Impfquoten & Neuerkrankungen

Hallo Ulf, hallo Philip,

ich bin begeisterter - und im besten Sinn kritischer - Hörer der „Lage der Nation“, von der ersten Folge an. Schon oft habt Ihr mir gute Denkanstöße gegeben, und - Respekt! - mitunter eigene Fehleinschätzungen korrigiert. Ihr bleibt auch an schwierigen Themen dran, und greift vieles auf, was bei anderen unter den Tisch fällt.
Vielen Dank für Eure „Lage der Nation“!

[…]

Ihr geht davon aus, dass die Häufigkeit von Neuerkrankungen wesentlich davon abhängt, wie viele Menschen geimpft sind. In der letzten Folge (LdN262 vom 15. Oktober 2021) habt Ihr nochmals betont, dass erst bei einer „Durchimpfung“ der Gesellschaft (oberhalb von 80%) davon ausgegangen werden könne, dass die Pandemie gebannt sei und die Infektionszahlen wieder langfristig zurückgingen.
Genau diese Annahme wird aber in einer aktuellen wissenschaftlichen Studie (veröffentlicht am 30. September, mit einem Datensatz vom 3. September 2021) in Frage gestellt: „Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States“. Die Studie erwähnt eingangs explizit Deutschland („Vaccines currently are the primary mitigation strategy to combat COVID-19“), wenn es darum geht, deutlich zu machen, was in der Studie widerlegt werden soll:
„At the country-level, there appears to be no discernable relationship between percentage of population fully vaccinated and new COVID-19 cases in the last 7 days. In fact, the trend line suggests a marginally positive association such that countries with higher percentage of population fully vaccinated have higher COVID-19 cases per 1 million people.“ […] „We included 68 countries that met the following criteria: had second dose vaccine data available; had COVID-19 case data available; had population data available; and the last update of data was within 3 days prior to or on September 3, 2021.“

In der Studie wird also dargelegt, dass ein höherer Prozentsatz der Personen einer Gesellschaft, die geimpft sind, keineswegs darauf schließen lässt, dass die Häufigkeit von Neuinfektionen zurückgeht - sondern dass das Gegenteil der Fall ist: Ein höherer Prozentsatz der Personen einer Gesellschaft, die geimpft sind, geht offenbar einher mit einem (marginalen) Anstieg der Häufigkeit von Neuinfektionen.

Die Studie hat ein entsprechendes Peer-Review erhalten und ist im renommierten „European Journal of Epidemiology“ des (wiss.) Springer-Verlags erschienen:
Subramanian, S.V., Kumar, A. Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States. Eur J Epidemiol (2021). Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States | SpringerLink
Link zum PDF: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s10654-021-00808-7.pdf (offen zugänglich)

Solltet Ihr die dargelegte Argumentation nachvollziehen können, würde es mich freuen, wenn Ihr diese (Eure dann aktualisierte) Einschätzung der COVID-19-Lage auch im Podcast mit den anderen Hörern teilen würdet.

Zu meiner Person: Ich habe keinerlei Verbindung zu den Autoren/Institutionen der Studie. Ich bin selbst zwei Mal geimpft. Argumente für oder gegen eine Impfung (seien sie nun virologisch, epidemiologisch oder psychologisch) finden bei mir nur Widerhall, wenn sie empirisch gut abgefedert sind (und auch die anderen Kriterien guter Wissenschaft - Ihr kennt sie und seid Ihnen auch verpflichtet - erfüllt sind). Insofern (und aus ähnlichen Gründen, wie Ihr sie in der Lage der Nation angeführt habt) gab es - und gibt es weiterhin - viele Gründe, die nach meiner Analyse für eine Impfung sprechen. […]

Ich habe ein paar persönliche Angriffe und impfskeptische Schwurbeleien gelöscht. In der Sache würde mich aber die Einschätzung von Menschen interessieren, die sich mit dem Thema wissenschaftlich beschäftigen.

Mir fällt spontan auf, dass eine höhere Zahl von Erkrankungen in Ländern, in denen die Impfquote hoch ist, natürlich auch auf einer umgekehrten Kausalität beruhen kann: Wenn die Gefahr besonders groß ist, ist auch der Anreiz größer, sich impfen zu lassen. Absurd wäre hingegen die Annahme, dass mehr Impfungen bei ansonsten unveränderten Rahmenbedingungen zu mehr (!) Infektionen führen könnten: Dass das Gegenteil der Fall ist haben die Zulassungstudien zu den verschiedenen Impfstoffen ja eindrucksvoll bewiesen.

