Ich frage mich in der aktuellen Impfpflichtdebatte warum viel davon gesprochen wird, dass der Fraktionszwang aufgehoben wird und die Parlamentarier:innen nur ihrem Gewissen verpflichtet sind.
Ich kann es noch nachvollziehen, dahingehend, dass ich mit meiner Zweitstimme eine Partei wähle und somit die Ansichten der Partei auch vertreten werden von den Abgeordneten. Aber mit meiner Erststimme wähle ich ja eine konkrete Person, die meinen Wahlkreis repräsentieren soll, wie kann diese also einem Fraktionszwang unterliegen und wie bindend ist dieser in der Realität?
Willkommen im Forum @Patrikj
staatsrechtlich betrachtet ist die Fraktionsdisziplin in keiner Form zwingend bzw. bindend. Abgeordnete genießen das freie Mandat, Art. 38 I GG, und unterliegen in ihrem Stimmverhalten keinem Zwang. Sie können in jeder Abstimmung gegen ihre Fraktions- oder Parteilinie stimmen und sind theoretisch sogar dazu in der Lage, entgegen jedem Wahlversprechen politisch tätig zu sein. Im Zweifel führt das aber natürlich dazu, dass sie zur nächsten Wahlperiode nicht mehr von der Partei aufgestellt bzw. vom Wähler abgestraft werden, sodass dies in der Praxis äußerst selten der Fall ist.
Das heißt übrigens nicht, dass die Fraktionsdisziplin, also die faktische Druckausübung auf einzelne Abgeordnete mit Blick auf ein bestimmtes Stimmverhalten, im Umkehrschluss unzulässig ist, da der Beitritt in eine Fraktion freiwillig ist und somit den Abgeordneten auch stets die Möglichkeit offen steht, sich keiner innerhalb einer Fraktion bestehenden Disziplin zu unterwerfen. Die Androhung von Sanktionen im Falle eines bestimmten Stimmverhaltens ist der s.g. Fraktionszwang, welcher wiederum verfassungswidrig ist. Die Trennlinie droht natürlich auch zu verschwimmen, hier sind immer genaue Einzelfallbetrachtungen gefragt.
Politisch ist Fraktionsdisziplin erwünscht; Es geht darum, effektiv und schnell zu arbeiten, Geschlossenheit nach Außen zu verkörpern und Anträgen einzelner Abgeordneter (häufig aus Minderheiten) schnell Schlagkraft zu verschaffen.