Eskalation durch Anschläge auf russische Infrastruktur

Egal ob die Anschläge auf Nord Stream und auf die Krim-Brücke tatsächlich von Russlands Feinden verübt wurden oder von Russland fingiert wurden, ich befürchte, dass eine Konsequenz die gleiche sein wird: die russische Führung schwört die russische Bevölkerung darauf ein, dass die NATO nun den Krieg nach Russland und insbesondere dessen kritische Infrastruktur bringen wird. Was schließlich die Mentalität von „militärische Spezialoperation“ direkt hin zum „totalen Krieg“ verschieben könnte, inklusive Generalmobilmachung und aller Mittel, die noch „irgendwie verhältnismäßig“ sind.

Sicherlich nicht verhältnismäßig wären Angriffe auf NATO-Gebiet, da Russland keinen konventionellen oder atomaren Krieg gegen die NATO gewinnen kann. Aber wie sieht das bei einer Reihe von taktischen Atomschlägen auf die westukrainischen Eisenbahnknoten aus? Die Ukraine wäre vom Nachschub abgeschnitten und die Nachkriegsordnung durch einen neuen, atomarverseuchten Eisernen Vorhang zementiert. Ob dieses oder ein ähnliches Szenario inzwischen wahrscheinlich ist, sei dahingestellt. Es wird auf jeden Fall wahrscheinlicher, wenn die ausführenden Atomwaffenoffiziere es in der Mentalität der „totalen Verteidigungsmaßnahme“ akzeptieren.

Warum schreibe ich das Ganze? Bisher war die Eskalationsstufe: Die NATO unterstützt die ukrainischen Streikräfte auf ukrainischem Gebiet, aber Angriffe auf (Kern-)Russland sind inakzeptabel. Ich plädiere dafür, dass wir auf dieser Eskalationsstufe bleiben sollten und das auch so ganz klar Richtung russische Führung kommunizieren sollten. Dementsprechend sollte die NATO die beiden Anschläge als inakzeptable Eskalationsversuche (durch wen auch immer) verurteilen und vertrauensschaffende Maßnahmen anbieten. Beispielsweise Russland anbieten gemeinsam mit den westlichen Anrainern die Nord Stream Pipeline zu untersuchen. Ob Russland mitmachen will, sei dahingestellt. Hauptsache es kommt dort an, dass wir nicht von uns aus die Eskalationsspirale hochdrehen wollen.

Dazu braucht man keine Atomwaffen - siehe Sabotage der deutschen Bahn.

Ich fürchte, das wird nicht funktionieren. Und zwar weil es in Putins Interesse ist, wenn da ein Gerücht umgeht, der Westen verübe Anschläge auf russische Infrastruktur. Ich denke auch, das Vertrauen ist so demoliert, dass diese Verurteilungen den Kreml kaum kümmern würden, gerade vor dem Hintergrund der eigenen Einstellung zur Wahrheit. Schließlich verurteilt und bestreitet der Kreml ja auch jedwede Aktivität, die er in Wirklichkeit selbst verursacht hat.

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Die Ukraine greift seit Beginn des Krieges auch Ziele auf russischem Staatsgebiet an, wann immer das ihr möglich ist. Eines von unzähligen Beispielen: https://twitter.com/RALee85/status/1509763703901761556
Der Angriff auf die Brücke zur Krim-Halbinsel sticht lediglich aufgrund des Propaganda-Wertes heraus.

Auf welcher Sachgrundlage sollte sich der Westen hier distanzieren? Dass die ukrainische Führung nicht vorhat, bis nach Moskau zu marschieren oder sich sonstwie auf russischem Staatsgebiet breit zu machen, steht doch außer Frage.

Wenn wir davon ausgehen, dass Putin sich mit dem Angriff auf die Ukraine zwar grob verschätzt hat, aber grundsätzlich zu rationalen Chancen-Risiken-Abwägungen in der Lage ist, dann zeigt das Ausbleiben des Einsatzes von Kernwaffen bereits, dass er sich davon keinen Vorteil erhoffen kann. Sonst wäre es schon dazu gekommen. Die russische Armee verliert ja gerade den konventionelle Krieg.
Sollte Putin dagegen schlicht „irre“ sein, dann ist das Handeln der russischen Führung ohnehin kaum vorherzuberechnen.