Auch die Studie schlägt übrigens nicht etwa vor, auf Impfungen zu verzichten, sondern kritisiert eine (angebliche) isolierte Impfstrategie („sole reliance“), d.h. ohne daneben noch andere Maßnahmen zu treffen, um die Pandemie zu bekämpfen. Auch wir haben nie gefordert, sämtliche anderen Präventionsmaßnahmen außer Impfungen abzuschaffen und alleine auf Impfungen zu bauen.

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Klar ist da so. Es wurde gezeigt, dass Geimpfte weniger infektiös sind und sich weniger oft infizieren. Personen wie z.b. Martin Moder auf Twitter liefern auch die Quellen zu den Studien, die das zeigen.

Dass die Inzidenz steigt, wenn besonders viele Menschen geimpft sind, hängt sicher auch damit zusammen, dass es bei hoher Impfquote zu mehr Lockerungen kommt.

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(Temporale) Kausalitäten sind nicht das Thema der Studie; es sind Koinzidenzen, die hier dargelegt werden. Korrelationen werden gesetzt hinsichtlich der Art und Weise, wie doppelt Geimpfte und Impfraten zusammenspielen: „Since full immunity from the vaccine is believed to take about 2 weeks after the second dose, we conducted sensitivity analyses by using a 1-month lag on the percentage population fully vaccinated“.
Und, eine mögliche „umgekehrte Kausalität“ betreffend: Die Studie betrachtet bei der „Vaccination“ die absoluten Zahlen, nicht die Zuwachsraten. Bei den „Neuinfektionen innerhalb der letzten 7 Tage“, zu denen die „Vaccination“ in Beziehung gesetzt wird, handelt es sich jedoch um dynamische Werte.
„There also appears to be no significant signaling of COVID-19 cases decreasing with higher percentages of population fully vaccinated.“

Die Ergebnisse der Studie sind in der Tat irritierend, wenn nicht verstörend. Die Autoren erklären dies mit den verschiedenen Mutationsvarianten des COVID-19-Virus seit Ausbruch der Pandemie, und gehen auch explizit ein auf den massiven Rückgang der Schutzwirkung, den die verschiedenen Impfstoffe seit ihrer Zulassung erfahren haben:
„[…] the effectiveness of 2 doses of the BNT162b2 (Pfizer-BioNTech) vaccine against preventing COVID-19 infection was reported to be 39%, substantially lower than the trial efficacy of 96%“.

Nicht ganz mein Forschungsfeld, aber ich kam auf diesen Thread weil mein Pubpeer Plugin meldete dass es Diskussionen zu diesem Paper gibt, das kann ich beisteuern:

Es gibt also zumindest methodische Fehler und wie andere hier bereits geschrieben haben, widerspricht sie anderen Veröffentlichungen. Passend hier auch vielleicht etwas aus dem letzten Coronavirus update: Studen aus GB legen nahe, dass bereits eine Dosis die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe von einem Indexfall an Mitglieder desselben Haushaltes messbar senkt, bei vollständiger Impfung ist sie dann deutlich reduziert (https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript334.pdf).

Dieser Schutz beruht allerdings vor allem auf Schleimhautschutz, der relativ zügig abnimmt. Nach 6 Monaten ist der Schutz davor, andere anzustecken nicht mehr so dolle. War aber alles bekannt/erwartet.

Das ist auch nicht mein Forschungsfeld, aber ich betreibe selbst Datenanalyse und Statistik.
Ohne die Daten selbst analysiert zu haben, fällt mir bei Figur 1 auf, dass der marginale positive Trend wahrscheinlich von dem Cluster von Datenpunkten nahe bei (0% vaccines/0 cases per 1m) verursacht wird. Dieser Cluster macht meiner Meinung nach keinen epidemiologischen Sinn. Ich vermute, dass diese Länder einfach keine Infrastruktur zum Testen (oder Impfen) haben oder kein Melderegister. Mich würde dieser lineare Fit interessieren, wenn man diese Datenpunkte exkludiert. Ganz abgesehen davon, dass keinerlei Informationen zu dem Fit vorliegen und die Unsicherheit auf die Steigung enorm sein muss. Und man könnte da wahrscheinlich alle möglichen Funktionen mit gutem Ergebnis fitten…
Figur 2 entnehme ich vom Augenmaß eine deutliche negative Korrelation zwischen Impfrate und Covid-Fällen. Außerdem werden die Fehlerbalken auch deutlich kleiner, was das zusätzlich untermauert.

