Hitlergruß im Klassenzimmer nicht strafbar

Die folgende Schlagzeile ist zwar schon eine Weile her, aber unter Berücksichtigung des aktuellen Brandbriefes aus einer brandenburgischen Schule dennoch aktuell.

Meine Frage richtet sich zuvorderst an Ulf: Warum wird das Klassenzimmer nicht als öffentlicher Raum gewertet? Wo darf man denn dann noch alles den Hitlergruß zeigen, ohne dafür belangt zu werden?

Lieben Dank und Grüße
Thomas

Das kommt darauf an, wie man „öffentlich“ im Rahmen von § 86a StGB definiert.

In Frage kommt hier nur die „öffentliche Verwendung“.

Bei der Verleumdung und Üblen Nachrede haben wir eine ähnliche Formulierung:

Bei der öffentlichen Begehung wird i.d.R. folgende Definition verwendet:

Eine im Hinblick auf § 86a StGB häufig verwendete Definition wäre

Das läge auf dem Marktplatz oder in der Kneipe zweifelsohne vor, in einem Klassenzimmer aber in der Tat nicht. Denn hier wäre sowohl die Zahl und Individualität durch die Klassenzugehörigkeit und den Lehrkörper bestimmt und die Personen sind u.U. auch durch eine nähere Beziehung verbunden (aber das wäre wohl streitig).

Daher ist die Position der Staatsanwaltschaft jedenfalls vertretbar, da nach beiden dieser Definitionen das Merkmal „Öffentlich“ hier nicht gegeben ist und somit keine Strafbarkeit anzunehmen ist. Ich konnte auf die Schnelle keine geläufige Definition finden, nach der auch begrenzte Personenkreise wie ein Klassenverband als „öffentlich“ subsumiert werden können. Natürlich kann man eine solche Definition erarbeiten, aber im Sinne der Einheitlichkeit des Rechts sollte man „öffentlich“ nicht für jeden Straftatbestand anders definieren…

In der eigenen Wohnung, auf Privatparties im engeren Freundeskreis, theoretisch sogar im Büro ohne Publikumsverkehr (die Konsequenz wird dann hoffentlich zumindest arbeitsrechtlicher Natur sein…).
Nicht mehr hingegen auf einem Rechtsrock-Konzert, da hier i.d.R. eine unüberschaubare Zahl von Personen vorliegt.

Das Ergebnis mutet natürlich schon etwas merkwürdig an - man darf den Hitlergruß in einer Schulklasse vor Menschen zeigen, die sich dadurch gezielt angegriffen fühlen, aber nicht auf einem Nazi-Konzert, wo es eigentlich niemanden juckt und kein „Schaden“ angerichtet wird. Aber so ist das manchmal mit der Dogmatik.

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In der Tat würde ich das bestreiten wollen. Im Gegenteil sitzen in einem Klassenzimmer die Schülerinnen und Schüler gezwungenermaßen durch die Schulpflicht zusammen und können sich nicht aussuchen, ob sie da sein wollen und mit wem sie alles in eine Klasse kommen. Spricht meiner Einschätzung nach eindeutig gegen eine „nähere Beziehung“.

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Das ist definitiv vertretbar, wie gesagt, der Punkt wäre streitig, aber auch irrelevant, weil ein Klassenzimmer natürlich immer eine überschaubare Personengruppe ist, sowohl nach der bei öffentlicher Begehung üblichen Definition („nach Zahl unbestimmt“ liegt nicht vor) als auch bei der spezifischen Definition im Rahmen von § 86a StGB („nicht überschaubare Anzahl von Personen“ liegt nicht vor).

Von daher ist der Punkt wie gesagt streitig, aber nicht relevant, weil das Ergebnis bei allen möglichen Positionen gleich ausfällt.

Eine Schulklasse verbringt eine Menge Zeit miteinander, in der sich verschiedentliche soziale Verknüpfungen ergeben. Zudem teilen alle die gemeinsame Erfahrung des Unterrichts (und zu einem geringeren Anteil der Pausenzeiten) sowie sonstiger schulischer Aktivitäten (Klassenfahrt usw.). Besonders während des Unterrichts ist das Klassenzimmer ein geschützter Raum, in dem ein ungestörtes und abseits der Anwesenden unbeobachtetes Dasein gewährleistet werden soll (das war z.B. während des Distanzunterrichts per Videokonferenz ein Thema, nämlich dass sonstige Familienmitglieder ausdrücklich nicht Teilnehmer/Zeuge der VK sein dürfen).

Nebenbei hier mal ein ähnlicher Fall aus dem Jahr 2008, bei dem ein Lehrer ein Nazi-Lied hat singen lassen und die Staatsanwaltschaft die Anzeige wegen Volksverhetzung ebenfalls im Hinblick auf die mangelnde Öffentlichkeit eingestellt hat:

Ich hoffe, der Lehrer hat hier zumindest klare beamtenrechtliche Konsequenzen zu Spüren bekommen, aber wie der Fall ausgegangen ist, konnte ich jetzt nicht kurzfristig herausfinden.

