danke erst mal für eure Erörterungen und den guten Stil dabei! Ich bin immer wieder gerne dabei!
Bei dem Thema Schule muss man, wie ich finde, etwas genauer hinschauen. Die Karlsruher Studie, die ihr erwähnt habt, bezieht sich ja im wesentlichen auf ein Schul-Szenario ohne jegliche Hygienemaßnahmen, also, wie vor Corona gehabt. Es ist also völlig klar, dass die Berechnung ergibt, dass Schulschließungen sich deutlich positiv auf das Infektionsgeschehen auswirken: Denn Kinder und Jugendliche sind (wie wir wissen) auch infektiös und im Normalbetrieb gingen ja regelmäßig sämtliche Infekte einmal durch die ganze Klasse. Die Tatsache aber, dass ich im ganzen weiten Bekannten- und Freundeskreis nicht einmal seit dem Sommer die Rückmeldung erhalten habe, dass in der Klasse des jeweiligen Kindes (weiterführende Schule) ein Schüler/Schülerin mehrere andere Schüler/innen und Lehrer/innen angesteckt hat, kann doch logischerweise einzig und alleine an den seit Sommer durchgeführten Regeln (AGA und L) in den Schulen liegen. Ich habe zig mal gehört: „Die Klasse meines Kindes ist wegen eines positiven Coronafalles in Quarantäne; die Testung aller Beteiligter hat keine weitere Infektion ergeben“. Ja, die Jugendlichen sind auch infiziert und infektiös, aber die Maßnahmen im Klassenzimmer scheinen - sehr erfreulich, wenn auch durch z. B. tägliches, bis zu achtstündiges Maskentragen der SuS sowie der Lehrerinnen/Lehrer hart erarbeitet - die Infektweitergabe im Schulbetrieb im Schach zu halten. Dieser aktuelle Stand ist dann aber als Grundlage heranzuziehen, wenn es nun seit November wieder um die Frage geeigneter Eindämmungsmaßnahmen geht, da hilft die Karlsruher Studie vielleicht eher weniger weiter. Nur noch kurz dazu: Meine Kinder haben bisher ausnahmslos jedes Jahr 1 bis 2 Infekte vor Weihnachten gehabt; dieses Jahr null: dies kann doch nur die Folge der Wirksamkeit der Hygienemaßnahmen sein.

Ich finde es absolut richtig und alternativlos, nun die Schulen im Zuge des Gesamtlockdowns auch zu schließen, das ist völlig ok. Aber:
In der Konkurrenz der Maßnahme Schulschließung zu Shoppen und Job war es meiner Meinung nach - und anders als ich eure Position verstehe - nicht falsch, die Schulen nicht im November und vor Shops und Jobs zu schließen. Vielleicht macht ihr es euch zu leicht: Klar, die Schulen kann der Staat ganz leicht schließen, sind ja seine eigenen Einrichtungen. Aber damit ist es ja nicht automatisch die richtige, verhältnismäßige Maßnahme. Wenn es nicht um den Individualschutz geht, sondern um die pandemische Frage, besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Maßnahmen. Hier find ich, muss man beachten: 1) Bevor die Kinder einer Gesellschaft „einen Preis bezahlen“, um ein erforderliches Ziel zu erreichen, sollten meiner Meinung nach erst mal die Erwachsenen voranschreiten, das halte ich zumindest für total normal, weil es auch hier um Solidarität mit den Schwächeren, Schutzbedürftigeren, Wehrloseren geht, die, nebenbei, unsere Zukunft sind. 2) Die SuS haben schon einiges auf dem Buckel; nur zum Beispiel meine Kinder: Das jeweils 2. Halbjahr der 5. und 7. Klasse fand schlicht nicht statt; dies ist nicht übertrieben: von März bis zu den Sommerferien hatten beide jeweils genau 2 (zwei) Unterrichtstage an ihrer weiterführendne Schule, diese Auszeit ist ja nun schon einfach da. 3) Die Jugendlichen haben eine Entwicklungsaufgabe (dazu gehört z. B. die Abnabelung), die sie nur und ausschließlich erfüllen können, wenn sie ihre Peers zur Verfügung haben (siehe Remo Largo - Jugendjahre). Das vergangene Jahr ist aber einfach weg, es lässt sich entwicklungstechnisch nicht wiederholen. Die SuS sitzen seit längerem in ihrer außerschulischen Zeit ohne Vereine, AGs, Verabredungen zu mehreren oder sonstige Freizeit- und Entwicklungsmöglichkeiten da (wenn wir mal vom digitalen Overload absehen). Klar, das gilt auch für uns Erwachsene: Aber wir Erwachsenen haben keine Entwicklungsaufgabe mehr zu erfüllen; wir können alles nachholen. Folge daraus meiner Meinung nach: Die Schule war und ist das einzige, was die SuS zuletzt überhaupt noch hatten an wirklicher sozialer Interaktion (wenige genug). Ohne sie bleibt ja nichts. Jugendliche sind definitiv - was die psychische Gesundheit anbelangt - in einem vulnerablen Alter. Auch die praktische Kompensation der fehlenden Sportangbote ist für Kinder und Jugendliche viel schwieriger: Welcher Minderjährige geht schon auf eigene Faust regelmäßig im Stadtpark joggen oder vor den Toren der Stadt spazieren? 4) Die soziale Bildungsungerechtigkeit hattet ihr ja erwähnt, diese ist meiner Meinung nach aber ein sehr gewichtiger Punkt; jedenfalls gewichtiger als: Shoppen in überfüllten Malls und ungelüfteten Ladengeschäften und gewichtiger als so manche Zusammenkunft im außerschulischen beruflichen Kontext (aus meiner persönlichen Erfahrung hierzu: Kaffeerunden in Ministerien, Filmaufnahmen mit einem riesen Gewusel in öffentlichen Gebäuden, Handwerker dicht an dicht auf der gegnüberliegenden Baustelle im Dachgeschoss: all dies - anders als in den Schulen - ohne regelmäßiges Lüften nach dem Weckerklingeln).

