Fragen rund um Corona

Lieber Phillip, lieber Ulf,

erst einmal vielen Dank für die Mühe, die Ihr Euch mit Eurem Podcast jede Woche macht. Ich höre Euch fast von Anfang an und empfinde die Gründlichkeit, mit der Ihr viele Themen angeht als sehr wohltuend im Medienbetrieb. Jüngstes Beispiel dafür ist aus meiner Sicht der Bericht zu Armin Laschets Biographie.

Bei Euren Berichten rund um Corona empfinde ich das manchmal so. Immer wieder einmal bleibe ich an Aussagen hängen, wo ich mich frage, ob Ihr das wirklich so meint, oder ob es nur verkürzt rüberkam bzw. warum Ihr bestimmte Aspekte oder Fragen nicht aufgreift, die aus meiner Sicht zum Gesamtbild dazugehören. Ein paar Beispiele:

In der letzten Sendung (LdN 250, ca. ab 1:20) macht Ihr folgende – aus meiner Sicht vollkommen richtige – Rechnung auf: 91.817 Todesfälle / (3.799.425 bekannte Fälle * Dunkelziffer laut Mainzer Studie) = 1,35% Sterblichkeit (Ich habe mal die Zahlen von heute genommen Corona Zahlen für Deutschland - aktuelle COVID-19 Statistik). Ihr wollt damit deutlich machen, wie gefährlich Corona ist. Nun sind von den 83.091.890 Einwohner*innen, die Anfang 2019 in Deutschland gelebt haben, im Jahr 2019 – also vor Corona – 939.537 Personen gestorben. Das entspricht einer Sterblichkeit von 1,13%. Die müsstet Ihr bei Eurer weiteren Rechnung aber einbeziehen, will heißen: Von 32,8 Millionen nicht geimpften werden pro Jahr ohnehin 1,13%, also 370.000 Personen sterben – selbst wenn sie sich noch alle impfen lassen würden. Auf das Konto von Corona ginge also „nur“ die Differenz 0,22%, was 72.000 Personen entspricht. Ob das jetzt viel oder wenig ist, will ich an dieser Stelle gar nicht bewerten. Die 432.000 Tote, die Ihr in der Sendung nennt, finde ich in dem Kontext verkürzt. Eure und meine Rechnung geht natürlich nur auf, wenn wir davon ausgehen, dass das Sterberisiko allgemein und durch Corona in der gesamten bzw. nicht geimpften Bevölkerung gleich verteilt ist, was bekanntermaßen nicht zutrifft.

In der gleichen Folge (ab 1:10) berichtet Ihr, dass R0 bei der Delta-Variante bei 6 bis 8 läge. Ich hätte mich da an Eurer Stelle gefragt, wie dieser Wert bestimmt wurde. In welchem Land der Welt ließe sich derzeit die Ausbreitungsgeschwindigkeit unter der Bedingung messen, dass es gar keine Gegenmaßnahmen gibt? Ich vermute eher, dass es sich um eine Modellrechnung handelt, womit die Frage verbunden wäre, welche Annahmen dem Modell zugrunde lagen und ob sie auf unsere jetzige Situation übertragbar sind. Ebenso interessant fände ich die Frage, welches tatsächliche R die Delta-Variante unter den jetzigen Bedingungen bei uns hat und wie das zu bewerten ist. Wenn R0 rund dreimal so hoch ist wie vor einem Jahr, warum sind dann die jetzigen R-Werte des RKI nicht dreimal so hoch wie im letzten Sommer? Fragen über Fragen …

Eher nebensächlich ist in dem Zusammenhang, dass Ihr aktuell von einem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen sprecht – wahrscheinlich im Eifer des Gefechts. Seit die Fallzahlen wieder steigen (6. Juli), nehmen sie linear zu, um etwa 4 Fälle pro Woche. Wir hatten natürlich schon exponentielles Wachstum – im Herbst letzten Jahres sogar „überexponentiell“ – aber derzeit eben nicht. Vielleicht könnt Ihr an solchen Stellen Eure – durchaus ernst zu nehmende – Sorge vor einem zukünftigen exponentiellen Anstieg von der nüchternen Situationsbeschreibung trennen. Das würde mich beruhigen, weil „exponentiell“ natürlich ein Signalwort ist.

