Framing „die Welt ist nicht mehr, was sie war“

Ich lese und höre das so oder so ähnlich immer wieder. „Am 24.2. bin ich in einer anderen Welt aufgewacht“.

Das ist nach meiner Überzeugung nicht richtig!

Alle in den letzten Jahrzehnten geschaffenen bi- und multilaterale Verträge, Regeln, Strukturen, etc. sind unverändert in Kraft! Nur einer hält sich seit dem 24.2. (eigentlich schon seit viel länger!) nicht dran.

Die Schulordnung wird ja nicht einfach außer Kraft gesetzt, nur weil ein neuer Schulhofschläger eingeschult wurde, der mit dem Konzept der gnadenlosen Brutalität die Mitschüler terrorisiert und ihnen seinen Willen aufzuzwingen versucht. Vielmehr muss die Schulordnung halt auch bei ihm durchgesetzt werden.

Im Fall von Russland ist das nicht ganz so einfach wie beim Schulhofschläger. Aber es ist - in verwende dieses Wort eigentlich nicht gern - „alternativlos“

Das o.g. Framing und Narrativ ist gefährlich, denn damit konzedieren wir Putin einen Erfolg, den er er nur dann bekommen wird, wenn wir die multilaterale Rechtsordnung nicht durchsetzen

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Auf welche Verträge beziehst Du Dich da? Von den seit der Kubakrise geschlossenen Verträgen zur Rüstungskontrolle sind jedenfalls nur noch wenige in Kraft. Von den Verträgen, die nur die USA, Russland und deren Verbündete betreffen gilt soweit ich weiß nur noch ein einziger.

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Ich rede u.a. von bi- und multilaterale Verträge, Regeln, Strukturen-

  • UNO Charta (u.a. Verbot militärischer Gewalt), Völkerrecht (u.a. Ächtung des Angriffskriegs)
  • KSZE Schlussakte von Helsinki (die unterzeichnenden Staaten verpflichteten sich u.a. zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur friedlichen Regelung von Streitfällen, zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sowie zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten)
  • OSZE
  • Europarat
  • G7, G20
  • Europäische Union
  • NATO
  • Budapester Memorandum (darin verpflichteten sich Russland, USA und gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder zu achten).
  • Atomwaffensperrvertrag
  • Internationaler Gerichtshof
  • Internationaler Strafgerichtshof
    und vermutlich wohl noch so einige mehr

Ah, OK. Bei einigen der von Dir genannten Verträge ist Russland allerdings kein Mitglied (EU, NATO, G7, G20, Internationaler Strafgerichtshof). Und zumindest beim Atomwaffensperrvertrag erschließt sich mir nicht, inwiefern der Russland aktuell einschränkt.
Ich hatte eher an Verträge gedacht, die Russland schon bei den Kriegsvorbereitungen behindert hätten - weil sie z.B. Waffensysteme oder Stationierungsorte limitieren, oder Inspektionen ermöglichen etc. Sowas gab’s ja alles mal.

Aus den G7 wurde Russland wegen der Annexion der Krim ausgeschlossen, davor waren sie Mitglied, bei den G20 sind sie noch dabei.

ja, alles richtig, aber wichtig ist: alle diese Verträge und Operationen sind unverändert noch da. Nur Russland hat beschlossen, nicht mehr dabei zu sein. Wir leben nicht in einer anderen Welt! Sondern Russland hat sich aus dieser Welt verabschiedet.

Naja, ich denke für viele Menschen stimmt das schon. Der Punkt ist ja nicht, dass die ganzen Strukturen und Verträge nun auf einmal nicht mehr gültig wären. Manche wie die NATO-Russland-Grundakte sind nun natürlich hinfällig.

Aber der Punkt ist doch der, dass wir in Europa uns eingeredet haben, die Machtpolitik hinter uns gelassen zu haben. Diese Illusion, dass man die regelbasierte internationale Ordnung nicht verteidigen müsse, wurde durch die russische Invasion nun zerschmettert. Insofern sind wir schon in einer neuen Welt aufgewacht.

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Das würde ich eher framen als: „Wir sind aus einer Illusion in die Realität aufgewacht“.

Aber das o.g. Framing impliziert ja, dass die ganzen Verträge, Strukturen etc. hinfällig sind und durch neue ersetzt werden müssen. Das ist bereits eine implizite Kapitulation vor dem skrupellosen Schulhofschläger. Nein: Wir müssen die Verträge, Strukturen etc., die die regelbareren, multilaterale Ordnung in Europa definiert haben, verteidigen!

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Nein. Das Framing ist, dass die Meisten Verträge, Strukturen etc., die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die internationale Sicherheit garantiert haben nicht mehr existieren. Dass sie fahrlässig aufgekündigt oder nicht verlängert wurden, und sich erst Recht niemand die Mühe gemacht, sie weiter auszubauen. Ein paar Beispiele:
ABM (1972): Vertrag zwischen der USA und der Sowjetunion zur Begrenzung der Raketenabwehr (2002 durch USA gekündigt)
START 1 (1991): Vertrag zwischen den USA und Sowjetunion zur Reduzierung der Bestände weitreichender Systeme über 5.000 Kilometer (2009 ausgelaufen)
Open Skies (1992): Vertrag zwischen NATO- und und ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, der gegenseitige Überwachungsflüge erlaubt (USA kündigen 2020 Ausstieg an)
New START (2011): Vertrag zwischen den USA und Russland zur Begrenzung des strategischen Kernwaffenpotenzials (läuft am 5.2.2021 aus; Update: der ist um 5 Jahre verlängert)
Quelle: Atomare Rüstung - Rüstungskontrolle in der Krise | deutschlandfunk.de

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Make no Mistake: Dein Framing versucht, Putin ein nachvollziehbares Argument für seinen skrupellosen Angriffskrieg zu servieren.