Die Auswirkungen von hohen Impfquoten auf die Anzahl der Tests pro Bürger (oder Einwohner) und die nachlassende Vorsicht wurden ja schon erwähnt. Um die Effekte der Impfung rauszubekommen, müsste man eine riesige, alle Maßnahmen und Lebensgewohnheiten der einzelnen Länder (oder gar Bezirke) umfassende Analyse machen, die wahrscheinlich gar nicht durchführbar ist, weil man so viele freie Parameter hat und so wenige Datensets hat, dass die Fitparameter vollkommen degeneriert (soll heißen, dass man das Gleiche beschreiben kann, indem man einen Parameter erhöht und einen anderen erniedrigt oder andersrum) sind. Meiner Meinung nach sagt dieses Paper ganz wenig aus.

2 „Gefällt mir“

Ist nicht außer der Inzidenzrate auch die Schwere der Verläufe entscheidend? Wenn mehr Menschen geimpft sind, dann kann die Inzidenz doch genauso hoch sein, nur müssen dann weniger Menschen medizinisch betreut werden, wodurch eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden kann und das trifft wohl bei 80% Impfquote zu.

Man kann diesen Impfeffekt in der Schweiz sehr gut sehen. Hier sind die Graphiken des Schweizer Bundesamtes für Gesundheit (entspricht dem Gesundheitsministerium) aus der vergangenen Woche zu Impfquoten und Spitaleinweisungen:

Je hellgrüner umso weniger geimpft, je dunkelblauer umso mehr Covidpatienten ins Krankenhaus.

Das wird in dem Paper kurz besprochen

Even though vaccinations offers protection to individuals against severe hospitalization and death, the CDC reported an increase from 0.01 to 9% and 0 to 15.1% (between January to May 2021) in the rates of hospitalizations and deaths, respectively, amongst the fully vaccinated.

Der Satz war etwas verwirrend für mich, aber der CDC-Vortrag, aus dem die Zahlen kommen, sagt, dass 9% bzw. 15.1% der hospitalisierten Menschen, die schwer erkrankt bzw. gestorben sind, geimpft waren. Ich habe aber nicht gesehen, wie hoch die absolute Anzahl der hospitalisierten im Vergleich zu vor der Impfung war. Es ist interessant, dass der relative Anteil der Todesfälle fast doppelt so groß ist wie der schweren Verläufe, die gerettet wurden. Das könnte daran liegen, dass die Impfung schwere Fälle gut verhindert, aber wenn es jemanden erwischt, dann erwischt es einen so schlimm, dass man oft daran stirbt. Du hast Recht, dass die Schwere entscheidend ist, aber solange der Anteil der Geimpften bei den Hospitalisierten so gering ist, sind noch nicht genug Leute geimpft, denke ich.

Die 80%, die du ansprichst, würden die Herdenimmunität gewährleisten dadurch, dass jemand, der oder die Covid bekommt, es nicht weitergeben kann, weil alle oder fast alle Personen im Umfeld immun sind. Das kommt aber natürlich auf das Modell an und da ist es wichtig, dass anscheinend die Impfung nicht vor Verbreitung des Virus schützt.

Richtig. Das Beispiel zeigt aber zugleich, wie gefährlich solche Statistiken sind. Denn in einer idealen Welt, in der 100 % der Bevölkerung geimpft wären, da wären notwendigerweise natürlich auch 100 % der Menschen im Krankenhaus geimpft. Daraus dann zu schließen, dass die Impfungen nichts bringen, wäre aber offensichtlicher Unsinn.

Nein, das stimmt nicht. Die Impfung kann nur eine Infektion nicht komplett verhindern. Infektionen durch Geimpfte oder von Geimpften sind aber weitaus seltener.

Richtig. Deswegen ist hier ein Vergleich mit den absoluten Zahlen wichtig.

Ja, da hätte ich präziser sein müssen. Kann trotzdem noch eine Übertragung stattfinden, dämpft das die Verbreitung des Virus; je seltener die Infektion durch Geimpfte desto stärker die Dämpfung. In die Verbreitungsmodelle fließen viele Parameter ein und es kommt auf viele Faktoren an, wieviel Dämpfung bei welcher Impfquote notwendig ist, um Herdenimmunität zu erreichen.