Aber das Fall zeigt:
Die Frage, ob Taten im Klassenzimmer „öffentlich“ sind, ist nicht neu und wirft immer wieder Fälle auf, die man durchaus als problematisch bewerten sollte. Wichtig ist hier die Abgrenzung zwischen „öffentlichem Raum“ und „öffentlicher Begehung“ - die Schule ist natürlich unbestreitbar öffentlicher Raum, aber auch im öffentlichen Raum begangene Taten sind nicht in jedem Fall öffentlich, sondern nur, wenn sie auch beobachtet werden können. Das führt i.d.R. zu keinen großen Problemen („Wenn ein Nazi auf dem leeren Marktplatz den Hitlergruß zeigt und keiner es sieht, ist es dann wirklich geschehen?“), wobei die Frage schon interessant ist, wie viele Menschen das Symbol nun wirklich sehen können müssen - und ob es erforderlich ist, dass eine hinreichende Zahl von Personen wirklich anwesend ist, oder es genügt, dass eine entsprechende Zahl an Beobachtern der Tat nicht ausgeschlossen werden kann (z.B. wenn im Marktplatz-Beispiel ein Nazi einem Polizisten den Hitlergruß zeigt und nicht ausgeschlossen (aber auch nicht bewiesen) werden kann, dass zahlreiche Menschen aus den Fenstern der Häuser die Situation beobachtet haben könnten…).

Sowas ist spannendes Material für juristische Klausuren, eben weil man hier sehr vielfältig argumentieren kann.

Das Problem selbst ist wie gesagt nicht neu - die Frage ist: Wollen wir das verschärfen?

Dazu muss man anmerken, dass die Strafbarkeit von Hitlergruß, Volksverhetzung und co. allgemein schon eher die Ausnahme im internationalen Vergleich ist. Dass hier daher Einschränkungen bestehen, die im Zweifel Fälle eher nicht bestrafen, als sie zu bestrafen, ist nachvollziehbar… tatsächlich denke ich auch, dass ein Hitlergruß im Klassenzimmer durch einen 18-jährigen eher mit sozialer als strafrechtlicher Intervention begegnet werden sollte, während im Lehrer-Fall beamtenrechtliche Sanktionen härter treffen können als strafrechtliche (ein Lehrer, der Nazilieder singen lässt, ist offensichtlich nicht für den Schuldienst geeignet…)

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Also in deiner o.a. ersten Definition steht ein oder zwischen „nach Zahl unbestimmt“ und „durch nähere Beziehung nicht verbunden“. :wink:

Ich würde mich da gerne an einer Anzahl orientieren, die im öffentlichen Raum gemeinhin auch als Versammlung eingestuft werden kann. Da haben Gerichte irgendwie auch kein Problem mit relativ geringen Zahlen.

In jedem Fall müsste man aber mal vergleichen, was eine Aberkennung der Öffentlichkeitseigenschaft dann in anderen Fällen, vielleicht noch etwas krasseren Fällen bedeuten würde. Wenn ein Klassenraum nicht-öffentlich ist, dann dürfte man ja theoretisch nicht nur einmal kurz den Hitlergruß machen, sondern bspw. auch eine Hakenkreuzflagge an die Wand hängen, oder? Ist doch privat. Oder als Shirt tragen.

Hängt halt davon ab, ob das nur ein Depp ist, der ein paar Wochen in den falschen Foren unterwegs war und jetzt ein wenig rumprovozieren will, oder ein ideologisch gefestigter Neonazi, den du mit „sozialer Intervention“ sowieso nicht mehr erreichst, und der seine Mitschüler damit einschüchtert.

Und manche verknüpfen sich eben bewusst nicht, z.B. weil der Klassenkamerad ein Nazischwein ist. Und ein Raum, in dem Hitlergrüße gezeigt werden, ist für manche genau das Gegenteil eines „geschützten Raums“.

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Deswegen sagte ich, dass die Unterscheidung zwischen „öffentlicher Ort“ und „öffentlicher Begehung“ wichtig ist. Der Klassenraum ist ein öffentlicher Ort, das Setting in dem der Hitlergruß gezeigt wurde, also die Klasse + Lehrer, kann hingegen wegen ihrer überschaubaren Zahl und über längere Zeit gleichen Zusammensetzung als nicht-öffentlich gewertet werden (wie gesagt, andere Auffassungen sind zulässig, aber die Auffassung der Staatsanwaltschaft ist in jedem Fall nachvollziehbar).

