Israels neue Regierung

Am 29.12. wurde in Israel die wohl rechts-religiöseste Regierung bisher vereidigt und in unseren Medien habe ich kaum etwas davon gelesen. Die deutliche Ausweitung des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus in den besetzten palästinensischen Gebieten wird in dem ersten Satz des Koalitionsvertrages genannt, einige der Minister sind für ihre extremen Äußerungen gegenüber Arabern und anderen Minderheiten bekannt und übernehmen nun zentrale Ministerien und es wird öffentlich über ein Überstimmungsrecht der Knesset nachgedacht, sofern das höchste Gericht Gesetze als verfassungswidrig einstuft. Es droht eine Aushöhlung des Rechtsstaates und eine weitere Eskalation der sehr angespannten Lage im Nahen Osten. Eine übersichtliche Zusammenfassung dieser Thematik wäre sicherlich sehr bereichernd

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Die Lage ist leider in der Tat dramatisch.

Mehr noch, der erste Satz sagt ganz klar, dass das jüdische Volk einen Rechtsanspruch auf das gesamte Gebiet Israels hat, einschließlich der Westbank und des Gaza-Streifens. Damit wird deutlich, dass die neue israelische Regierung der Meinung ist, überall und jederzeit die Araber vertreiben und eigene Siedlungen errichten zu dürfen.

Dahinter verbirgt sich das Problem, dass Israel kein Verfassungsgericht hat, wie wir es in Deutschland oder den USA haben. Also ein Verfassungsgericht, welches selbst von der Verfassung geschützt ist und im Zweifel die Regierung stoppen kann. In Israel beruhen die Befugnisse des Verfassungsgerichts nur auf einfachem Recht, welches mit einer einfachen Mehrheit geändert werden kann (im Gegensatz zu Verfassungsrecht, welches in den meisten Staaten eine Zweidrittelmehrheit benötigt). Bisher war es ein Tabubruch, das Verfassungsgericht zu entmachten, aber nachdem Netanjahu bereits mit so vielen Dingen durchgekommen ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kommen würde.

Da sind sich leider fast alle Experten einig: Diese neue Regierung wird keinerlei Kompromissbereitschaft zeigen, sie wird die Zwei-Staaten-Lösung endgültig begraben wollen und versuchen, die Interessen der religiösen Rechten in Israel mit aller Gewalt durchzusetzen. Das wird zwangsläufig zu einer massiven Eskalation führen, unter der viele Palästinenser, aber auch Israelis, leiden werden. Mit dieser Regierung ist eine neue Intifada leider nahezu unausweichlich.

Dieses Wahlergebnis ist eine Tragödie für jeden, der auf eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts gehofft hat. Denn diese liegt nun weiter denn je in aller Ferne.

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Immerhin wurde das Verhalten prompt von der UN-Vollversammlung gerügt:

In der ersten Abstimmung am 12.12. haben 141 Länder (inklusive Deutschland) mit „Yes“ gegen das israelische Verhalten gestimmt und nur 7 Länder (Israel, USA, Kanada, Ungarn, 3 ozeanische Inselstaaten) mit „No“ dafür.

Netanyahu brüstet sich damit, dass er durch Gespräche das Stimmverhalten mehrerer Staaten beeinflussen konnte und somit Israel in einer zweiten Abstimmung am 30.12. „nur noch“ von einer Mehrheit von 87 versus 26 (dieses mal Deutschland auf der anderen Seite) gerügt wurde.

Vielleicht sollte mal jemand im deutschen Außenministerium nach den Gründen für diese kurzfristige 180°-Wende nachfragen.

Nachtrag: Am 12.12. wurde auch mit einer Mehrheit von 164 versus 2 (Israel, USA) die Resolution „Information from Non-Self-Governing Territories transmitted under Article 73 e of the Charter of the United Nations“ beschlossen. Salopp gesagt verstehe ich diese Resolution so, dass die UN Israel mit viel Nachdruck daran erinnert, dass es gewisse Pflichten gegenüber bzw. bezüglich der Palästinenser hat (ich lasse mich hier aber gerne korrigieren).