Da es dem Westen aber vermutlich einige Zeit im Voraus bekannt werden wird, wenn tatsächlich mit Kernwaffen bestückte ballistische Raketen oder Marschflugkörper gefechtsbereit gemacht werden, gäbe es vermutlich noch ein Zeitfenster zur Reaktion, bevor die russische Führung diesen „Zug“ ausführen kann. Vermutlich würden die USA dann die Vorbereitungen der Russen publik machen und ankündigen, diese Flugkörper (und eventuell auch deren Startplattformen) mit eigenen Mitteln zu bekämpfen.

Meines Wissens liegen weder die Krim noch Bornholm in Russland.

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Genau das! Eine Rückeroberung der Krim durch die Ukraine ist keine Eskalation!

Wir sollten nicht den Fehler machen, diesen Brücken-Anschlag als Angriff auf russischem Staatsgebiet und daher als Eskalation zu werten, nur weil Russland die Krim als Staatsgebiet beansprucht.
Nun ist es so, dass die Brücke von Kertsch (Ukraine, Krim, von Russland annektiert) nach Taman (Russland) führt. Es wäre deshalb durchaus interessant, wo genau auf der Brücke die Explosion stattgefunden hat. Ich konnte dazu bisher leider keine Quelle finden.

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Während das natürlich stimmt, würde ich hier

nicht mitgehen. Auf der Krim würden natürlich viele eine ukrainische Offensive als Befreiung sehen. Viele aber auch nicht - ganz im Gegensatz zu den seit Februar besetzten Gebieten. Inzwischen auf der Krim lebende Russen würden vermutlich vertrieben. Eine Rückeroberung der Krim könnte die Stimmung in Russland derart kippen, dass auch die Zivilbevölkerung die Ukraine viel stärker als Bedrohung wahrnimmt. Das würde wiederum die Opposition gegen Putin schwächen. Ich kann mir weiterhin nicht vorstellen, dass eine militärische Rückeroberung der Krim eine gute Idee ist.
Die Angriffe auf die Infrastruktur müssen aber ja nicht das zum Ziel haben. Es könnte lediglich die logistische / militärische Schwächung Russlands sein.

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Das sehe ich leider nicht so.

Dass die Anschläge auf Nordstream nicht akzeptabel sind haben eigentlich alle Seiten erklärt, also der Westen sowie Russland. Hier gibt es daher gar kein Problem, zumal wirklich nicht klar ist, wer dahinter steckt, während ich weiterhin denke, dass eine russische Täterschaft am wahrscheinlichsten ist.

Die Anschläge auf die Krim-Brücke hingegen sind direkte militärische Handlungen der Ukraine, um die russischen Nachschubwege für den illegalen russischen Angriffskrieg abschneiden oder zumindest zu beeinträchtigen. Diese Anschläge sind absolut notwendig, ebenso wie all die Angriffe auf Treibstoff- und Munitionsdepots hinter der russischen Grenze, die zur Versorgung der Truppen in der Ukraine dienen. Dass das direkte Ziel ein Zug war, der Treibstoff und Panzer transportiert hat, spricht hier für sich im Hinblick auf die militärische Bedeutung dieses Zieles.

Die Versorgungslinien müssen bereits in Russland beschädigt werden, weil sonst keine hinreichend große Versorgungslücke erreicht werden kann.

Was der Westen klar machen sollte und auch erklären sollte, ist, dass man die Ukraine nicht unterstützen wird, „richtiges“ russisches Territorium zu besetzen, und sogar jede Unterstützung der Ukraine einstellen würde, wenn die Ukraine plötzlich einen „Russlandfeldzug“ starten würde, also tatsächlich in Russland einmarschieren würde.

Angriffe auf Logistikzentren im russischen Kernland sind okay, weil sie zwingend notwendig sind, um in diesem Krieg zu bestehen. Territorialgewinne der Ukraine gegen Russland (im Hinblick auf die Grenzen von vor 2014) sind hingegen weder sinnvoll noch gewollt.

Es entscheidet alleine Russland, wie stark es die Eskalationsspirale drehen will. Desto stärker die Niederlagen sind, die Russland erfährt, desto stärker wird es eskalieren, wenn es sich davon einen Vorteil verspricht. Die Konsequenz darf nicht sein, sich davon einschüchtern zu lassen.

Die Annexion des Donbass war bereits eine maximal-mögliche Eskalation Russlands, weil Russland damit nach Innen den totalen Krieg rechtfertigen kann, weil es ein Zurückeroberung der Ukraine nun als „Angriff auf russisches Staatsgebiet“ deuten kann. Dieses Spiel sollte der Westen aber nicht aus Angst vor Eskalation mitspielen.

