Europäisches Verbundnetz: aktuelle Marktschwankungen, mittelfristige Versorgungssicherheit

  1. Die Netzfrequenz des europäischen Verbundnetzes haut regelmäßig zur vollen Stunde nach oben oder unten aus dem Regelband, weil dann jeweils Lieferkontrakte auslaufen und an der Strombörse neu verhandelt werden. In der Situation springt immer die Netzstabilisierungsreserve ein, was kostspielig ist und die Reserve für „richtige“ Störfälle natürlich aufbraucht. Was ist da los am Strommarkt, wer profitiert davon und wie könnte man das sinnvoller bewerkstelligen?

  2. Deutschland schaltet seine Atom- und Kohle-Kraftwerke ab. Beide Kraftwerkstypen gehören zu den Dauerläufern, die den Grundbedarf decken, aber gleichzeitig auch den „50 Hertzschlag“ des Netzes bereitstellen. (Die Generatoren dieser Kraftwerke sind dem Vernehmen nach technisch äußerst präzise auf 50,000 Hz ausgelegt und leiden sehr, wenn davon abgewichen wird.)

Jetzt sind wir durch diverse Kraftwerks-Abschaltungen in Verbindung mit dunklen, windstillen Tagen schon öfter in die Situation gekommen, dass eigentlich schon abgeschaltete Kohlekraftwerke von der Netzagentur wieder ans Netz „gezwungen“ wurden, um die Frequenz zu halten. Zum Teil wohl als „Schwungreserve“ - stell ich mir so vor, verstanden habe ich es vermutlich nicht genau: Kohlekraftwerk feuert, Generator läuft (enorme Masse in Bewegung), liefert aber keinen Strom, sondern wird nur dann zugeschaltet, wenn die Netzfrequenz fällt. Weil er „warmgelaufen“ ist, geht das sofort. Umweltmäßig natürlich nicht soooo toll.

Problem Versorgungssicherheit / Blackout / Wiederanlauf: Es gibt Experten, die davon ausgehen, dass ein Blackout des Verbundnetzes nur eine Frage der Zeit ist, weil zu wenig in Kraftwerke (Ersatz für Ds Kohle und Atom?) und Leitungen investiert wurde. Problem, nach einem Blackout das Stromnetz wieder hoch zu kriegen, ist, dass Wind- und Solar keinen 50Hz-Takt bereitstellen können. (Bei PV ganz klar, die hängen mit einem Wechselrichter am Netz und „richten“ sich nach dem dort herrschenden Takt.) Welche Planungen gibt es für den Fall der Fälle?

Links:
Netzfrequenz aktuell - und die letzten Beinahe-Ausfälle: https://www.netzfrequenzmessung.de
z.B. die Netztrennung („Beinahe-Blackout“) am 08.01.2021: Online-Messung der Netzfrequenz: Aktuelle Informationen
Herbert Saurugg, zum Risiko eines Blackouts: https://www.saurugg.net/blackout/das-europaeische-stromversorgungssystem
Interview mit Herbert Saurugg zur Wahrscheinlichkeit und den Folgen eines Blackouts:
Herbert Saurugg: "Bei einem Blackout ist sofort alles aus" • NEWS.AT

Ich will jetzt nicht nach Abwechslung von Corona schreien, aber unser Stromnetz ist so ein Teil der kritischen Infrastruktur, um den ich mir inzwischen Sorgen mache.

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Sehr interessantes Thema!

Eigentlich gibt es doch die EU-Verordnung „Requirements for Generators“, die in DE in der VDE4105/4110/4120 umgesetzt ist und eigentlich genau diesem Problem begegnen sollte. Wäre mal spannend zu erfahren, ob die von dir beschriebene Problematik an nicht ausreichenden Vorgaben oder der mangelnden Umsetzung dieser Vorgaben liegt.

Hallo ansc,

Du hast dir da ein Hoch komplexes Thema angeschaut, das man aus verschiedenen Richtungen betrachten muss. Ich habe meine Bachelorarbeit dazu geschrieben mit welchen Preismodellen für Augleichsenergie man die Marktteilnehmer (jeder der Strom einspeist und annimmt) motivieren kann, das Stromnetz stabil zu halten. Um es ganz lapidar auszudrücken. Ich werde mich im folgenden versuchen mit einfachen Bildern zu behelfen, da deine Fragen wirklich sehr komplexe Themen in Physik Technik und Wirtschaft (und auch Recht) betreffen.

Zu Frage 1:

Die Frequenzschwankungen im europäischen Stromnetz werden durch jedes zu und Abschalten von Verbrauchern (zb Toaster oder Kühlschrank) sowie Erzeugern (Solaranlage auf dem Dach) verursacht. Zusätzlich werden diese rein physikalischen Ströme natürlich auch durch die marktbedingten Ströme der Börse beeinflusst, die in Termingeschäften oder Kurzzeitgeschäften Energieblöcke von mehreren Stunden bis zu Viertelstunden Blöcken handelt. Die Frequenz kann man sich sehr schön als Waage vorstellen, wo auf der einen Seite Abnahme und auf der anderen Seite Einspeisung auf einer Ebene sein sollte, wenn sie in die eine oder andere Richtung ausschlägt sinkt oder steigt die Frequenz.

