Independent State legislature doctrine

Hallo,

im „Das Internet“TM geht gerade (Anfang Juli 22) eine Geschichte rum, bei der es um das oberste Gericht in den USA geht und wie es die nächste Wahl 2024 kippen könnte.

Die Stichworte sind

  • Independent State legislature doctrine
  • Moore vs. Harper

Ich versteh es nicht ganz, aber im Kern geht es wohl darum, dass die einzelnen Bundesstaaten auf das Ergebnis der Präsidentschaftswahl pfeifen könnten und einfach die Wahlmänner angeben, die sie möchten.

Ihr habt das Thema Recht bzw. Rechtsprechungin den USA ja recht häufig im Programm; evtl. wär das was?

Ob die Wahlmänner verpflichtet sind, dem Wählerwillen entsprechend abzustimmen, hängt absurderweise vom Recht des Bundesstaates ab, der sie entsendet. In 24 Bundesstaaten sind die Wahlmänner juristisch nicht verpflichtet, den Wahlsieger auch zu wählen, sondern theoretisch frei in ihrer Wahl.

Die meisten sogenannten „faithless electors“, wie die Wahlleute genannt werden, die entgegen dem Wahlergebnis abstimmen, gab es übrigens 2016 - und zwar gegen Trump. Es hatten sich 7 der 306 republikanischen Wahlmänner entschieden, gegen den Wählerwillen und damit gegen Trump zu stimmen. Um Trumps Wahl zu verhindern hätten es allerdings 37 sein müssen, also war es auch hier weit davon entfernt, einen Unterschied zu machen.

Einzelne „faithless electors“ gab es übrigens immer mal wieder, aber es hat historisch bisher nie einen Unterschied im Ergebnis der Präsidentschaftswahl zur Folge gehabt, allerdings wurde 1796 dadurch ein „falscher“ Vizepräsident gewählt.

Das ganze System ist halt absurd überaltert und gehört modernisiert. Theoretisch ist Wahlmanipulation bei den Wahlmännern absolut möglich und würde nicht mal zur Annullierung der Wahl führen, selbst wenn es absolut offensichtlich wäre. Mit unserem Demokratieverständnis ist das - aus gutem Grund - absolut nicht vereinbar. Aber die USA sind halt auch im Demokratieindex weiterhin nur eine „unvollständige Demokratie“, genau wegen solcher Dinge…

Hierbei geht es um’s Gerrymandering, daher um das Zuschneiden der Wahlkreise mit dem Ziel, dass die eigene Partei einen Vorteil hat. Also wenn z.B. in einem Wahlkreis ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Republikanern und Demokraten ansteht würde man z.B. eine Großstadt (i.d.R. eher demokratisch), die an einen klar demokratisch dominierten Wahlkreis grenzt, zu diesem Wahlkreis abstoßen (weil die Reps den eh nicht gewinnen könnten) und dafür vielleicht ein paar ländliche Gebiete dieses Wahlkreises in den eigenen Wahlkreis aufnehmen. Und zack, aus einem klar demokratischen und einem umkämpften Wahlkreis wird plötzlich ein Demokratischer und ein klar Republikanischer Wahlkreis.

Dabei bilden sich teilweise echt aberwitzige Wahlkreise, die sich durch einen halben Bundesstaat schlängeln. Der oberste Gerichtshof von North Carolina hat das dort recht extrem betriebene Gerrymandering für rechtswidrig erklärt, der Fall liegt nun dem Supreme Court vor. Und da vor allem die Republikaner von Gerrymandering profitieren (die Dems betreiben es auch, aber nicht so extrem…) wäre es durchaus möglich, dass auch hier ein „parteiisches“ Urteil erfolgt. Denn den Versuch, den Anschein zu wahren, noch irgendwie „neutral“ zu sein, hat der Supreme Court mit den Urteilen der letzten Woche scheinbar aufgegeben.

Kurzum:
Es geht um dutzende unabhängige Baustellen der amerikanischen Demokratie:

  • Ein uraltes, dysfunktionales Wahlmänner-System
  • Eine klar missbräuchliche, aber weithin akzeptierte Ausgestaltung des Wahlrechts
  • Ein politisches Verfassungsgericht
  • und natürlich die allgemeine Problematik, dass mit allen Mitteln versucht wird, bestimmten Bevölkerungsgruppen, die nicht die Reps wählen, das Wählen so schwer wie möglich zu machen.

