Gewaltenteilung bedroht? Wie standfest ist unsere Judikative?

In einer aktuellen Meldung zweifeln 67% der Richter und Juristen in Deutschland, dass unsere Justiz einer politischen Einflussnahme wie in Polen und Ungarn entschieden entgegentreten könnte.

Was meinen Philip und Ulf dazu, wie ist die Meinung im Forum?

Worst Case Szenario: die Brandmauer der CDU fällt, man koaliert mit der AfD, rechte Kräfte gewinnen maßgeblich an Einfluss. Neben den Medien gerät die Unabhängigkeit der Justiz/Judikative ins Visier demokratiefeindlicher Kreise.
Eine reale Gefahr?

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Eine politische Einflussnahme auf die Justiz ist leider immer eine realistische Gefahr, und das zieht sich durch alle Systeme.

Das Problem in klassischen demokratischen Systemen ist, dass die obersten Richter von der Politik gewählt werden und die obersten Gerichte maßgeblichen Druck auf die unteren Instanzen ausüben können. Daher: In dem Horrorszenario, in dem die AfD als stärkste Kraft mit der CDU eine Bundesregierung bilden würde und in vielen Bundesländern die Justizminister aus AfD- und CDU-Kreisen kämen, könnten die beiden Parteien tatsächlich die höchsten Gerichte mit ihren Kandidaten füllen. Dabei ist aber zu beachten, dass die Amtszeit der Richter 12 Jahre beträgt, daher müsste besagte CDU/AfD-Dominanz einige Zeit anhalten, bis die Gerichte wirklich unter Kontrolle ihrer Handlanger stehen. Das BVerfG würde vermutlich versuchen, hier zu intervenieren, bevor es so weit kommt, hat aber faktisch wenig Möglichkeiten.

Sobald die höchsten Gerichte durch „politische Richter“ besetzt sind würde die gesamte Unabhängigkeit der Justiz fallen. Zwar würden die Richter an den unteren Instanzen möglicherweise etwas rebellieren, aber diese Instanzen haben zu wenig Selbstverwaltung, um eine Gleichschaltung effektiv abzuwehren.

Andere Systeme haben erheblich mehr Selbstverwaltung, aber ähnliche Probleme. In manchen Ländern (z.B. einigen Kantonen der Schweiz oder Bolivien) werden Richter vom Volk gewählt, aber das führt langfristig auch zu einer erheblichen Politisierung dieser Ämter, weil erfolgreiche Kandidaten - wie bei jeder Wahl - i.d.R. aus dem Dunstkreis der Parteien kommen, da diese die Infrastruktur und Erfahrung haben, einen effektiven Wahlkampf zu führen (und viele Wähler diesen Parteien gegenüber „loyal“ sind). Und wenn hier die gleiche Partei über längere Zeit dominant ist, wird auch das zu einer starken Abhängigkeit der Justiz von der Politik führen…

Das Problem ist halt, dass man nicht beides haben kann:
Unabhängigkeit von der Politik auf der einen Seite und demokratische Legitimation auf der anderen Seite. Die Problematik mit der Unabhängigkeit der Justiz wird immer dann am größten, wenn der demokratische Wille des Volkes selbst korrumpiert ist (z.B. durch Propaganda oder Übermacht einer Partei auf allen Ebenen), daher wenn das Volk selbst entscheidet, dass es will, dass die Politik die Justiz kontrolliert.

Das ist in Ungarn das Problem - dadurch, dass die Fidesz seit über 20 Jahren bei jeder Wahl zwischen 41% und 54% der Stimmen bekommen hat, hat sie natürlich auch das System sehr zu ihrem Vorteil ausbauen können, um ihre Position zu verfestigen. Und das Volk scheint sie weiter zu wählen und damit auch die „Justizreformen“, welche die Justiz abhängig machen, zu unterstützen. Etwas ähnliches wäre in Deutschland auch denkbar, wenn z.B. eine AfD und CDU-Koalition über längere Zeit gewählt werden würde.