Zu den Fragen oder Themen, die aus meiner Sicht in der Berichterstattung zu kurz kommen, gehört neben vielen anderen die Frage nach den langfristigen Nebenwirkungen der Impfstoffe. Ich habe in den letzten Tagen viele Artikel mit dem Tenor „Wie man Impfskeptiker überzeugt“ gelesen. In keinem wurde dieser Aspekt angesprochen. Sowohl bei den Vektor- als auch bei den mRNA-Impfstoffen handelt es sich ja um neue Technologien, die in diesem weltweiten Umfang noch nie eingesetzt wurden. Ein Blick in die Technikgeschichte sollte eigentlich lehren, dass der allzu beherzte Einsatz neuer Technologien durchaus schon einmal zu Problemen führen kann (Atomkraft, DDT, Asbest, fossile Brennstoffe, …), die „die Wissenschaft“ zum Zeitpunkt der Einführung für vollkommen ausgeschlossen hielt oder schlicht nicht kannte. Dies sollte aus meiner Sicht in die Überlegungen eingepreist werden. Wenn ein 80jähriger ein hohes Risiko hat, im Fall einer Infektion an Corona zu sterben, dann mag er mögliche Nebenwirkungen, die erst in zehn Jahren virulent werden, gerne in Kauf nahmen. Insofern war ich sehr froh, als meine Eltern geimpft waren. Bei einem 18jährigen, dessen Sterberisiko deutlich niedriger ist, sieht die Rechnung schon ganz anders aus. Insofern wäre es mir beispielweise deutlich lieber, ich könnte meine Kinder mit einem „klassischen“ Impfstoff impfen lassen. Es ist vollkommen klar, dass derzeit niemand etwas über langfristige Folgen sagen kann. Das heißt aber nicht, dass diese Überlegung im Diskurs keine Rolle spielen darf.

Ein anderer Aspekt, der aus meiner Sicht in der öffentlichen Debatte zu kurz kommt, ist das unzureichende Monitoring der gesamten Pandemiesituation durch die Behörden. Dazu ein paar Beispiele:

  • Erst nach einer kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion im April 2021(!) wurde begonnen zu erfassen, wie alt die Menschen sind, die wegen Corona intensivmedizinisch behandelt werden. Das Bundesgesundheitsministerium konnte zuvor dazu keine Auskunft geben.

  • Die Inzidenzen werden pro Landkreis erhoben. Soweit ich sehe, findet aber keine Standardisierung der Inzidenzen mit Blick auf die Anzahl der gemachten Tests statt, was einen Vergleich natürlich schwierig macht. Wo mehr getestet wird, wird man auch mehr Fälle finden. Nachdem wir im März einen Corona-Fall in der Familie hatten, waren wir beispielsweise erstaunt, dass unser Gesundheitsamt weder die anderen drei Familienmitglieder noch die Kontaktpersonen testen ließ. Falls ein anderes Gesundheitsamt dies anders handhabt, wäre dort mit höheren Inzidenzen zu rechnen. (Dies würde die meist niedrigen Inzidenzen unseres Landkreises erklären …)

  • Heute Morgen muss ich in der Süddeutschen lesen (Inzidenz steigt auf 36,2 - Politik - SZ.de), dass das „Digitale Impfquotenmonitoring“ (DIM) der RKI die Impfquoten vermutlich unterschätzt.

Die Liste ließe sich fortführen. Bedenklich daran ist aus meiner Sicht, dass mit diesen nicht vorhanden, schlecht erhobenen oder wie im Fall von Karl Lauterbach (Alter der Intensivpatienten) auch einfach mal nur geratenen Werten Politik gemacht wird bzw. im Fall der Inzidenzen ja auch ganz konkrete Grundrechtseinschränkungen davon abhängig gemacht werden. (Insofern hat mich auch gewundert, dass die GFF nur gegen die Ausgangssperren klagt und nicht gegen das jetzige Inzidenzverfahren als solches. Zumal die Inzidenz/Infektion selbst am Ende ja gar nicht vom Staat, sondern von Privatunternehmen, den Laboren gemessen wird. An dieser Stelle einen Dank an Ulf für sein Engagement mit der GFF!)

Dass ich gerne Lage der Nation höre, hat viel damit zu tun, dass beim Sehen, Hören oder Lesen vieler anderer Medien für mich Fragen offen bleiben, die ich gerne beantwortet bekommen hätte. Oft bekomme ich die Antwort dann in der Lage. Vielleicht könnt Ihr beim Corona-Thema auch mal den einen oder anderen Hintergrund beleuchten.