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Ich habe leider schon lange das Gefühl, dass Israel einen Sonderstatus hat. Da werden schon lange äußerst fragwürdige und auch kriegerische Provokationen begangen, die jeden Frieden unmöglich machen. Wirkliche Reaktionen gibt es darauf quasi nie. Ich erinnere mich auch noch an den Einsatz von Phosphorwaffen in und über Wohngebieten, wodurch Mütter mit Ihren Kindern lebendig verbrannt wurden.

https://www.hrw.org/de/news/2009/03/25/israel-einsatz-von-weissem-phosphor-eindeutig-kriegsverbrechen

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Natürlich hat Israel einen Sonderstatus, ich glaube, das wird niemand bezweifeln, nahezu egal, wo im politischen Spektrum er steht.

Die Tatsache, dass Israel der Zufluchtsort nach einem unvergleichbaren Genozid war, erzeugt eben diese Sonderrolle. Zum Einen aus Deutscher Sicht, weil wir eben diejenigen waren, die diesen Genozid verursacht haben und uns deshalb mit Vorwürfen gegenüber Israel zurückhalten (was absolut nachvollziehbar ist), zum anderen aus internationaler Sicht, weil Israel seit dem Tag seiner Gründung um seine Existenz kämpfen muss und deshalb vor ganz anderen Herausforderungen steht als z.B. Deutschland.

Was wir hier beobachten können, sind relativ normale Dinge. Eine Bevölkerung, die in einem Dauerkonflikt aufwächst, wird generell im Laufe der Zeit immer ein Stück weit extremer und ein Stück weit rücksichtsloser gegenüber dem Konfliktgegner. Das gilt für beide Seiten im Nahost-Konflikt. Wer eben schon als Kind mit ständigen Nachrichten von tödlichen Angriffen durch den Konfliktgegner aufwächst und schon im frühen Alter politisiert wird (was bei beiden Konfliktparteien der Fall ist) wird eben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Maßnahmen akzeptieren, die nicht am Konflikt beteiligte für unangemessen halten.

Ich will das Verhalten der israelischen Regierung und der israelischen Gesellschaft, die so eine Regierung mehrheitlich unterstützt, damit nicht verteidigen, ich will nur erklären, dass es unter den Umständen, die dort seit Jahrzehnten herrschen, zu erwarten ist, dass extreme Positionen salonfähig werden. Leider.

Und dass der Rest der Welt ein stärkeres Verständnis dafür hat, wenn Israel solche fragwürdigen Maßnahmen wie die „Operation Gegossenes Blei“ ergreift, als wenn es ein Staat tut, der ein reiner Aggressor ist, wie z.B. Russland. Russland versucht ja die gleiche Rechtfertigungsstrategie wie Israel, indem Putin so tut, als wäre der Ukraine-Krieg nötig, um Russland zu retten. Der Unterschied ist nur: Israel kämpft tatsächlich um sein Überleben. Russland bildet sich das nur ein.

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Mich beunruhigt insbesondere der „Sonderstatus“, dass israelische Belange de-facto außerhalb des Völkerrechts und der „globalen Demokratie“ stehen. Israelisches Verhalten wird (gefühlt?) seit jeher von einer überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung via UN-Resolutionen verurteilt (egal ob man die Stimmen von UN-Mitgliedsstaaten oder deren repräsentierte Einwohnerzahl als Maß nimmt). Solange die USA einen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, werden diese Resolutionen aber alle wirkungslos bleiben. Damit untergraben Israel bzw. die USA systematisch und seit Jahrzehnten die Legitimität der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.

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Und genau diesen Status muss man hinterfragen. Es dürfen doch keine Brüche des Völkerrechts völlig in Ordnung sein, weil den Juden unglaubliches Leid zugefügt wurde. So etwas darf doch nicht eigene Taten legitimieren. Das halte ich für ein äußerst fragwürdiges Verständnis von Völkerrecht und sehr gefährlich.

Gegen Russland, das in 2022 einen anderen Staat mit einem Vernichtungskrieg überzogen hat, wurden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im selben Jahr 6 Resolutionen angenommen. Gegen Menschenrechtsparadiese wie den Iran, Syrien, Nordkorea und Myanmar gab es 2022 jeweils eine Resolution der Generalversammlung. Rechnet man Israel heraus, gab es letztes Jahr 13 Resolutionen gegen alle anderen Staaten gemeinsam. Gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten gab es 15. Seit 2015 richten sich 140 von 208 aller von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Resolutionen gegen den Jüdischen Staat.