Ich weiß, ihr wart von Anfang an immer sehr pro Schließung der Schulen, was natürlich auch in jedem Fall ein Punkt ist. Aber richtig ist eben auch: Als die Schulen im März (zunächst zu Recht) einmal geschlossen waren, tat sich erst mal nichts, und: Sowohl SuS als auch Eltern hatten schlicht das zutreffende Gefühl und die Angst, vergessen zu werden, was entsprechende Studien ergeben haben und auch meiner eigenen Erfahrung entspricht. Dies ist einfach auch zu beachten, wenn man jetzt um das beste Vorgehen gegen Corona ringt.

Allerbeste Grüße von Mathilde (die aufgrund Krebserkrankung und Immunsuppression ihren minderjährigen Kindern seit den Herbstferien nur noch mit FFP2-Maske gegenübertritt und trotzdem meint, dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft unter ganz besonderem Schutz stehen; es sind die Erwachsenen, die verantwortlich sind für die Minderjährigen und für ihre gesunde Entwicklung sowie Zukunftschancen, und die auch die Verantwortung für die bestmögliche Eindämmung der Pandemie tragen, d.h. Rettung von Leben durch geeignete Maßnahmen.)

Danke Mathilde,
das ist ein Thema, das für mein Empfinden in der allgemeinen Diskussion viel zu kurz kommt.
Es stehen nur tägliche Infektions- und Sterbezahlen im Mittelpunkt, was vorwiegend ein Problem der älteren Bevölkerungsgruppe ist. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind von Covid kaum bedroht, sind aber auf der anderen Seite massiv in ihrer Entwicklung eingeschränkt und tragen geduldig und vielleicht ein bisschen unwissend die größte Last: denn die Jugend kann man nicht mehr nachholen.
Ich bin selbst über 50 und kann ganz gut mit den Einschränkungen leben, kann Beruf und Sport weitermachen und soziale Kontakte in gewissen Maße pflegen, sodass es auch länger durchhaltbar ist.
Aber meine beiden Jungs stehen mit 14 Jahren in einer Lebensphase, in der schulische Bildung, sportliche Leistungen und soziale Entwicklung gerade eine maximale Dynamik entwickeln sollten.
Alle diese Bereiche liegen völlig am Boden.

1.Unterricht über Teams. Großes Lob an die Lehrer der Schule, sie tun was sie können. Aber der Unterricht würde gar nicht funktionieren, wenn wir Eltern nicht den ganzen Tag unterstützend da sein könnten, aber auch so kommt nicht wirklich viel dabei rum. Das letzte Jahr ist bildungstechnisch praktisch eine Nullnummer, vor allem für die Nicht-Abschlussklassen!
2. Sport ist nur zuhause möglich, das ist motivationstechnisch kaum durchzuhalten. Es fehlt der Teamgeist, Konkurrenz, Kräftemessen. In meiner Jugend war Sport im Sportverein das Allerwichtigste, die Gemeinschaft im Team hat mir am meisten Halt in schwierigen Situationen gegeben. Das wäre so wichtig für Jungs in diesem Alter, fällt aber seit einem Jahr völlig aus!
3. Soziale Kontakte: Kinder brauchen Kinder, Jugendliche brauchen Jugendliche für deren Entwicklung. Ich bin kein Psychologe, aber ich sehe mit großer Sorge, dass keinerlei soziale Kontakte gepflegt werden können und die Jungendlichen keine Möglichkeit haben, sich zu treffen, zu lernen, sozial miteinander umzugehen.
Die daraus resultierenden Schäden werden wir erst in einigen Jahren sehen, aber dann ist es vermutlich für Vieles zu spät.

Und jetzt kommt immer noch die Diskussion darüber, die Maßnahmen noch weiter zu verlängern. Wie lange denn? Ich sehe keine Perspektive, dass die nackten Zahlen in absehbarer Zeit auf Null gehen werden. Wollen wir unsere Kinder noch ein Jahr einsperren und ihnen ein weiteres Jahr Entwicklung abknappsen?
In unserer Schule gab es den ganzen Herbst keinen einzigen Corona-Fall, kein Fall beim Jugend-Fussballverein, obwohl der Landkreis Hotspot mit über 200 war, warum also zusperren? Gibt es denn wirklich keine besseren Konzepte als die Holzhammermethode aus dem Mittelalter?