G8 Reform eine "Quatsch-Idee"

Hallo zusammen,

es geht um eine Aussage in der Folge (LdN 251, ca. 47:30), dass die G8 eine „Quatsch-Idee“ sei. Mir ist klar, dass es sich hierbei nur um einen Nebensatz handelte. Ich denke, es ist dennoch relevant. Denn in der Wahrnehmung der allgemeinen Bevölkerung gilt die G8 Reform als eine „Quatsch-Idee“. In der empirischen Sozialforschung zeigt sich jedoch ein wesentlich differenziertes Bild.

  • Stress und gesundheitliche Beschwerden:
    Es zeigt sich ein signifikanter Anstieg von Stress und gesundheitlichen Beschwerden von G9 zu G8 (Hübner et al. 2017).

  • Leistungsentwicklung:
    Es zeigen sich, je nach Kompetenzgebiet, unterschiedliche Ergebnisse. Für das Fach Englisch sinkt das Leistungsniveau, in Biologie teilweise gestiegene Leistungen und für Mathematik und Physik keine Leistungsunterschiede (Hübner et al. 2017). Bei Lesekompetenzen zeigt sich eine Steigerung der Kompetenzen durch G8 (Homuth 2017).

  • Ungleichheit bei der Entscheidung zu weiterführender Bildung:
    Es können keine signifikanten kausalen Effekte der G8 Reform auf soziale Ungleichheiten bei der Bildungsentscheidung gefunden werden (Roth 2018). Allerdings wird eine Ausweichbewegung von höheren Schichten auf Gesamtschulen (mit G9) festgestellt (Homuth 2017, Roth 2018).

Die Ergebnisse zeigen, dass die G8 Reform ihre positiven wie negativen Aspekte und Folgen hat, jedoch nicht grundsätzlich eine „Quatsch-Idee“ ist. Meiner Ansicht nach hat die G8 Reform keine wirklichen Chancen bekommen. Etwa durch eine Anpassung des Curriculums und des Schulalltages negative Folgen für SchülerInnen (z.B. Stress) zu senken. Das allgemeine und größtenteils grundlose G8-Bashing von manchen Gruppen hat zu dieser versäumten Chance beigetragen.

Literatur:
Homuth 2017: 10.1007/978-3-658-15378-6
Hübner et al. 2017: 10.1007/s11618-017-0737-3
Roth 2018: https://doi.org/10.1007/s11618-018-0847-6

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Auch bei der G8-Reform gilt: Nur, weil eine grundsätzlich gute Idee (in diesem Fall grotten-) schlecht ausgeführt wurde, macht es die nicht zu einer Quatsch-Idee. Die Kultusbürokratie in den meisten Länder haben die Idee kaputt gemacht und so (ob absichtlich oder nicht) sabotiert.

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Ich habe keine starke Meinung zu G8 und gerade keine Zeit, in die Studien reinzuschauen (hole das hoffentlich nach), aber ich kann mir überhaut nicht vorstellen, dass es relevante Unterschiede gibt, die gar nicht zwischen Fächern korreliert sind.

Interessante(und widersprüchliche) Studien zu Auswirkungen von verlorener Schulzeit gibts auch in diesem essay: Kids Can Recover From Missing Even Quite A Lot Of School

Wenn jemand mehr einblick in die Forschung über g8 hat, würde es mich sehr freuen, wie die ergebnisse von hübner oben plausibel gemacht werden können.

Leistungsentwicklung:
Es zeigen sich, je nach Kompetenzgebiet, unterschiedliche Ergebnisse. Für das Fach Englisch sinkt das Leistungsniveau, in Biologie teilweise gestiegene Leistungen und für Mathematik und Physik keine Leistungsunterschiede (Hübner et al. 2017).

Ich hab mit das Paper angesehen und ich sehe, weder in den Daten noch in dem Papertext eine Verbesserung der Leistung. Sowohl für Englisch als auch für Biologie scheint es eine Verschlächterung der Leistung bei G8 zu geben. Allerdings kann ich keine Aussagen der Streuung machen. Die Daten lassen darauf schließen, dass die Streuung groß sein kann. Bsp Biologie.: G9W1: 507, G9W2: 500. G8W2: 498, G8W3: 495. Schon G9 schwankt zwischen 507 zu 500. Wenn ich die Daten des Papers richtig verstehe, dann ist einzig Englisch signifikant schlechter für G8 (p<1%), und Biologie nur signifikant schlechter für p=7%.
Ich würde die Daten mit Vorsicht genießen, aber eine Leistungssteigerung zwigen diese Daten keinesfalls.