Damit es nicht zu Stromausfällen kommt, wie man sie Anfang der 2000er erlebt hat, durch den Europa in mehrere Netze zersplittert ist und große Zonen von Stromausfall betroffen waren, gibt es die sogenannte Regelenergie, die in 3 Gruppen geteilt ist. Primärregelenergie(muss innerhalb von Sekunden das Netz im ist Zustand einfrieren und dafür sorgen, dass das Ungleichgewicht nicht größer wird), Sekudärreserve (muss innerhalb 30 Sekunden fur ein paar Minuten beginnen die Frequenz zurück in die Mitte zu schieben) und Tertiärreserve (bis zu 15 Minuten unterstützt die Sekundärenergie - hier können auch langsame Kraftwerke helfen). Alles was darüber hinaus länger dauert muss von denen, die das Ungleichgewicht verursacht haben, wieder an der Börse durch zu und Verkäufe geregelt werden. Die Primärenergie wird europaweit von allen TSO gemeinsam über ein Listenverfahren zugekauft und bei Bedarf überall gleichzeitig aktiviert. Die anderen beiden muss jeder TSO für sich beschaffen, dabei bieten Energieerzeuger ihre Bereitschaft ihre Einspeisung innerhalb der Zeiteinheiten hoch oder runter zu fahren. Bei allen drei Regelarten gibt es Preisliste für die Vorhaltung und die Aktivierung und es wird immer vom niedrigsten Preis ausgehend die Liste abgearbeitet bis der Bedarf gestillt ist. Außerdem gibt es einen Preisdeckel für die Aktivierung. Dadurch soll vermieden werden, dass die Kosten ins Nirwana schießen. Trotzdem werden die Anbieter der Regelleistung natürlich versuchen gute Gewinne herauszuholen. Es gibt da verschiedene Preisverfahren, die das im Rahmen hält.

Witschaftliche Maßnahmen:
Jeder Marktteilnehmer ist dazu verpflichtet Einspeisung und Abnahme im Gleichgewicht zu halten, dazu greift man auf Bilanzierung zurück. Die Marktteilnehmer bilden Bilanzkreise, die den Stromnetzbetreibern ihren Bedarf melden müssen und zugleich verpflichtet sind eine bilanzielle Null zu erreichen, dazu können sie untereinander ihre Ungleichgewichte austauschen oder, wenn das nicht möglich ist, müssen sie an der Börse entsprechend kurzfristig Miniblöcke zu- oder verkaufen.

Jeder dieser Bilanzkreise für sich ist verpflichtet eine Null zu erreichen, das ist jedoch sehr selten der Fall und die vielen kleinen Bilanzen werden von den Stromnetzbetreibern (TSO) zu Bilamzkreisen für ihr Netz zusammengefasst und die 4 deutschen TSO bilden noch einmal einen großen Bilamzkreis. Man kann es sich als eine große Bilanz mit vielen Konten und Unterkonten vorstellen, die ineinander verschachtelt sind. Jeder Kreis der in sich andere Kreise beinhaltet, ist verpflichtet, dass diese sich untereinander ausgleichen sodass auf seiner Ebene wieder möglichst nah die Null erreicht wird. Was das nicht erreicht, bedeutet den Einsatz des wirtschaftlichen Äquvaltents der Regelenergie (man muss sie ja irgendwie in die Bilanz packen), die sogenannte Ausgleichsenergie. Die Preise für Ausgleichsenergie sollen möglichst so gewählt werden, dass es den Bilanzkreisen weh tut und ein Anreiz geschaffen wird die Null zu erreichen. Es gibt da verschiedene Preismodelle, die verschiedene Anreize setzen. An dieser Stelle ist der Markt im Umbruch, dadurch das man zum Teil sehr schnell reagierende und super träge Teilnehmer am Netz hat, von wissenschaftlicher Seite hat man da schon viel ausgeleuchtet und jetzt wird es Stück für Stück gesetzlich und auf Verordnungsebene umgesetzt.

Wenn Lücken bei diesen Umstellungen auftreten (zb war am Anfang des letzten Jahrzehnts kurzfristig keine Deckelung des Arbeitspreises vorhanden), kommt es kurzzeitig zu Fehlern, die möglichst schnell korrigiert werden, da die Kosten den TSO richtig weh tun und sich diese vor der Bundesnetzagentur rechtfertigen müssen. Und was am, Anfang den TSO weh tut, wird am Ende den Bilanzkreisen weh tun.