Es mag durchaus sein, dass der Westen in einer überheblichen Überlegenheit in Sachen Rüstungskontrolle nicht sinnvoll gehandelt hat. Aber das rechtfertigt in keiner Weise diesen Angriffskrieg.

(Ich mich mit den Gründen, warum v.a. die USA so gehandelt hat, bislang nicht beschäftigt. Gibt es dazu seriöse historische Analysen?).

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Soweit mir bekannt ist wurden die aufgelisteten Verträge entweder auf Bestreben der USA nicht verlängert oder weil beide Seiten sie für unnötig gehalten haben. Die Sowjetunion unter Gorbatschow wollte noch sämtliche Atomwaffen verschrotten. Die USA fand das nicht zielführend, denn sie gewann ja gerade das Wettrüsten.

Da bin ich grundsätzlich bei dir. Man muss denke ich unterscheiden, in welchem Teil der Welt man keine militärische Machtpolitik mehr erwarten/fürchten braucht.
Es ist ja zum Beispiel extrem unwahrscheinlich, das Deutschland in der aktuellen geopolitischen Lage Krieg gegen Frankreich führen wird. Oder Frankreich gegen Großbritanien. Obwohl diese Länder in der Geschichte oft gegeneinander gekämpft haben.

Aber es stimmt schon, dass das Friedenspotenzial der Globalisierung im Osten Europas offenbar überschätzt wurde, geht mir persönlich auch so.
Offenbar hat allerdings auch Russland die „Globalisierungsverluste“ unterschätzt, die so ein Krieg dann doch nach sich zieht, besonders wenn er so lange dauert und so blutig verläuft.

Das trifft es ganz gut.

Finde ich nicht. Den solche Verträge sind ja gegenseitige Zusagen. Wenn die fehlen ist das mMn erstmal kein Grund für Agressionen.

Wirklich alle? Hast du da eine Quelle.

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15.01. Gorbatschow schlägt in Moskau einen Drei-Stufen-Plan für den Abbau aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor. » Im Wortlaut (PDF) aus dem IPPNW-Rundbrief 17/1986

Quelle:
https://www.atomwaffena-z.info/geschichte/chronik-des-atomzeitalters/1980-1989/artikel/60afd6bc427da345e4761f05a8b385b7/1986.html

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Stimmt!

Tja, vielleicht hätte man doch mal auf die Osteuropäer hören sollen…

Da unterschlägst du aber, dass auch Ronald Reagan Atomwaffen als zutiefst verabscheuenwürdig empfand und sich die beiden (also Reagan und Gorbachev) auf Island fast (!) auf die vollständige Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale geeinigt hätten.

Habe ich nicht unterschlagen, sondern war in dem Kontext irrelevant. Die Initiative ging von der Sojetunion aus. Außerdem scheiterte die vollständige atomare Abrüstung an der Nato und den USA, zumindest ist es das was überliefert wird.

Aus meiner Sicht rechtfertigt dieses Argument in keiner Weise den Angriffskrieg Russlands, aber es gehört doch zu einer vollständigen Betrachtung der Situation dazu.
Der Bedarf nach einer ausgewogenen Sicherheitsarchitektur in Osteuropa, die für alle Staaten eine zufriedenstellend Lösung bieten, ist scheinbar ziemlich ignoriert worden. Die Ukraine hat in den 90er alle dort befindlichen Atomwaffen abgegeben, nun - seit 2014 - stehen sie alleine da. Russlands Ablehnung der weiteren NATO-Osterweiterung wurde irgendwie zu den Akten gelegt, so berechtigt ein Verweis auf die Souveränität jedes Landes, Verträge zu schließen, auch ist.
Mir werden in dem Zusammenhang ein bisschen zu viel mantra-artige Formeln wiederholt statt einer etwas tieferen Auseinandersetzung, die zumindest die Beweggründe und Bedürfnisse aller Seiten einmal feststellt.
Wie gesagt, das rechtfertigt diesen völkerrechtswidrigen Angriff überhaupt nicht, aber irgendeine Logik hat ja dazu geführt. Diese zu verstehen müsste doch der Startpunkt einer möglichen Nachkriegsordnung sein, die eine stabil friedliche Situation möglichst lange herstellt.

Die Logik, die zu dem Angriffskrieg geführt hat, ist die des skrupellosen brutalen Schulhof-Schlägers, vor dem jeder „kuscht“ aus Angst, eins auf‘s Maul zu bekommen.

Der Fehler war nicht, dass wir Putin nicht früher entgegen gekommen ist (das hilft bei einem Schulhofschläger nie!), sondern dass wir nicht viel früher klar und unmissverständliche Grenzen gezogen haben. Das das sind alles Einsichten im Rückblick. Das kann jeder. Es hat sich einfach kaum jemand vollstellen wollen, dass wir es hier mit handelnden Personen zu tun haben, die in kleinster Weise vor massiven Lügen und Gewalt zurückgeschreckten. Das scheint noch viel mehr „Reich des Bösen“ zu sein als es die Soviet Union nach Stalin jemals war.

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Wobei die Niederschlagung der Freiheitsbewegungen in Ungarn und der Tschechoslowakei genauso nach Stalins Tod passiert sind wie die Invasion in Afghanistan mit Hunderttausenden Toten und Millionen Flüchtlingen. Die Sowjetunion war Zeit ihrer Existenz ein „Reich des Bösen“. Das heutige Russland knüpft daran schon seit einigen Jahren daran an.