Ist Anarchie das Gegenteil von Sicherheit?

Hallo, ich bin schon länger ein Hörer und mir ist schon öfter aufgefallen, dass ihr den Begriff Anarchie abwertend benutzt. Warum ist das so?
Zitat aus der aktuellen Folge: Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt. Das ist halt einfach so. Wir leben jetzt hier nicht irgendwie am Rande der Anarchie.

Den Eintrag der Bundeszentrale für politische Bildung zu Anarchie findet ihr hier: Anarchie/Anarchismus | bpb.de

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Ich verstehe die Frage nicht. Wir haben den Begriff weder positiv noch negativ verwendet, sondern einfach in dem Sinne, der auch in den Definitionen der Bundeszentrale auftaucht: nämlich ein Zustand, wo es keine effektive Herrschaft gibt, sondern jeder mehr oder weniger macht was er will.

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Ja, auch Anarchisten kämmen nachts heimlich ihr Haar.
Was Ulf und Philipp meinten, war wahrscheinlich „Anomie“, also die Abwesenheit von sozialen Regeln und Normen und die bezeichnet man umgangssprachlich als Anarchie. Letztere ist nur die Abwesenheit von Herrschaft aber nicht von Normen und Regeln. Allerdings hat keine Gesellschaft bisher je den utopischn anarchistischen Idealzustand verwirklicht.
Da kann man sich jetzt aber drüber streiten, ob das was zur Sache tut, denn ich denke jeder weiß,was gemeint war.

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Ehrlich gesagt meinten wir schon Anarchie, nicht Anomie, denn es ging an der Stelle ja um die Durchsetzung von Regeln, nicht um deren Abwesenheit.

Vielleicht verstehe ich dich auch falsch. Oder ich blicke zu theoretisch auf den Begriff.

Ich dachte immer im Anarchismus würden die Menschen ohne Herrschaft, staatliche Gewalt und Gesetze, aber trotzdem in Frieden und Sicherheit leben. Also in einer Ordnung ohne Herrschaft. Das macht den Anarchismus doch gerade so utopisch.

Ich will auch gar nicht darüber streiten ob so eine Utopie möglich ist und ob ein solcher Versuch rein praktisch in Chaos und Gewalt enden würde. Aber eine anarchistische Utopie wäre doch nur verwirklicht wenn die Menschen trotz dem Mangel an Herrschaft, in Sicherheit leben würden. Wenn Chaos und Gewalt herrschen würden, dann würden wir also nicht in Anarchie oder am Rande der Anarchie leben.

Das ist eben nur eines der möglichen Verständnisse des Begriffs.

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Offen gesagt wollte ich nur klugscheißen :wink:

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Für mich wars gut so, Anomie hätte ich erst mal googeln müssen.
Aber so hatte der Thread auch für meinen Wortschatz etwas Gutes.

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Anomie hätte ich auch nachschlagen müssen.
Aber mir zeigt es wie fehlerhaft manche Begriffe in der Gesellschaft verankert sind.

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Bis hin zur inversen Bedeutung. Siehe Evidenzbegriff

Der Hinweis war in dem Sinne schon sinnvoll, dass die Verwendung von Begrifflichkeiten im Alltagsverständnis schon etwas aussagt über Narrative aussagt. Entsprechend sollte man vielleicht nicht einfach die negative Konnotation des Anarchismusbegriffs im Alltagsverständnis über ihre Verwendung rechtfertigen, wenn der Begriff auch eine konkrete Bedeutung hat. Andrerseits verhalten sich einige Anarchos in der Coronapandemie auch gerade wie dieses klischee :sweat_smile:

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Das hängt halt davon ab, was für einen Anspruch an zumindest theoretischer Erfüllbarkeit du an eine Utopie stellst. Wenn man das Wort Anarchie jetzt nicht wie Ulf im umgangssprachlichen Sinne einsetzt, sondern als Bezeichnung für eine nach anarchistischen Prinzipien organisierte Gesellschaft, dann muss man sich zumindest entfernt vorstellen können, wie so etwas funktionieren soll. Wer erklärt, die Menschheit könnte einen Garten Eden oder ein Schlaraffenland erschaffen, in dem sich alle lieb haben und es keine Konflikte gibt, dem muss ich allerdings ein bisschen absprechen überhaupt politisch zu denken, und es mag zwar Anarchistinnen und Anarchisten geben, die von so etwas träumen, aber da ist dann eher der Weg das Ziel.

Die wenigsten Anarchistinnen oder Anarchisten werden wohl davon ausgehen, dass man eine Revolution machen und die Leute umerziehen könnte, und innerhalb weniger Jahre gäbe es dann keine Gewalt mehr. Vor allem stünde das ja diametral im Gegensatz zur Ideologie, denn was macht man im anarchistischen Sinne mit Leuten, die sich gar nicht umerziehen lassen wollen?

Es geht also eher darum, a) einzelne Teilbereiche der Gesellschaft anarchistisch, also hierarchiefrei und im gegenseitigen Einvernehmen zu organisieren, z.B. in Genossenschaften oder Kollektiven. Manche Subgesellschaften haben sogar innerhalb unserer ganzen Gesellschaft Tendenzen dahin, ob das nun der Kunst- oder der Wissenschaftsbetrieb ist.