Viele Grüße und Danke!

Markus

Dabei sind die Zahlen relativ leicht zu recherchieren.

Alle Zahlen RKI/destatis KW 30

Fallsterblichkeit nach Alterskohorte:

min. 835.926 Infektionen in der Altersgruppe 59+ bei max. 87.321 Toten 59+ ~ 10,45%
min. 2.332.459 Infektionen in der Altersgruppe 19-59 bei max. 4.195 Toten 19-59 ~ 0,18%
min. 601.222 Infektionen in der Altersgruppe 0-19 bei max. 25 Toten 0-19 ~ 0,004%

Ungeimpft sind

max. 18,3% in der Altersgruppe 59+ bei 24.090.000 Menschen ~ 4.333.620 Ungeimpfe
max. 40,0% in der Altersgruppe 20-59 bei 42.860.000 Menschen ~ 17.144.000 Ungeimpfe
max. 90,0% in der Altersgruppe 0-19 bei 16.210.000 Menschen ~ 14.589.000 Ungeimpfe

Entspricht: 40% der Ungeimpften Menschen sind 01-19, 48% sind 20-59 und 12% sind 60+

Erwartete Tote:

In der Altersgruppe 59+: 4.333.620 * 10,45% ~ 452.960 Tote
In der Altersgruppe 20-59: 17.144.000 * 0,18% ~ 30.834 Tote
In der Altersgruppe 0-19: 14.589.000 * 0,004% ~ 606 Tote

Summe 484.400

Das unterstellt:

  1. ALLE in den o.g. Altersgruppe infizieren sich.

Korrekturfaktor: unbestimmbar aber vermutlich <0,1

  1. Alle Infektionen wurde gemeldet, d.h. Fallsterblichkeit ist korrekt.
    Das kann ausgeschlossen werden. Dunkelziffer 2-3.

Korrekturfaktor entsprechend 0,5 - 0,33

  1. Keine Dynamische Entwicklung der Pandemie. Keine Überlastung der Kliniken.

Das kann ausgeschlossen werden, da 35.000.000 Infizierte das Gesundheitssystem zur Überlastung bringen würde. Eine medizinische Versorgung könnte nicht gewährleistet werden.

Korrekturfaktor: 2-3

  1. Die Zahlen zu den Impfungen sind so korrekt und es kommen keine neuen hinzu.

Das kann ausgeschlossen werden, da ein erheblicher Teil der in Deutschland lebenden im Ausland geimpft wurde, bzw. Impfstoffe verabreicht bekamen, die nicht: BioNTech, Moderna, AstraZeneca oder Janssen entsprachen.

Korrekturfaktor: 0,9

Realistischerweise kann mit einer Todeszahl von < 10.000 Personen gerechnet werden.

Eine andere Betrachtung könnte wie folgt lauten:

Ausgehend von einer Inzidenz von 100/100.000/7 Tage und 22 Wochen verbleibend ~ 1.760.000 Infektionen über 22 Wochen.

Bei einer gemittelten Infektionssterblichkeit von 0,4 * 0,004% + ,48 * 0,18% + ,12 * 10,45% ~ 1,34% entspricht dies 1,34% gemittelte Lethalität * 1.760.000 Infektionen = * 23.584 Tote*.

Bilden wir jetzt den Mittelwert ergibt sich eine maximal erwartete Anzahl Menschen, die mit Corona gestorben sind von 10.000 + 23.584 / 2 = 16.792.

Von den 16.792 Menschen wären in diesem „Modell“ ca. 1.700 unter 59.

Wie gesagt, bei einer Inzidenz von dauerhaft 100 oder eine Infektionsrate von 100%. Hinzu kommt die Annahme, dass sowohl Lethalität als auch Impfquoten korrekt sind und dass keine Geimpften dazu kommen.

Jeder dieser drei Faktoren dürfte deutlich überzeichnet sein, wir nehmen sie aber als worst case Betrachtung einmal an.

Eine letzte Schätzung könnte auf Grundlage der britischen Daten erfolgen. Fallsterblichkeit dort <0,005% über die letzten 180 Tage.