In einer gesunden Demokratie würde das Verfassungsgericht dem allem einen Riegel vorschieben. In den USA hingegen ist die einzige Hoffnung, dass das Volk irgendwann auf die Barrikaden geht, wenn es die Politik (zu der auch das Verfassungsgericht gehört…) zu weit treibt…

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Ah, ok. Danke, dann hatte ich zwei Themen vermischt, die nur zusammenhängen aber nicht direkt das Gleiche sind.

Na das kann ja alles noch spannend werden…

Puh. Haben wir am 6. Januar ja gesehen wie das dann aussehen kann.

Danke für die Erläuterung.

Punkt 2 und 4 überschneiden sich doch stark, oder?
Zu Punkt 3: ein politisches Verfassungsgericht haben wir in Deutschland doch auch. Wir haben nur das Glück, dass unsere politische Landschaft nicht so stark polarisiert ist, dass es sich negativ auf die Besetzung der Richter*innenstellen auswirken könnte.

Jein. 2018 wurde die letzte Studie dazu gemacht. Dabei hat die Uni Mannheim Entscheidungen des BVerfG untersucht, die nicht einstimmig waren, bei denen es also Abweichler gab, und wollte wissen, ob diese Abweichungen auf politische Nähe zu einer Partei zurückgingen. Das Ergebnis war, dass zwar schon eine Parteinähe bei den Abweichungen beobachtet werden könne, diese aber verhältnismäßig gering und im Bereich des zu erwartenden und demokratisch-rechtstaatlich klar zulässigen ist.

Ganz verhindern lässt sich das halt nie - ein konservativer eingestellter Richter wird halt immer konservativer entscheiden als ein progressiv eingestellter Richter. Egal, ob die Richter ein Parteibuch haben oder von einer Partei nominiert wurden. Und selbstverständlich nominiert die CDU eher konservative Richter, während die SPD eher progressive Richter nominiert. Und irgendwer muss halt die höchsten Richterstellen nominieren, ob die politische Einflussnahme geringer wäre, wenn die Nominierung nicht durch Politiker, sondern durch hohe Staatsbeamte geschehen würde, darf man getrost bezweifeln (letztere sind ebenso politiknah, aber weit weniger demokratisch kontrolliert…). Und eine Direktwahl wäre in Deutschland auch merkwürdig und würde vermutlich am mangelnden Detail-Interesse scheitern, sodass die Richter vermutlich auch mit „Parteibuch“ antreten und entsprechend nach Parteizugehörigkeit gewählt werden würden (witzigerweise wäre das in den USA geradezu zu erwarten, weil dort ja auch Sheriffs und örtliche Richter gewählt werden…).

Der Unterschied zu den USA ist halt:

Bei unserem BVerfG sind Sondervoten eher die Ausnahme als die Regel. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2000 ergab hier, dass im Zeitraum von 1970 bis 1999 in nur 108 von 1.714 Entscheidungen überhaupt ein Sondervotum abgegeben wurden. Also in knapp 6,3% der Entscheidungen. Wenn es um Fragen ging, bei denen die Partei eine Rolle spielen könnte, sind die Richter am BVerfG ganz besonders vorsichtig, bloß nicht den Anschein einer politischen Beeinflussung auftreten zu lassen. Daher gewinnt die AfD auch mal einen Prozess und es ergehen häufig Entscheidungen, die sowohl SPD als auch CDU definitiv nicht gefallen (z.B. Überhangmandate…)

Der Supreme Court ist wesentlich zerstrittener. Dort ergeht nicht mal die Hälfte der Fälle einstimmig (und das sind halt Fälle ohne parteipolitische Bezüge…), desto stärkere parteipolitische Bezüge es gibt, desto deutlicher wird, dass die Richter ihre politische Ausrichtung maßgeblich in das Urteil einfließen lassen. Das wäre in Deutschland ein absolutes No-Go.

Punkt 2 meint vor allem das Gerrymandering, Punkt 4 meint vor allem Probleme wie z.B. die Anzahl und Entfernung zu Wahllokalen (dh. in einem armen, schwarzen Viertel müssen die Leute deutlich länger zur Wahl anreisen und deutlich länger warten als in einem weißen Vorstadtviertel) oder die Erlaubnis bzw. das Verbot der Briefwahl, zudem das Problem, dass Wähler sich überhaupt erst mal registrieren lassen müssen und bestimmte Menschen von der Registration ausgeschlossen sind (z.B. Ex-Häftlinge).