Und b) natürlich als überflüssig angesehene staatliche Eingriffe abzuwehren, wo dann der Übergang zum Liberalismus irgendwann fließend wird.

Eine komplett anarchistisch organisierte Gesellschaft müsste aber anerkennen, dass Menschen nie komplett einer Meinung sein werden, und sei es auch bloß über die Art des Zusammenlebens. Wir sehen das ja jetzt schon in unseren Demokratien. Man kann eine Minderheit, die Demokratie vehement ablehnt, bis zu einer gewissen Größe einfach durch die Mehrheit im Interesse der Mehrheit unterdrücken, aber etliche unserer westlichen Demokratien stoßen da bereits an ihre Grenzen. Eine anarchistische Gesellschaft wäre sicherlich noch viel fragiler, was das angeht.

Eins wäre eine angenommene funktionierende anarchistische Gesellschaft jedenfalls sicher nicht: pazifistisch. „Freiheit von staatlicher Gewalt und Gesetzen“ bedeutet auch Freiheit vom Rechtsstaat. D.h. wenn man verhindern möchte, dass im Extremfall die eigenen Blumengärten, Manufakturen, Bibliotheken usw. nach kurzer Zeit von einem Despoten mit seiner Privatarmee gewaltsam erobert und das anarchistische Projekt beendet wird, erfordert es einer gewissen Grundwehrhaftigkeit der Gesellschaft als Ganzes, und im Grunde Milizen unter Waffen.

Auch würden Selbst- und Mobjustiz notwendigerweise an die Stelle von Polizei und Gerichtsbarkeit treten müssen, denn in irgendeiner Form müsste man doch mit den Leuten umgehen, die sich außerhalb der Gesellschaft stellen, den „friedlichen“ Konsens nicht akzeptieren und „ungerechte“ Handlungen gegenüber den „rechtschaffenen“ Gemeinschaftsmitgliedern durchführen.

Zufälligerweise hab ich gerade A country of ghosts von Margaret Killjoy gelesen. Der Roman spielt in einer fiktiven Welt in etwa auf dem technologischen Niveau des „Wilden Westens“ und beschreibt tatsächlich ein Land, in dem nach anarchistischen Prinzipien gelebt wird. Die Autorin ist selber Anarchistin und das Buch daher definitiv als (eine) anarchistische Utopie anzusehen, und kein „Chaos und Gewalt“-Bashing. Kann ich also interessierten Leuten definitiv empfehlen.

Und um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen. Meiner Ansicht nach wird der Begriff Anarchie weitläufig so verstanden, wie Ulf ihn verwendet. Deswegen würde ich sagen, dass er zwar denselben Wortstamm wie Anarchismus hat, aber eben nicht dasselbe bedeutet. Ich würde es daher auch umgekehrt nicht benutzen, um bspw. etwas zu sagen wie „Hron (das fiktive Land im o.g. Buch) ist eine Anarchie“, so wie Deutschland eine Demokratie ist, oder noch besser „in Hron herrscht Anarchie“ (Oxymoron), sondern „Hron ist eine anarchistisch organisierte Gesellschaft / ein anarchistisches Land“ o.ä.

Wunderbar auf den Punkt gebracht, genau darum ging es mir. Danke!

Ich sehe das genauso. Anarchie = Unsicherheit? Halte ich für eine steile These. Auch wurde der Begriff „Anarchie“ in früheren Ausgaben mehrfach gleichbedeutend mit „Chaos“ verwendet. Ich erinnere mich an eine Verwendung des Begriffs als es um das Thema Straßenverkehr ging. Hier hieß es „da herrscht Anarchie“. Anarchie und herrschen in einem Satz… Auch hat Anarchie nichts damit zu tun, dass es keine Regeln gäbe sondern vielmehr damit, wie diese Regeln aufgestellt werden (z.B. in einem Zusammenwirken der Personen auf Augenhöhe).

Natürlich finden sich im angegebenen Link der bpb und selbst auf duden.de Definitionen des Begriffs, nach denen die derartige Verwendung absolut in Ordnung ginge.

Trotzdem würde ich mir wünschen, wenn auf diese Art der Verwendung verzichtet würde. Denn möglicherweise wird hierdurch die politische Anschauung diskreditiert. Und das verdient sie meiner Meinung nach ganz und gar nicht.
Es ließen sich eine Vielzahl von alternativen Begriffen finden, welche nicht gleichzeitig ein politisches Konzept bezeichnen und daher letztendlich auch verständlicher wären.
Letztlich geht es mir nicht um eine formal korrekte Verwendung des Begriffs sondern um ein Mindestmaß an Respekt gegenüber eines politischen Konzepts, welches sich in der Vergangenheit leider viel zu wenig beweisen konnte.
Sollten latente Sympathien für das Thema Anarchismus bestehen, empfehle ich als Einstieg das Buch „Anarchie!“ von Horst Stowasser.

PS: Meine Detailkritik hier soll nicht bedeuten, dass ich die Lage nicht wertschätzen würde, ganz im Gegenteil. Vielen Dank für eure wichtige und gute Arbeit!

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