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Viele der beschriebenen Lösungsansätze setzen voraus, das Russland eine ähnliche Denkweise und Logik verfolgt wie der Westen, also das eine gemeinsame Wertebasis besteht.

Das würde ich aktuell anzweifeln.

Russland propagiert zumindest von staatlicher Seite, und das ist aktuell die entscheidende Sichtweise, ein ganz eigenes Bild von der Welt.

In dieser Sichtweise ist der Westen, speziell die USA der Agressor, gegen dessen Machtstreben und gewaltsame Ausbreitung Russland sich verteidigen muss. Das nimmt teils ideologische bis fanatisch-religiöse Züge an, entbehrt aber nicht unbedingt alley faktischen Grundlagen.
Aus russscher Sicht kann man die NATO Osterweiterung durchaus als bedrohlich empfinden. Zudem wird auch Demokratie als bedrohlich empfunden, weil es staatliche Macht limitiert.

Solange man slso nicht auf einer vergleichbar inhaltlichen Basis verhandelt sehe ich grad wenig chancen für Diplomatie

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Ich bin nicht ganz sicher, wo du mit deinem Beitrag hin willst. Einerseits argumentierst du „vorsichtig“, weil du nur sagst, was „ratsam“ ist:

Andererseits ist das Fazit aus deinem Beitrag, dass die Ukraine die Krim nicht zurückerobern sollte, weil sie schon so lange besetzt ist. Faktisch heißt das, dass die Annektion durch Russland erfolgreich war und jetzt hingenommen werden soll, weil sie schon so lange Bestand hat.

Natürlich würde eine Rückeroberung der Krim den Unmut in der russischen Führung und vielleicht auch in der russischen Bevölkerung vergrößern. Dass man sich jetzt vertrieben oder angegriffen vorkommt, ist aber eine Konsequenz daraus, dass man es sich in seinem jahrelangen Unrecht zu bequem gemacht hat. Kein Mitleid.

Daher bleibe ich bei meinem Statement:
Die Eskalation ist durch Russland erfolgt, als sie die Krim besetzt haben. Diese jetzt zurückzuerobern wäre keine Eskalation des Konflikts durch die Ukraine. Es wäre die Verteidigung ukrainischen Staatsgebiets.
Hier wird eben nicht die Intensität des Konflikts erhöht. Die Intensität war schon da, auch wenn sie durch die ausbleibende Verteidigung bisher nicht sichtbar war.

Unabhängig davon kann die Ukraine natürlich immernoch strategisch entscheiden, die Besetzung der Krim (vorerst) weiter hinzunehmen, wenn sie das für besser hält.

Die implizite* Forderung im Ursprungspost, die NATO solle diesen Angriff als „inakzeptabel“ einstufen, halte ich deshalb für eine Katastrophe. (Noch unter dem Vorbehalt der Klärung, in welchem Land die Brücke überhaupt angegriffen wurde und wer ihn überhaupt begangen hat.)
*Implizit, weil die Forderung sich formal nur auf russisches Staatsgebiet bezieht.

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Auch ohne den Vorbehalt des genauen Ortes ist es eine „Katastrophe“. Die Brücke wurde nach 2014 von Russland ohne Zustimmung der Ukraine gebaut und erfüllt vor allem den Zweck, russisches Militärgerät auf die Krim zu schaffen. Die Brücke dient der Verstetigung der illegalen Annexion der Krim und ist ein legitimes Ziel der ukrainischen Selbstverteidigung.

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Die USA haben bereits angekündigt, dass das eine massive Intervention hervorrufen würde. Was man da vielleicht etwas detaillierter über Backchannels nach Russland kommuniziert, ist natürlich nicht bekannt, aber öffentlich diskutiert wird, dass die NATO dann z.B. mit ihren Luftstreitkräften u.a. die Schwarzmeerflotte eliminieren und sämtliche russischen Truppen von ukrainischem Staatsgebiet vertreiben könnte.

Wichtig ist, dass solche Ankündigungen auch wirklich glaubwürdig sind, damit Putin eben vor der Nuklearoption zurückschreckt. Je stärker im Westen irgendwelche Kräfte werden – bisher sind’s ja hauptsächlich Spinner – die fordern bloß „nicht weiter zu eskalieren, damit Putin keinen Atomkrieg anfängt“, umso wahrscheinlicher wird es, dass Putin tatsächlich atomare Sprengköpfe einsetzt, weil er zu dem Schluss kommt, der Westen blufft nur und würde außer vielleicht ein paar weiteren kleineren Sanktionen nichts weiter unternehmen.