In Deutschland wäre es z.B. völlig undenkbar, Häftlingen das aktive Wahlrecht abzuerkennen. Häftlinge sind wie keine andere Gruppe der Staatsgewalt ausgeliefert, sie leben halt in einer totalen Institution. Gerade denen das aktive Wahlrecht abzuerkennen wäre absurd. In nahezu allen US-Bundesstaaten dürfen Häftlinge hingegen nicht wählen, mehr noch, in Iowa, Kentucky und Virginia, also drei erzkonservativen Staaten, dürfen auch Ex-Häftling nicht wählen.

Das führt dazu, dass z.B. in Florida 10,43% der theoretisch wahlberechtigten Bevölkerung von der Wahl ausgeschlossen ist, in Mississippi 9,63%, in Kentucky 9,14%, Tennessee 8,26%, Virginia 7,81%, Alabama 7,62%… dagegen liegt die Quote in den demokratisch dominierten Staaten i.d.R. unter 1%.

Florida wäre vermutlich wesentlich weniger „Swing State“, wenn man nicht ein Zehntel der Bevölkerung von der Wahl ausschließen würde. Wohlbemerkt ist dieses Zehntel i.d.R. sozial stark benachteiligt und würde mehrheitlich halt nicht Republikaner wählen.

Man kann natürlich die Punkte 2 und 4 zusammenlegen - oder aus Punkt 4 noch ein halbes Dutzend eigene Punkte machen…

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Danke für die Erläuterungen, insbesondere für die Zahlen.
Ernüchternd finde ich, dass es in den USA keine Aussicht auf Besserung zu geben scheint, da der Einfluss von Rechtsradikalen/„Trumpisten“ immer weiter steigt. Die Durchsetzung des Supreme Courts mit entsprechenden Ideologen hat Trump schon geschafft.

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So wie ich es verstanden habe wären die Implikationen der independent state legislature doctrine extrem weitreichend, da es der Legislative der Staaten volle Kontrolle über die Wahlen gibt. Das heißt niemand darf denen reinreden, weder der State Supreme Court, noch der Gouvernour. Das würde bedeuten, selbst wenn in der Verfassung des Staates festgelegt sei, dass die Wahlmänner proportional aufgeteilt werden sollen, könnte die Legislative sich einfach dagegen entscheiden. Und sowie es ausschaut, wird der Supreme Court sich für die independent state legislature doctrine entscheiden. Ich bin kein Rechtsexperte, also könnt ihr mich gerne korrigieren, wenn ich das falsch interpretiere.

Interessant dazu auch dieser Twitter Thread :

Der Supreme Court wird den Fall #MoorevHarper anhören. Darin geht es letztlich um die Frage ob die rechte „Independent State legislature doctrine“ sich aus der Verfassung ableitet. Wenn das Gericht dem zustimmt, ist das das Ende der Demokratie in den USA.

— Annika Brockschmidt (@ardenthistorian) July 3, 2022

Und wie es aktuell aussieht sind die Republikaner was die Kontrolle über die legislative angeht so weit im Vorteil, dass die 2024 locker für sich entscheiden könnten, wenn sie denn wollten (einfach von Wahlbetrug reden): State Legislature Interactive Map: State House - 270toWin

Außerdem machen die Republikaner durch das Verbot von Abtreibung etc. es immer unattraktiver für Progressive in ihren Staaten zu leben, das heißt im Worst Case nur Konservative bleiben dort und man könnte am Ende wirklich dabei landen, dass die USA für längere Zeit eine Einparteien „Demokratie“ wird.

Irgendwie kann ich nicht glauben, dass der Supreme Court so blöd ist, eine klare Zustimmung zur „independent state legislature doctrine“ zu geben, denn ganz ehrlich: Das würde dazu führen, dass die USA als solche in ihrem Fortbestand bedroht wären…

…was auch hierdurch deutlich wird.

Desto mehr Macht die einzelnen Bundesstaaten bekommen, desto mehr wird sich tatsächlich die Bevölkerung aufspalten. Die Differenzen zwischen den Bundesstaaten werden durch Binnenmigration massiv steigen und wenn die konservativen Staaten dann mittels „independent state legislature doctrine“ die Wahlbedingungen auf eine Weise manipulieren, dass die Konservativen dadurch die Wahlen auf Bundesebene gewinnen, führt das realistisch betrachtet dazu, dass die USA entlang der Parteigrenzen zusammenbrechen würden, weil die demokratischen Staaten das einfach nicht mitmachen würden.