Könntest du kurz ein paar Stichworte posten, wie eine gute Ausführung ausgesehen hätte? Ich sehe bisher hier nur

Das Entrümpeln der Lehrpläne hat - zumindest in Bayern - völlig gefehlt. Von den anderen Bundesländern höre ich ähnliches. Daher kann keine empirische Forschung evaluieren, welche Vor- und Machteile eine sinnvolle Verkürzung der Schulzeit gehabt hätte.

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Danke für den Aufschlag. Mir ist diese Passage auch ein bisschen aufgestoßen.
Ich möchte nur daran erinnern, dass es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR quasi schon immer ‚G8‘ war. Soweit ich das überblicke, unterrichten alle ‚ostdeutschen‘ Bundesländer aktuell nach G8, sofern es, glaube ich jedenfalls, die Gymnasien betrifft. Man sollte diese innerdeutschen Leistungsvergleiche, die von diversen Einrichtungen und Stiftungen vorgenommen werden, immer etwas mit Vorsicht betrachten, aber Sachsen steht z. B. immer ganz (sehr) gut da; 13 Jahre kennt man praktisch nicht. Als jemand, der in den ‚neuen Bundesländern‘ zur Schule gegangen ist und nach 12 Jahren Abitur gemacht hat, habe ich diese Debatte um G8/G9 immer mit Argwohn und auch Belustigung verfolgt.

Aus meiner anekdotischen Evidenz heraus würde ich sagen, dass es zumindest inhaltlich fast keine riesigen Unterschiede in den Curricula bzw. Lehrplänen zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ BL gibt. Zwar muss man auch hier sehr genau hinschauen, weil es bspw. in Sachsen Lehrpläne (Inhalte weitestgehend vorgegeben) gibt, woanders aber eher ein Curriculum (BaWü, meine ich z. B.), das stark an die Kompetenzorientierung angelegt ist.
Mein persönlicher Eindruck war aber immer irgendwie, dass das 13. (oder 11.) Jahr eigentlich verloren ist, weil es ohnehin keine Relevanz für das Abitur hat. Der Stoff (und auch die Menge) unterscheiden sich oft auch nicht wirklich. Von anderen Studienfächern weiß ich, dass man Studierenden etwa im Ingenieur-Bereich mit einer anderen als der ‚ostdeutschen‘ HZB (vor allem denen aus Bremen, sorry for that), sehr, sehr nahelegt, bestimmte Mathe-Vorkurse dringend zu besuchen, weil der Stoff in der Schule dort nicht behandelt wurde, in ‚Ostdeutschland‘ aber spätestens im Mathe-Grundkurs Thema war und vorausgesetzt wird. Allerdings habe ich momentan auch keine weitergehende Empirie hierzu.

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Mal eine andere Perspektive: Warum diskutieren wir eigentlich über G8 und nicht über G10?

Unser Schulsystem – und insbesondere das Gymnasium – hat den Auftrag nicht nur auszubilden sondern auch zu bilden. Das Kultusministerium von Baden-Württemberg formuliert passend: „Die Erziehung zu mündigen Bürgern ist eine zentrale Aufgabe unseres Schulwesens.“
Die heutigen globalen Probleme werden (vermeintlich?) zunehmend komplexer, interdisziplinärer und dringlicher. Um heute mündige Entscheidungen zu treffen braucht man daher eine breitere sachliche und methodische Allgemeinbildung als früher. Das potentielle eine zusätzliche Jahr für (Fach-)Studium/ (Fach-)Ausbildung/FSJ/… hilft dabei nur bedingt. Mein Schluss: wir sollten die Anzahl an Schuljahren erhöhen!

Insofern halte ich G8 für eine Quatsch-Idee.

PS: Ich finde allerdings das zweizügige Konzept G9 standardmäßig mit G8 optional prinzipiell sinnvoll. Nur eben besser mit G10 standardmäßig und G9 optional.

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Weil dieses Land die jungen Leute eher früher als später im Arbeitsprozess integriert braucht.

Warum eigentlich? Die Lebensarbeitszeit steigt doch auch ohne G8 allein dadurch, dass die Menschen inzwischen bis zum Renteneintritt länger arbeiten müssen. Und ich persönlich denke, dass man arbeitet um zu leben - und nicht andersrum.

Das ist auch nicht überraschend, wenn man sieht, wie langsam irgendein Wandel im Bildungswesen ablauft. Wie sollen da mal eben 1/9 des Stoffs einfach für unwichtig erklärt werden?!