Soweit ich weiß, hieß es im Wesentlichen bloß, dass originär russisches Gebiet nicht mit von der NATO gelieferten Waffen wie HIMARS attackiert wird. Davon abgesehen wurde die Krim in den vergangenen Wochen bereits mehrfach attackiert und weder haben die USA da irgendetwas gegen geäußert, noch hat Putin daraufhin Atombomben geworfen.

Dass die Ukraine wirklich die Krim militärisch zurück erobert, kann man wohl fast als ausgeschlossen ansehen. Dafür ist der Landzugang viel zu schmal und einfach zu verteidigen, und die Ukraine ist jetzt bisher nicht durch ihre überlegenen Seestreikräfte aufgefallen, die eine Invasion von Wasserseite wahrscheinlich erscheinen lassen würden. Außerdem war die Krim schon beim Unabhängigkeitsreferendum von der Sowjetunion damals die einzige Region, in der die Befürworter nur sehr knapp gewonnen haben, und ukrainisch-denkende Menschen dürften seit 2014 in größerer Zahl ausgesiedelt sein.

Das wäre also das Stück, wo ich damit rechnen würde, dass Russland es am Ende nach irgendwelchen Friedensverhandlungen nahezu sicher behalten dürfte. Einziges Szenario, wo ich mir eine Rückkehr zur Ukraine vorstellen könnte, wäre als politische Folge einer absolut bedingungslosen Kapitulation Russlands, aber das wird eher nicht passieren.

Aber die Ukraine muss natürlich die Krim weiterhin bedrohen. Einmal, weil darüber Nachschubwege laufen, aber eben auch um sie irgendwann Russland anbieten zu können, wenn alle anderen Kriegsziele erreicht sind.

Nehmen wir mal an, das Momentum kippt nicht erneut und bleibt weiterhin bei den Ukrainern, und im Idealfall erobern sie praktisch alle seit Februar von den Russen besetzten Gebiete und den Donbass zurück, und der Westen ist nicht auf die atomaren Drohungen Putins hereingefallen. Dann wäre der Deal, Russland behält die Krim, das wird auch international anerkannt, dafür bekommt die Ukraine den Rest ihres Gebietes zurück und wird Mitglied von EU/NATO, als Schutz vor zukünftigen erneuten Angriffen.

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Auf Folgendes:

  1. Eine Rückeroberung der Krim wäre eine Eskalation, denn letztere hängt nicht allein an einer völkerrechtlichen Definition. Manche Eskalationen müssen wir trotzdem hinnehmen, aber wir sollten uns klar machen, dass es eine ist.
  2. Ein Angriff auf die Krim-Brücke ist nicht (unbedingt) ein Versuch der Rückeroberung der Krim (sondern vielleicht nur eine Störung der Logistik etc.).
  3. Die Krim militärisch zurück zu erobern wäre keine gute Idee

Mit 3. meine ich übrigens nicht:

Marie Agnes Strack Zimmermann z.B., die innerhalb der Bundesregierung vielleicht die glühendste Verfechterin der ukrainischen Kriegsziele ist, hält auch wenig von einer militärischen Rückeroberung der Krim (siehe Lage Interview). Was sie und ich natürlich für sinnvoll halten, ist eine zukünftige politische Lösung.

Das tue ich, weil ich natürlich keine Wahrheiten, sondern nur meine Einschätzung der Lage zum Besten gebe, die immer auch auf Irrtümern beruhen kann.

Warum halte ich die militärische Rückeroberung der Krim für keine gute Idee (die wir seitens des Westens unterstützen sollten)?

Wie schon an anderer Stelle ausgeführt wird es militärisch als extrem schwierig bis unmöglich eingeschätzt.

Selbst wenn die Krim vollständig russisch kontrolliert bleiben würde (was nicht das Ziel ist), hieße dies nicht, dass Putins Plan innerhalb Russlands als Erfolg gewertet würde. Erobert die Ukraine die nach Februar besetzten Gebiete zurück, erkennt niemand die Annexion der Krim an, bleibt Russland solange politisch und ökonomisch international isoliert und stört die Ukraine weiterhin die Logistik der Krim, dann wird kein Staatschef nach Putin, der bei Verstand ist, auf die Idee kommen, dass der „Ukraine Feldzug“ eine gute Idee war. Und wenn er nicht bei Verstand ist, können wir ohnehin keinen Einfluss nehmen.