Auch dem Supreme Court muss daran gelegen sein, dass das Land halbwegs „einig“ ist - in der aktuellen Zeit mehr als die letzten 100 Jahre. Das Land ist einmal an einer zentralen Frage („Sklaverei“) zerbrochen und in einen der blutigsten Bürgerkriege der westlichen Welt gerutscht, um das zu „reparieren“, dem Supreme Court sollte wirklich daran gelegen sein, einen solchen zweiten Bruch zu vermeiden.

Der Zusammenhang zum amerikanischen Bürgerkrieg wird halt daran deutlich, dass auch dort der Auslöser die unterschiedliche Handhabung einer wesentlichen Frage in den verschiedenen Bundesstaaten war, wobei auch dort die konservativen Bundesstaaten eine gänzlich andere Meinung vertraten als die progressiven Bundesstaaten.

Kurzum:
Ich hoffe wirklich, dass der Supreme Court trotz aller Politisierung vernünftig genug ist, zu realisieren, welche Konsequenzen er mit einem Urteil heraufbeschwört. Damit ein Bundesstaat wie die USA (oder auch Deutschland) funktioniert darf es in den einzelnen Ländern halt keine zu elementaren Unterschiede geben. Die USA sind in diesem Hinblick seit jeher ein Pulverfass (Todesstrafe, Waffenrecht, Cannabis-Legalisierung, Abtreibung) und der Supreme Court sollte da nun kein Streichholz drauf werfen…

Aus dem Twitter Thread :

SCOTUS hat diese irreführende, simplistische und brandgefährliche seit Jahrzehnten abgelehnt. Vier der Rechten Richter der aktuellen Besetzung haben in der Vergangenheit bereits Zustimmung für Varianten der Doktrin geäußert: Gorsuch, Alito, Thomas, Kavanaugh.

— Annika Brockschmidt (@ardenthistorian) July 3, 2022

Heißt: das (für den Moment) Fortbestehen der US Demokratie läge in den Händen von Amy Coney Barrett. Wer hier glaubt „so weit werden sie schon nicht gehen“ verschließt die Augen fest vor der Realität. Es ist die Vorbereitung des „legalen“ Coups 2024.

— Annika Brockschmidt (@ardenthistorian) July 3, 2022

Also es scheint definitiv nicht ausgeschlossen zu sein, dass der Supreme Court für die independent state legislature doctrine stimmt.

Weder das, noch würde ich ein Übergreifen von solchen Trends auf Europa und im speziellen Deutschland ausschliessen. Siehe Merz treffen mit einem der Super Konservativen in USA: Lindsay Graham.

Kühnert hat es spitz formuliert, aber gar nicht so unrecht

Graham blieb auch während Donald Trumps Präsidentschaft zunächst skeptisch bis kritisch gegenüber dem Präsidenten, wandelte sich aber im Lauf des Jahres 2018 zu einem der treuesten Unterstützer des Präsidenten im Kongress. Insbesondere Grahams aggressive Rolle bei der Senatsbestätigung von Trumps Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh im Oktober 2018 sorgte dafür, dass Graham zu einem „Rockstar“ der Konservativen wurde, wie es die New York Times nannte, und im Wahlkampf zur Halbzeitwahl von Trumps Amtszeit gegen zentristische Senatoren der Demokraten auftrat und polarisierte, die bisher als wichtige Verbündete Grahams bei seinen Versuchen überparteilicher Kompromissfindung gegolten hatten. Graham erklärte sich, nachdem Trump im Wahlkampf die Abschaffung des Geburtsortprinzips bei der Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten in Aussicht gestellt hatte, bereit, einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Senat einzubringen.[18]

Zerbrochen ist aber ein interessant gewählter Begriff - Irgendwie wie das ‚Spaltung der Gesellschaft‘ was wir hier im Forum immer wieder mal bekommen. Ein Teil von Amerika wollte nicht aufhören Menschen zuhause zu entführen und sie für Gewinne zu Tode zu quälen hört sich nicht so nach 2 gleichwertigen Meinungen an, die dann unglücklicherweise auf dem Schlachtfeld geklärt werden mussten. Der Supreme court will halt die ‚white supremacy‘ sicher stellen Dazu ist er in seiner jetzigen Besetzung an den Start gegangen und das wird er auch versuchen. Das ist auch der große Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten in den USA: Die Reps sind für die 14 words viel offener als die Dems.