Nehmen wir nun wieder unsere 1.760.000 Infektionen bei einer 100er Inzidenz durchschnittlich, kämen wir auf 8.800 Tote. Das entspräche ziemlich genau den Zahlen, die wir im Moment überall sehen. Natürlich wären 1.760.000 Infektionen … öhm … ja … also fast unmöglich, es sei denn, wir öffnen alles.

Zu der Sterblichkeit gibt es eine ausführliche Auswertung des statistischen Bundesamtes. Du findest sie hier:

Auswertung des Statistischen Bundesamtes

In der gleichen Folge (ab 1:10) berichtet Ihr, dass R0 bei der Delta-Variante bei 6 bis 8 läge. Ich hätte mich da an Eurer Stelle gefragt, wie dieser Wert bestimmt wurde. In welchem Land der Welt ließe sich derzeit die Ausbreitungsgeschwindigkeit unter der Bedingung messen, dass es gar keine Gegenmaßnahmen gibt? Ich vermute eher, dass es sich um eine Modellrechnung handelt, womit die Frage verbunden wäre, welche Annahmen dem Modell zugrunde lagen und ob sie auf unsere jetzige Situation übertragbar sind. Ebenso interessant fände ich die Frage, welches tatsächliche R die Delta-Variante unter den jetzigen Bedingungen bei uns hat und wie das zu bewerten ist. Wenn R0 rund dreimal so hoch ist wie vor einem Jahr, warum sind dann die jetzigen R-Werte des RKI nicht dreimal so hoch wie im letzten Sommer? Fragen über Fragen …

Ich würde vermuten, dass das hochgerechnet wurde, bezogen auf die R-Werte der anderen Varianten. Bsp.: Wenn Alpha im Kampf gegen Ursprung einen 2x so hohen R-Wert hat und Delta im Kampf gegen Alpha auch einen 2x so hohen R-Wert hat, dann hat Delta im Vergleich zur Ursprungsvariante einen 4x so hohen Anstieg. Wenn R_0 ursprünglich bei 2 lag, so liegt für Delta der R-Wert bei 2x4=8. (Beispielrechnung mit Beispielwerten).
Im allgemeinen gibt es keinen fixen R_0-Wert. R_0 sollte die durchschnittliche Ansteckung (anderer) eines Infizierten sein. Doch die Grundgesamtheit ist keine feste Masse, sondern variabel. In Ballungsgebieten wird der R_0-Wert höher sein, als im Wald, im Winter höher als im Sommer. Der R_0-Wert ist nur ein ungefähres Maß, um die Ausbreitung abschätzen zu können. Hier geht es nicht darum, ob der Wert jetzt 8 oder 8.33 oder 9 ist, sonder das er ungefähr bei 8-9 liegt.

Eher nebensächlich ist in dem Zusammenhang, dass Ihr aktuell von einem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen sprecht – wahrscheinlich im Eifer des Gefechts. Seit die Fallzahlen wieder steigen (6. Juli), nehmen sie linear zu, um etwa 4 Fälle pro Woche. Wir hatten natürlich schon exponentielles Wachstum – im Herbst letzten Jahres sogar „überexponentiell“ – aber derzeit eben nicht. Vielleicht könnt Ihr an solchen Stellen Eure – durchaus ernst zu nehmende – Sorge vor einem zukünftigen exponentiellen Anstieg von der nüchternen Situationsbeschreibung trennen. Das würde mich beruhigen, weil „exponentiell“ natürlich ein Signalwort ist.

Wie kommst du darauf, dass die Fallzahlen nicht exponentiell, sondern linear steigen? Hast du einfach nur ein Funktionsfitting betrieben, und gesehen, dass es eine lineare Funktion gibt, die das beschreibt? Das ist leider nicht ausreichend, um so eine Aussage zu rechtfertigen.
Bsp.: Schaust du dir die Funktion f(x)= [100,101]->R mit x |-> x^2 an, dann sieht diese Funktion linear aus, sie verläuft aber quadratisch. Solche Aussagen, wie exponentieller oder linearer Verlauf beziehen sich in der Regel auf das zu Grunde liegende Modell. Eine exponentielle Funktion kann z.b. auch ähnlich einer linearen Funktion aussehen. (lineare Funktion hat die Krümmung 0, je geringer die Krümmung wird, desto linearer wirkt die Funktion in den entsprechenden Grenzen. Deswegen kann es durchaus richtig sein, dass der aktuelle Verlauf exponentiell ist und nicht linear.