Bei der militärischen Rückeroberung könnte man eine Kosten-Nutzen Analyse machen. Die Erfolgswahrscheinlichkeit wäre gering. Aber wir haben das ukrainische Militär auch in der Vergangenheit unterschätzt. Daher: mit großer Wahrscheinlichkeit würde die Ukraine hohe Verluste erleiden und keine ausreichenden militärischen Erfolg einfahren. Mit geringer Wahrscheinlichkeit gäbe es einen erbitterten Kampf um die Halbinsel, den die Ukraine vielleicht nach Jahren gewinnen würde. Dabei würden wir eine gespaltene Bevölkerung der Krim erleben. Einige würden die Ukrainer unterstützen, andere mit Molotov-Cocktails bewerfen. Die russischen Verteidiger wären nicht nur besser vorbereitet, sie hätten auch mehr Rückhalt in der Bevölkerung und mehr Motivation, als beim Angriff auf den Rest der Ukraine. Das Ergebnis wäre eine völlig zerstörte Halbinsel, möglicherweise eine Eskalation der Kriegsverbrechen, unzählige Opfer und vor allem: ein vermutlich niemals lösbarer Konflikt innerhalb der Zivilbevölkerung (ggf. Bürgerkrieg). Ich bin mir nicht sicher, wie die russische Zivilbevölkerung als Ganzes reagieren würde, aber ich sehe eine realistische Gefahr, dass sich dort ein (wenn auch unberechtigter) Hass auf die Ukraine Bahn brechen würde, den es Stand heute so nicht (im großen Stil) gibt und der eine Versöhnung der Völker auf Jahre hin unmöglich machen würde. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation wäre natürlich auch höher, aber vmtl. gar nicht das größte Problem.

Dem gegenüber steht eine mögliche politische Lösung. Da Verhandlungen mit Moskau derzeit unmöglich sind, sind auch hier die Erfolgswahrscheinlichkeiten gering. Es gibt einige Hebel, die die Ukraine ansetzen kann: z.B. die Störung der Infrastruktur, Logistik der Krim etc. Das könnte für Russland auf Dauer so teuer werden, dass sie an einer Lösung interessiert sind. Auch Sonderrechte für die Bevölkerung in den Separatistengebieten im Donbass könnte man seitens Ukraine anbieten. Gleichzeitig besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Putin in naher Zukunft abgelöst wird und es doch irgendwann wieder Gespräche mit Moskau gibt. Dass die Krim vollständig wieder an die Ukraine zurück geht wäre zu wünschen, halte ich aber für wenig realistisch. Denkbar wäre ein irgendwie gearteter politischer Sonderstatus.

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Genau deswegen habe ich diesen Thread eröffnet. Wir sind inzwischen auf der Eskalationsspirale 2 Schritte entfernt von „eine Atommacht greift eine andere Atommacht an“. Der nächste Eskalationsschritt danach wäre, dass sich Russland gegen die Angriffe verteidigt und die relevanten Luftbasen der NATO angreifen würde. Und in Ermangelung von konventionellen Fähigkeiten, wären dafür wohl nur strategische Atomwaffen einsatzbereit. Das ist dir Tragik der Abschreckung, dass sie auch wirklich wirklich umgesetzt werden muss. Sowohl vonseiten der USA bzw. NATO als auch vonseiten Russlands. Und am Ende hat keine Seite etwas davon. Daher ja mein Plädoyer mit vertrauensschaffenden Maßnahmen idealerweise sogar die Eskalationsspirale 1-2 Schritte nach unten zu gehen.

Insbesondere der Anschlag auf Nord Stream ist aber in meinen Augen eine andere Qualität. Angenommen die russische Führung steckt wirklich nicht dahinter. Dann wäre deren ersten Hypothese, dass russlandfeindliche Staaten dahinter stecken. Da die Ukraine vermutlich nicht über solche Fähigkeiten verfügt, müsste es also ein Drittstaat sein und der Anschlag könnte als Kriegserklärung verstanden werden. Falls es kein NATO-Staat war, sollte dieses potentielle Missverständnis möglichst schnell durch vertrauensschaffende Maßnahmen beseitigt werden.

Das Ganze erinnert schlichtweg an 1914 als aus dem Serbienfeldzug ein Weltkrieg entstanden ist, u.a. weil die Eskalationslogik von allen Seiten einfach hingenommen wurde und jedwede Deeskalationsversuche als Schwächung des Abschreckungspotentials stigmatisiert wurden.