Eine Hakenkreuzflagge an der Wand hingegen wäre klar verboten, weil der Klassenraum von einer unbestimmten Zahl von Personen genutzt wird (mehrere Klassen, Lehrer, Reinigungskräfte, Hausmeister, bei Elternabenden vielleicht sogar Eltern usw.). Daher hätten wir hier definitiv einen Fall, der anders zu bewerten wäre. Man könnte quasi darauf abstellen, dass das Zeigen eines Hitlergrußes ein abgeschlossener Vorgang ist (dh. wenn es vorbei ist, kann keine weitere Person es sehen), während das Aufhängen einer Hakenkreuzflagge ein fortlaufender Vorgang ist und alleine deshalb die Voraussetzung des „zur Kenntnis genommen werden kann“ weit auszulegen ist, da die Flagge jeder zur Kenntnis nehmen kann, der in absehbarer Zeit den Klassenraum betritt.

Das wären dann zwei Personen. Kann man sicherlich auch vertreten, aber da wir hier im Strafrecht sind ist die Wortlautgrenze besonders strikt zu beachten, sodass eine Ausweitung des Begriffs „Öffentlichkeit“ auf nur zwei Personen (den Täter und einen Zuschauer) zumindest fragwürdig erscheint…

Naja, wenn ich das mit irgendwelchen juristischen Verrenkungen á la „2.-Reihe-Rechtsprechung“ vergleiche, wenn Richter und Staatsanwälte offensichtlich friedliche Sitzblockaden als „Gewalt“ bzw. Nötigung verurteilen bzw. anklagen, dann liegt da für mich schon der Verdacht nahe, dass man da als Richter/Staatsanwalt schon ein bisschen das Recht gerne jeweils in die Richtung beugt, wo man gerne das Ergebnis hätte. Entweder sucht man eben Gründe oder Ausreden, und da denke ich mir persönlich dann meinen Teil bzgl. der vermutlichen Gesinnung des Staatsanwalts.

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Naja, im vorliegenden Fall ist es nach der für § 86a StGB in Rechtsprechung und Lehre gebräuchlichen Definition ja wirklich kaum möglich, zu einem anderen Urteil zu kommen („wenn der Symbolgehalt des Kennzeichens von einer nicht überschaubaren Anzahl von Personen zur Kenntnis genommen werden kann“; die Mitschüler können wirklich kaum als nicht überschaubare Gruppe bezeichnet werden).

Man könnte natürlich Öffentlichkeit definieren als „unter Anwesenheit nicht persönlich verbundener Personen“ und als „persönlich verbunden“ wiederum enge Freunde und Familie definieren. Aber wie gesagt, im Hinblick auf die Wortlautgrenze im Strafrecht ist das schon grenzwertig, aber vermutlich noch zulässig. Deshalb beschäftigt sich ja nun auch die Generalbundesanwaltschaft mit dem Fall, vermutlich genau um zu klären, ob man eine solche sehr weite Definition nicht doch anwenden will…

Das ist zweifelsohne der Fall. Um nichts anderes geht es bei der Dogmatik des Rechts.
Wir wollen kein willkürliches Recht, daher: Wir wollen nicht, dass in jedem Fall anders entschieden werden kann. Deshalb nutzen wir ein stark dogmatisches Recht, in dem über Definitionen versucht wird, ein Gebäude aus Definitionen zu bauen, in das sich jeder Fall schubladenmäßig einordnen lässt.

Dass beim Bau dieses Gebäudes rechtspolitische Gedanken eine Rolle spielen steht völlig außer Frage. Daher: Wann immer ein oberstes Bundesgericht eine Dogmatik zur höchstrichterlichen Rechtsprechung erklärt, muss dieses Gericht sich natürlich Gedanken machen, welches Konsequenzen daraus für den zu Grunde liegenden Fall, aber auch für alle anderen Fälle, auf die diese Dogmatik in Zukunft angewandt werden soll, folgen.

Und hier denkt sich ein Richter natürlich schon: „Ich finde, diese Tat sollte strafbar sein. Aber ich muss zu diesem Ergebnis auf Grundlage einer universellen Dogmatik kommen. Also gestalte ich das so, dass es passt…“. Bei der „zweiten Reihe-Rechtsprechung“ wollte der BGH zu einer Strafbarkeit der Sitzblockade kommen und hat natürlich deshalb den Weg über die „indirekten Gewaltausübung“ gewählt, nach dem Motto: „Wenn der Demonstrant eine Barrikade gebaut hätte, wäre es Nötigung gewesen. Wenn er also ein anderes Auto als Barrikade benutzt, weil dessen Fahrer sich nicht aus der Situation befreien kann, ist das gleich zu bewerten…“

Ich bin jetzt auch kein Fan dieser Rechtsprechung, aber ich kann die Logik dahinter durchaus verstehen… ich hätte es aber auch nachvollziehen können (und auch begrüßt) wenn das BVerfG diese Rechtsprechung gekippt hätte. Hat es leider nicht.