Natürlich will er das - welcher Verhandlungsführer würde jemals eine Verhandlung eingehen, wenn Teil der Verhandlung ist, dass der eigene Anführer getötet wird?!? Also das ist doch wirklich selbstverständlich, oder?!? Auch von Russland würden wir niemals als Teil einer Friedensverhandlung verlangen, dass Putin getötet werden muss. Wir würden vielleicht verlangen, dass er zurücktritt und sich politisch nicht weiter betätigt, aber wir würden wohl kaum seinen Tod verlangen, vermutlich nicht mal zwingend seine Auslieferung an Den Haag…
Diese Nazi-Vergleiche sind immer schwierig. Aber es ist ein interessantes Gedankenspiel.
Wenn man das ganze Leid der Nazi-Zeit damit um ein oder zwei Jahre hätte verkürzen können, damit vor allem die Zeit des industriell betriebenen Holocaust kürzer ausgefallen wäre - ohne Frage, oder? Wobei eine Amnestie vielleicht zu weit ginge, früher hat man in solchen Fällen die Leute verbannt (Elba und St. Helena lassen Grüßen), eine ähnliche Lösung hätte man vermutlich auch für jemanden wie Hitler finden können, wenn man dafür Millionen von Juden vor dem Tod im KZ hätte bewahren können.
Im Fall Sinwar lautet die Frage: Sollten wir wirklich die Rache im Sinne der Gerechtigkeit höher bewerten als das Überleben der Geiseln? Wie gesagt, eine Amnestie muss es nicht sein, eine Überlebensgarantie im Sinne von „Du kommst vor ein israelisches Gericht und wir werden nicht die Todesstrafe verhängen, aber gehe nicht davon aus, dass du jemals wieder das Tageslicht sehen wirst“ wäre da eher eine realistische „Überlebensgarantie“, die man auch im Falle Hitlers problemlos hätte geben können, wenn Hitler 1943 kapituliert hätte.
Warum wird das Töten dieser Personen für so wichtig erachtet, dass wir bereit sind, dafür den Tod Unschuldiger in Kauf zu nehmen, will mir nicht ganz einleuchten. Aber ich bin auch ein strikter Gegner der Todesstrafe, insofern ist es wohl nur folgerichtig, dass ich Todesforderungen in Verhandlungen generell für nicht zu rechtfertigen halte.
Nebenbei scheint Israel Sinwar sogar freies Geleit aus dem Gaza-Streifen angeboten zu haben, insofern sehe ich nicht, dass die Geiselverhandlungen daran gescheitert sein sollen (außer natürlich, Bibi hat seinem Verhandlungsführer reingegrätscht und das Angebot zurückgezogen…).
Möglichkeiten gibt es daher viele, dass du in deinem Beispiel direkt die extremste („Amnestie“) wählst, ist da etwas unglücklich. Die Reihenfolge ist wohl:
- Forderung der Auslieferung mit anschließender Todesstrafe.
- Forderung der Auslieferung mit anschließender lebenslanger Haft.
- Freies Geleit in’s Exil (ohne Zusicherung, dass später keine „Unfälle“ passieren werden).
- Amnestie.
Israel scheint hier bereit gewesen zu sein, bis zur dritten Stufe zu gehen, um die Geiseln frei zu bekommen, was ich begrüße. Die anderen Forderungen Israels waren eine neue Regierung im Gaza-Streifen und eine Demilitarisierung. Das sind vermutlich eher die Konfliktpunkte, insbesondere die Frage, wie weit die Demilitarisierung gehen soll (Stichwort Dual-Use-Güter).
Also dass Sinwar - falls er überhaupt noch lebt (da gibt es ja auch Vermutungen in die andere Richtung) - beim Abschluss von Verhandlungen zumindest mit dem Leben davon kommen wird, ist glaube ich relativ offensichtlich. Aber genau deshalb sagen Kritiker der israelischen Regierung auch, dass Netanyahu möglicherweise genau deshalb die Verhandlungen nicht erfolgreich abschließen will: Er will erst Sicherheit, dass Sinwar tot ist, bevor es einen Frieden gibt. Auch, weil das Netanyahus politisches Überleben sichern könnte, wenn er seinen eigenen „Bin Laden-Moment“ hätte…
Doof gesagt: Ja, es schmerzt im Gerechtigkeitsempfinden, wenn Sinwar diesen Konflikt überleben sollte, aber wenn es um das Leben einiger Unschuldiger geht muss man möglicherweise etwas pragmatischer sein und schmerzhafte Kompromisse eingehen (und dafür sorgen, dass die Feinde Israels es nie wieder schaffen, Geiseln zu nehmen, aber das ist glaube ich klar… die Grenze zum Gaza-Streifen wird wohl nie wieder so schwach bewacht werden, wie es am 07.10. der Fall war…)
TL;DR:
Wenn der Preis dafür, dass die Geiseln frei kommen, ist, dass Sinwar (vorerst) überlebt, dann ist das ein Preis, der durchaus gezahlt werden kann. Es ist ein schmerzhafter, pragamtischer Kompromiss, der natürlich Bauchschmerzen bereitet…