Liebes Lage-Team und liebe Lage-Hörer*innen
gestern hatte ich das Glück, u.a. Herrn Buermeyer persönlich über Zoom eine Frage zu stellen, die sich dem Diskussionsthema „Rechtsetzung und Rechtdurchsetzung in der Corona-Pandemie“ angliedert. Leider sind die Antworten zeitbedingt etwas kurz ausgefallen und ich starte den Versuch, hier etwas ausgiebiger darüber zu diskutieren. Die Frage bezog sich auf die Verhältnismäßigkeit der massiven Grundrechtseinschränkungen bei Immunitätszahlen in der Bevölkerung, die sicherstellen, dass das Gesundheitssystem (i.e. Intensivstationen) nicht überlastet ist und ein Impfangebot für alle steht.
In der Diskussion hieß es immer wieder, sobald ein Impfangebot für alle stünde, müsse über „Privilegien“ für geimpfte nachgedacht werden. In dem Szenario, das ich anspreche, ist sicher gestellt, dass Krankenhäuser weiter ihre Arbeit machen können, ohne die 60-jährige Patientin mit Herzinfarkt ablehnen zu müssen oder dem 80-jährigen Patienten mit Schlaganfall keinen Beamtungsplatz anbieten zu können (wenn auch unter hoher Arbeitsbelastung, also sicherlich nicht optimal).
Warum also nicht die Grundrechtseinschränkungen für alle lockern oder sogar aufheben?
Jeder, dieder sich durch eine Impfung schützen wollen würde, könnte dies auch tun (vorausgesetzt ein Impfstoff ist für die jeweilige Personengruppe zugelassen). Ich persönlich vermute stark, dass zu oben genanntem Zeitpunkt keine Herdenimmunität bestehen wird, die diese Diskussion obsolet machen könnte.
Herr Buermeyer hat die potenziellen Folgen von Covid-19 angesprochen („Post-Covid-Syndrom“), die absolut nicht zu unterschätzen sind. Auch die vielen schweren Erkrankungen und „vermeidbaren“ Todesfälle, die sich aus einer Lockerung oder Aufhebung der Grundrechtseinschränkungen höchstwahrscheinlich ergeben würden, möchte ich nicht unbeachtet lassen. Letztendlich bin ich aber doch der Meinung, dass zu oben genanntem Zeitpunkt die Verhältnismäßigkeit von massiven Einschränkungen (auch für Nicht-Geimpfte) nicht mehr gegeben ist. Ist die Bundesregierung dafür zuständig, jeden Krankheitsfall mit allen möglichen Mitteln zu verhindern? Ist es nicht ein Ermessen desder Einzelnen, sich vor Erkrankungen zu schützen und das persönliche Risiko abzuwägen, sobald die Möglichkeit gegeben ist und das Gesundheitssystem ein „pre-Covid-Leben“ wieder zulässt? Wie lässt sich so eine Situation auf andere Erkrankungen übertragen, die womöglich schwere Konsequenzen haben können (z.B. Influenza oder Masern)? Auch in solchen Fällen wird zwar für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine Impfung empfohlen, aber zwangsläufig wird an die persönliche Risikoabwägung desder Einzelnen appelliert, schwere Gehirnentzündungen oder Lungenfunktionseinschränkungen zu verhindern. Hier war nie eine Grundrechtseinschränkung vorgesehen. Warum sollte das bei Covid-19 zu einem angemessenen Zeitpunkt, der das Gesundheitssystem nicht mehr überfordert, anders sein?
Ich weiß, dass diese Fragen besonders heikel erscheinen, weil es so wirkt, als wären die Leben der potenziell zukünftig Erkrankten ein Opfer, das eingegangen werden muss. Ich bin Medizinstudentin und arbeite an meiner Uniklinik als Pflegehelferin auf der Covid-Intensivstation und kann Ihnen versichern, dass ich die Erkrankung und ihre Folgen sehr ernst nehme und gerne jedes Leben lebenswert erhalten möchte, soweit es in meiner Macht steht. Dennoch denke ich, dass ab einem gewissen Zeitpunkt die Bundesregierung und ihre Vertreter*innen zurück in die Position der Aufklärenden gehen müssen – und oben genannter Zeitpunkt erscheint mir da als angemessen.
Wenn Sie dem nicht zustimmen, wann ist Ihrer Meinung nach der richtige Zeitpunkt erreicht, um die massiven Einschränkungen zu lockern?
Wie sehen Sie die Rolle der Bundesregierung in der Primärprävention von Krankheiten?
Ich bedanke mich für das Lesen bis hierhin und hoffe auf Ihre kritische Auseinandersetzung mit meinen Aussagen und Fragen.