Nicht nur das: Die 11. Jgst. ist vor allem verloren, weil sie dazu genutzt wird, die Wechsler von anderen Gymnasien sowie anderen Schulformen anzugleichen sowie den SchülerInnen mit Auslandsaufenthalt den Anschluss so einfach wie möglich zu machen.

Man hat in der Oberstufe ein ganzes Jahr, in dem weder inhaltlich noch in Zensuren auf das Abitur vorbereitet wird. Anstatt dieses Jahr zu streichen (das war bei G8 dann die Jgst. 10), musste aber in der Sekundarstufe I gekürzt werden. (Das wäre übrigens schonmal eine der miesen Ausführungen, nach denen ich oben fragte. :wink: )

Kenn’ ich auch, und genau mit Bremen, und da ging es um ein deutlich weniger Mathe-lastiges Studienfach.

Oder wir „entrümpeln“ die Lehrpläne (s.o.) und gönnen uns trotzdem 9 Jahre.

Böse Zungen würden sagen: Um den Anstieg des Renteneintrittsalters ein wenig abzufedern. :wink:

Was waren eigentlich nochmal die Argumente für G8? Im Ausgangspost finde ich nur Argumente, die nicht dagegen sprechen.
Im Prinzip wurde doch offen ausgesprochen, dass es darum ging, Menschen früher an die Uni bzw. den Arbeitsmarkt zu bringen.

Ein G8-Befürworter, der ich nicht bin, würde dir jetzt entgegenhalten: Die komplexeren, interdisziplinäreren und dringlicheren Probleme erfordern es, dass Menschen sich früher spezialisieren und dort tiefere Kenntnisse/Fähigkeiten aufzubauen.
Das geht nunmal mit einem fertigen Abitur an einer Hochschule (da lag der Fokus, gilt aber wohl auch für Ausbildungen) deutlich leichter als in einer Schule, die dafür noch weiter reformiert werden müsste.

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Ein Großteil der halbwegs wohlhabenden/entwickelten Länder der Welt ist mit der Situation konfrontiert, dass demnächst sehr viel mehr Menschen in den Ruhestand gehen (sei es aufgrund des Lebensalters, sei es aufgrund von Berufsunfähigkeit), als ins Berufsleben eintreten. Dies wird gravierende Folgen haben, über die es lohnt, sich schon heute Gedanken zu machen.

Eine der relativ einfach zu betätigenden Stellschrauben, um den schlimmsten Arbeitskräftemangel abzumildern, ist ein im Durchschnitt früherer Eintritt ins Berufsleben.

Dazu muss man nicht einmal auf curriculare Ebene hinabsteigen, die ja prinzipiell nur das wiedergeben, was an anderer Stelle (allgemeiner) aufgeführt ist; da reicht schon der Blick in die jeweiligen Landesverfassungen und Schulgesetze („Bildungs- und Erziehungsziele“) sowie die Verordnungen für Schularten, um einen Eindruck zu bekommen, was Schule alles leisten soll. Ziemlich ambitioniert finde ich bspw. das Berliner Schulgesetz. Spätestens an dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage nach der Operationalisierung dieser Ziele.

Ich sehe nicht, was das bringen soll. Dass die Probleme komplexer etc. werden, bestreitet wahrscheinlich niemand (Stichwort u. a. „Grand Challenges“), aber das Schule und letztlich: die in ihr unterrichtenden Lehrkräfte das leisten können, glaube ich nicht. Dazu gibt es ja auch vielfältige (unsinnige) Forderungen, neue Schulfächer einzuführen. Die Dinge, die du benennst, sollten wohl eher an einer Hochschule ausgebildet werden, allerdings war ‚Studiengangsentwicklung‘ (und was seit Bologna eigentlich auch dazugehört: Persönlichkeitsentwicklung, zivilgesellschaftliches Engagement etc.) an deutschen Hochschulen bisher rar gesät. Lehre ist halt nur so semiinteressant und leider nicht prestigeträchtig genug; gibt halt keine Drittmittel für ‚gute Lehre‘.

Mich erinnert die Forderung der Erhöhung von Schuljahren an daran, wenn wieder mal irgendwo gefordert wird, mehr Geld in das Bildungssystem zu stecken, weil dann ja alles besser werde. Das Gießkannenprinzip hat allerdings und insbesondere in diesem Bereich noch nie geholfen. Vergleichbar mit der FDP-Forderung nach „besserer Bildung, besserer Digitalisierung“ – konkreter wird es da leider nie.

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