Die Opposition und die Überzeugungsversuche gegen die Beauftragung des IGH sind kein Projekt Netanjahus, sondern wurden zuvor auch vehement von Premierminister Yair Lapid (Jesch Atid) und Staatspräsident Jizchak Herzog (Awoda) organisiert. Eine Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen und ein Mitglied einer Untersuchungskommission der UN, die jeweils mit Untersuchungen zu Israels Verhalten betraut sind, mussten sich kürzlich für unbestreitbar antisemitische Kommentare und die Unterstützung von Terrororganisationen entschuldigen.

In der Abstimmung des entsprechenden UN-Panels zur Überweisung der Resolution an die Generalversammlung hat Deutschland mit „No“ dagegen gestimmt. Anders als ihr Vorgänger Heiko Maas beteiligt sich Annalena Baerbock nicht an der Dämonisierungskampagne der Vereinten Nationen gegen Israel.

Bottom line: Die neue rechts-rechtsradikale Regierung in Israel ist furchtbar und verabscheuungswürdig. Es ist aber keine Rechtfertigung für das Gebaren der entsprechenden UN Gremien.

Das liegt aber weniger an den USA oder Israel, sondern eher an der Zusammensetzung & dem Veto-Recht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats.

Russland und China machen dasselbe, also die „systematische Untergrabung der Legitimität der Vereinten Nationen und des Völkerrechts“.

Siehe dazu insbesondere das Veto von Russland zur Resolution gegen den Einmarsch in der Ukraine.

Das alles wäre schon fast ein eigenes Thema wert :smile:

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Der Westen (inklusive Australien etc.) umfasst aktuell grob 1/8 der Weltbevölkerung – Tendenz sinkend. In einer globalen Demokratie wären bzw. sind die westlichen Vorstellungen also oft eine Minderheitenmeinung. Aktuell und wohl die nächsten 1-2 Jahrzehnte hat der Westen noch eine undemokratische Machtfülle. Der Westen und insbesondere die USA sollte sich überlegen, wofür er dieses geopolitische Kapital nutzen will, bevor die Gestaltungsmacht mehrheitlich bei anderen Akteuren liegt. Inbesondere sollte der Westen sich überlegen, ob er für ein universell gültiges Völkerrecht ohne „Sonderstatus“ werben möchte. Dann muss er sich aber auch selbst daran halten und zwar weitestgehend unabhängig davon, ob China oder Russland sich daran halten oder nicht.

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Ich stimme dir zu, dass Israel von der UN besonders stark beobachtet wird und hier auch besonders schnell Resolutionen aufkommen.

Dennoch halte ich den Vergleich mit dem Iran oder Nordkorea immer für fürchterlichen Whataboutism. Wir wissen alle, dass der Iran und Nordkorea grausame Regime sind, gegen beide Länder sind erhebliche internationale Sanktionen in Kraft, welche die Wirtschaft dieser Länder völlig zerstört haben, da beide Länder weitestgehend vom Außenhandel ausgeschlossen sind.

Der Iran und Nordkorea sind keine Demokratien. Israel hingegen wird gerade deshalb so stark kritisiert, weil es die einzige Demokratie im Nahen Osten sein möchte. Israel wird deshalb am Vergleichsmaßstab eines demokratischen Rechtstaates gemessen, während der Maßstab für den Iran und Nordkorea ein anderer ist. Eben auch weil man hofft, Israel auf diesem Weg erreichen zu können.

Ich sage nicht, dass die vielen Resolutionen der UN gegen Israel deshalb sinnvoll wären, weil ich auch das Risiko sehe, dass Israel dadurch von der UN entfremdet wird.

Dennoch haben auch @Tris und @InDubioProReo einfach Recht, wenn sie anmerken, dass Israel seit Jahrzehnten konsequent anerkanntes Völkerrecht bricht. Und das führt eben zu all den UN-Resolutionen. Es darf in der Tat nicht sein, dass sich gerade westlich geprägte Demokratien offensichtlich gegen das Völkerrecht stellen, wie Israel es im Hinblick auf den Siedlungsbau tut oder es die USA im Hinblick auf illegale Angriffskriege oder gar Foltergefängnisse wie Guantanamo getan haben. Die Verteidigung solcher Gräueltaten durch westliche Länder darf nicht sein: „Aber der Iran und Nordkorea sind noch schlimmer!“, sondern es macht schon Sinn, dass wir bei unseren westlich geprägten Verbündeten noch aufmerksamer sind als bei den Schmuddelkindern Iran oder Nordkorea, wo man einfach gar nichts anderes erwarten kann (und man folglich mit massiven Sanktionen reagiert, wovon Israel und die USA verschont bleiben, nahezu egal, was sie tun…)

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