Die Unabhängigkeit der Justiz hängt daher meines Erachtens direkt mit der Gesundheit des politischen Systems zusammen. So lange verhindert werden kann, dass problematische Parteien über längere Zeit ungestört das Justizsystem gleichschalten können, indem sie immer und immer wiedergewählt werden, sehe ich keine Gefahr. Daher ist auch der erste Schritt zum Fall der Unabhängigkeit der Justiz in der Praxis der Fall der Pressefreiheit und der Chancengleichheit der Parteien - erst fallen diese Dinge, dann fällt die Justiz. Die Pressefreiheit und die Chancengleichheit der Parteien zu schützen ist daher auch Schutz der Unabhängigkeit der Justiz.

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Ist in Israel a akut auch sehr aktuell.

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Im Moment werden bspw. Verfassungsrichter mit Zweidrittelmehrheiten gewählt. Das ist aber nur durch ein einfaches Gesetz geregelt und könnte relativ unkompliziert geändert werden.

Es gab da mal einen fachjuristischen Aufsatz zu auf irgendeinem Portal, müsste entweder LTO oder Verfassungsblog gewesen sein, wo so ein Szenario ausgemalt wurde, und die Hürden waren erstaunlich gering. Ich find den Artikel gerade leider nicht.

Davon abgesehen ist der rechte „Marsch durch die Institutionen“ in der Justiz ja auch schon seit langem im Gange – einige würden sagen, seit Gründung der Bundesrepublik – und wenn man sieht, wie gut teilweise notorische rechte Gewalttäter mit ellenlangen Strafregistern vor Gericht wegkommen, im Vergleich zu irgendwelchen Jugendlichen, die es gewagt haben bei Klimaprotesten irgendein Gesetz zu übertreten, dann ist unsere Justiz auch jetzt schon vielerorts eher Teil des Problems statt der Lösung.

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Das gleiche Problem haben wir ja auch bei der Wahlrechts-Reform. Auch hier kann viel zu viel über ein einfaches Gesetz geändert werden, was bisher immer vermieden wurde. Würde eine Regierung hier mit bösem Willen agieren (z.B. eine CDU-Regierung mit absoluter Mehrheit ein reines Mehrheitswahlrecht installieren, weil sie weiß, dass sie davon massiv profitiert und das BVerfG in der Vergangenheit gesagt hat, dass auch ein Mehrheitswahlrecht denkbar ist, das GG daher kein Verhältniswahlrecht vorschreibt) könnte unsere gesamte demokratische Kultur von einem Tag auf den nächsten umgekrempelt werden…

Derart wichtige Dinge sollten daher im Rahmen einer Verfassung geregelt werden, um sie der Änderung durch einfaches Gesetz zu entziehen.

Israel hat das Sonderproblem, dass es gar keine Verfassung hat. Bei Gründung Israels wurde noch festgelegt, dass innerhalb eines Jahres eine Verfassung erarbeitet werden müsse, aber dann kam die Kriegserklärung durch die arabischen Nachbarländer und man hatte verständlicherweise andere Prioritäten… in der Folge wurde es auf unbestimmte Zeit vertagt, sodass es bis heute keine Verfassung gibt.

Das Resultat ist, dass die Knesset relativ allmächtig ist, weil sie de jure alles per einfachem Gesetz regeln kann. Es gibt nichts, was vor einer Änderung durch einfaches Gesetz geschützt wäre. Eine problematische Regierung kann daher, rein rechtlich, sehr einfach eine Diktatur errichten.

Die geplante Entmachtung des obersten Gerichts (das in der Vergangenheit als Quasi-Verfassungsgericht ohne Verfassung einige Grundsätze, die ähnlich unseren Grundrechten sind, erarbeitet und verteidigt hat) ist daher ein umso stärkerer Schritt. Da die Rechtsprechung des obersten Gerichts quasi der Verfassungsersatz und damit die Garantie der Grundrechte war, bedeutet dessen Entmachtung effektiv auch, dass die Grundrechte zur Disposition der Knesset gestellt werden, was einer Abschaffung der Grundrechte gleich kommt (da Grundrechte gerade dadurch definiert sind, dass sie die Bürger auch vor dem Gesetzgeber schützen sollen, indem dessen Befugnisse begrenzt werden).

Eine Verfassung hat - und das verbindet die drei Themen, die hier nun aufgeworfen wurden - eben auch die ganz zentrale Aufgabe, eine intakte Gewaltenteilung zu garantieren und zu verteidigen.

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