Das ist definitiv ein Problem, das meines Erachtens damit einhergeht, dass durch Social Media plötzlich viele Menschen sich öffentlichkeitswirksam äußern können (was an und für sich eine positive Sache ist). Im Hörsaal-Podcast von Deutschlandfunk Nova lief letztens ein passendes Thema dazu, der Vergleich der ersten Medienrevolution durch den Buchdruck 1522 mit der zweiten Medienrevolution durch Social Media in den 2000er-Jahren. Hier gibt es doch erstaunlich viele Parallelen dadurch, dass beide Medienrevolutionen dazu führten, dass die Gruppe der Beteiligten am öffentlichen Diskurs massiv gestiegen ist, was Fluch und Segen zugleich ist.
Bedeutet bezogen auf das hiesige Thema:
Durch die zweite Medienrevolution ist es möglich, dass sich kleinere Interessengruppen, die in der Vergangenheit im Hintergrundrauschen untergegangen sind, nun klar organisieren und artikulieren können.
Die zweite Medienrevolution bringt ähnlich wie die erste Medienrevolution ein unheimliches Plus an Freiheit mit sich, eben weil der öffentliche Diskurs nicht mehr nur vom Klerus (vor der ersten Revolution) bzw. Staat und Presse (vor der zweiten Revolution) geführt wird, sondern weil jetzt jeder mitmischen kann.
Dabei wird sehr deutlich, dass Freiheit kein „unbegrenztes Gut“ ist. Denn die Freiheit, dafür kämpfen zu können, dass z.B. Alltagsrassismus verschwindet, oder die Freiheit, für eine gendergerechte Sprache kämpfen zu können, wird natürlich von der Gegenseite als Einschränkung ihrer Freiheit verstanden - denn auch die Freiheit, dumme Meinungen zu äußern, ist eine Freiheit.
Das Kernargument derjenigen, die über „Cancel Culture“ und ähnliche rechtspopulistische Kampfbegriffe schwadronieren, ist die - durchaus zutreffende - Einsicht, dass eine Selbstzensur der Gesellschaft stattfindet. Daher: Es ist nicht mehr der Staat, der etwas zensiert oder verbietet, sondern es findet ein öffentlicher Diskurs darüber statt, welche Meinungen „okay“ sind und welche nicht. Und desto größer der Teil der Gesellschaft ist, der eine Meinung für „nicht okay“ befindet, desto stärker sind die Auswirkungen, wenn man diese Meinung dennoch öffentlich äußert.
Das kann man als im Kern grund-demokratisch empfinden, aber gerade wenn man viele Meinungen vertritt, die von vielen als „nicht okay“ empfunden werden, wird man das natürlich als Problem wahrnehmen.
Mit anderen Worten:
Wir befinden uns mitten in einer Umbruchphase, in der über einen gigantischen semi-öffentlichen Dialog erörtert wird, wo wir gesellschaftlich hin wollen. Und wie immer gilt hier: Währet den Extremen, in beide Richtungen.
Wie gesagt, das sind die Extrempositionen. Absolute Gleichheit unter Ablehnung jeder Freiheit wäre Orwell / real-existierender Sozialismus. Das will denke ich niemand.
Absolute Freiheit unter Ablehnung jeder Gleichheit bedeutet im Kern das Recht des Stärkeren und absoluten Raubtierkapitalismus, quasi gelebten Darwinismus. Das will denke ich auch niemand.
So gesehen ist Freiheit und Gleichheit eine Skala (1= extreme Freiheit ohne Gleichheit, 10 = extreme Gleichheit ohne Freiheit) und die Frage, ob man Freiheit oder Gleichheit bevorzugt, sagt nur, ob man auf der Skala eher im Bereich 1-5 oder 6-10 steht. Die gesellschaftliche Verteilung dürfte hier eine typische Gaußsche Normalverteilung sein, daher eine große Glocke mit Maximum irgendwo zwischen 5 und 6, deren extreme Ausläufer bei 1 und 10 höchstens nicht mal ein Promille der Gesellschaft beinhalten.