Die vorgehaltener Primärleistung entspricht einer Größenordnung, das zwei große AKW gleichzeitig vom Netz abfallen. Wenn physikalisch ein TSO nach der Primärleistung nicht in der Lage ist, das Netz wieder ins Gleichgewicht zu bringen, lassen sich die Nachbarn vergüten, dass sie helfen. Dadurch ist preislich stets ein Anreiz geschaffen, das nicht einfach passieren zu lassen sondern Ordnung im eigenen Haus zu halten. Denn was über Entgelte an Endkunden weitergegeben werden darf, wird am Anfang des Jahres von der Bundesnetzagentur festgesetzt.

Sollte es zu einem echten Störfall wie 2007 kommen und die Systemdienstleistungen reichen nicht aus, wird an taktischen Stellen das einheitliche europäische Netz (das sich gemeinsam stabiler und billiger betreiben lässt als jeder allein) aufgespalten, es entstehen über Europa hinweg kleinere asynchrone Zonen, die es leichter haben sich wieder auszugleichen. Anschließend werden diese Zonen wieder synchronisiert und zusammen geschaltet.

Sorry für die wall of text, aber das ist kein leichtes thema. Wenn es dich noch weiter interessiert, empfehle ich dir die Untersuchungen des Fraunhofer IEE. Im Link findest du den vollständigen Bericht dieser Forschungsarbeit, aber auch gut aufbereitete Erklärvideos.

https://www.iee.fraunhofer.de/de/projekte/suche/2013/kombikraftwerk2.html

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Frage 2 Ist dagegen ein Psyikalisches Thema, zu dem ich im Studium die Grundlagen hatte, aber spontan keine Quellen zur Hand habe. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Thema sehr emotional debattiert worden, vor allem wenn die Lobbyinteressen der großen Erzeuger betrifft. Das was sie bereit stellen kann man unter Momentanreserve und Bildleistung als das wichtigste aufführen was die großen Kraftwerke bereit stellen, was man erneuerbaren Abschreiben will. Auch dazu wirst du im Kombikraftwerk Bericht einiges finden. Btw Momentanreserve, oder alt Schwungreserve, ist das was zwischen Störung und anlaufen der Primärenergie das Netz vor dem Zusammenbruch schützt. Es ist ein Taktgeber, der von den großen Kraftwerken physikalisch gegeben wird. Damals einfach weil, sich der Generator in diesem Takt gedreht hat. Heutzutage sind aber auch Windanlagen dazu da diesen takt elektronisch zu geben. Man hat mir während des Studiums erklärt, dass die Technologie, die zum Antrieb von ICE eingesetzt wird, die Momentanreserve an ein paar Stellen im Netz platziert, ebenfalls bereit stellen kann. Diese Technologie ist weger besonders neu, noch teuer. Es wäre vor allem unpraktisch nicht mehr gebraucht zu werden. Auch für die Bereitstellung von Blindstrom sind die technischen Fragen sehr weit geklärt, die können entweder durch regenerative Energien oder durch Elektronik im Stromnetz bereitgestellt werden, an der Stelle ist vor allem das Problem, dass es noch nicht von gesetzesseite geregelt ist und Netzbetreiber direkt Verträge mit jedem Einspeiser aushandeln muss, die von dem was bisher gesetzlich von jedem an Blindleistung eingespeist werden muss, abweichen. (denn ein bisschen Blindleistung muss jeder bringen)… Diese Problematik aus Punkt 2 ist also vor allem ein Punkt, der ein Problem ist, weil es ein polifisches Problem ist. Ich bin keine E-Technikerin und kenne mich nicht speziell mit der Leisgungselektronik aus, doch auch in den härtesten e-technischen) netzdynamischen Vorlesungen wurde das Thema stets nur als mathematische Herausforderung, nicht als technisches Problem bewertet.

Dein letzt angesprochenes Problem finde ich dagegen wieder sehr spannend :slight_smile: da gibt es auch ungemein viele Ansätze und ja, die ist Situation ist nicht optimal. Wir verändern die Struktur unseres Netzes grundlegend und dabei müssen viele Interessen unter einen Hut gebracht werden. Wie in der Klimapolitik könnte man hier viel weiter (und damit Sicherer) sein, würden alte Interessen nicht Veränderungen blockieren. Es würde das Netz schon deutlich entspannen, würden bestimmte Braunkohlekraftwerke nicht das Netz verstopfen weil sie auch zeitweise den oben genannten Preisanreizen gegenüber resistent wären, da es für sie billiger ist strafen zu zahlen, als das langsame Kraftwerk fur drei Tage vom Netz zu nehmen (was ei komplettes abschalten in den ältesten Anlagen bedeuten kann). An der Stelle hoffe ich auf eu-politische Anreize.

Ich entschuldige mich für Fehler, die sich durch das Schreiben am Handy eingeschlichen haben :innocent:

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