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Das Problem ist nicht dass Russland dem Westen nicht vertrauen würde. (Interessanterweise hat Russland ja offenbar sogar einige Luftabwehreinheiten aus der Gegend von St. Petersburg abgezogen und in die Ukraine geschickt; so gross kann die Angst vor der NATO also nicht sein, im Gegenteil.) Das ist schlichtweg aktuell keine Kategorie strategischen Denkens im Kreml. Es geht darum, die eigene Einflusssphäre auszuweiten. Russland reagiert nicht, es agiert.

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Deeskalation ist sicher wünschenswert.

Doch wie gross ist das Interesse der beteiligten Parteien daran im Monent?

Die Ukraine hat grad, militärisch gesehen, einen Lauf und erobert von Russland unrechtmässig besetzte Gebiete zurück. Zu Zugeständnissen an Russland ust man da eher weit entfernt.

Der Westen inkl. NATO und USA im besonderen hat auch kein Interesse an einer Eskalation bis hin zu einer atomaren Kruegsführung, will aber andererseits Angriffskriege in Europa nicht wieder erfolgversprechend sein lassen.

Russland scheint nur zur Deeskalation bereit, wenn alle russischen Forderungen erfüllt werden, also die Ukraine die Gebietsverluste hinnimmt, die Annexionen international akzeptiert werden, und unterschwellig Europa sich wieder in eine Gas-Abhängigkeit zu Russland begibt. Anders liesse sich Putin nicht halten bzw nicht ohne massiven Gesichtsverlust.

Wer macht den ersten Schritt?

Und was tun wir, wenn Putin unter massiver Androhung von Atomschlägen fordert, die NATO und EU sofort aufzulösen?

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Da hast du natürlich recht. Aber was mir in deiner Argumentation, und auch in der vieler Anderer, etwas untergeht:

Auch die Ukraine hat kein Interesse an einer atomaren Eskalation, den sie würde es natürlich als erste Treffen.

Und dennoch stellt sich die Ukraine Russland in den Weg, attackiert die angeblichen Volksrepubliken Donezk und Luhansk, greift Infrastruktur auf der Krim und jetzt sogar die Krimbrücke an. Und all das, obwohl hier im Westen scheinbar so viele sicher sind, dass dies zu einer atomaren Eskalation führen wird.

Wieso also lässt sich die Ukraine also nicht davon einschüchtern und kapituliert?

Vielleicht weil die Ukraine durch gemeinsame Geschichte, geringe sprachliche Hürden und vielfältige Verflechtung in den Bevölkerungen (Ukrainer in Russland und umgekehrt) ein gutes Gefühl für das hat, was in Russland passiert und passieren kann?

Oder vielleicht auch, weil Ukraine und Russen sich aktuell konventionell bekämpfen, gleichzeitig aber auch permanenten Kontakt z.B. über Gefangenenaustausch oder Anbahnung von Verhandlungen haben oder weil vermutlich fast jeder Nachrichtendienstlicher u.Ä. in der Ukraine gerade nur mit Russland beschäftigen wird?

Kurz gesagt:
Weil vielleicht die größten Experten (außerhalb Russlands) für das, was Russland unter welchen Umständen tun würde, gerade „vor den Toren“ Russlands in der Ukraine sitzen?

Und nimmt man das als gegeben, könnte man sich ja auch fragen, wieso wir (im Westen) eigentlich eine atomare Eskalation Russlands für wahrscheinlich möglich halten, während die Ukraine sie für so unwahrscheinlich hält, dass sie jeden Tag auf russische Soldaten schießt, deren Panzer zerstört, Brücken sprengt und so weiter.

edit:
Sprachlich präzisiert, danke @Daniel_K :slight_smile:

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Niemand. Es gilt weiterhin, dass die Sache auf dem Schlachtfeld entschieden wird. Jeder militärische Rückschlag schwächt Putin aktuell ungemein, nicht nur, weil die eigene Bevölkerung Zweifel an der Kompetenz ihrer Regierung bekommt, sondern auch, weil Putin von allen Seiten unter Druck steht (Hardliner auf der einen Seite, Zivilgesellschaft auf der anderen).

Im Idealfall wird Russland irgendwann den Ukraine-Einsatz schlicht abbrechen müssen, weil man realisiert, dass man dort nichts gewinnen kann.

Dieses Gerede über Deeskalation ist einfach grob unangemessen, die Ukraine ist hier das Opfer eines Angriffskrieges geworden und es kann und darf hier nicht darum gehen, „Frieden um jeden Preis“ zu erzielen. Russland muss hier schlicht gezwungen werden, sich zurückzuziehen - und alle Eskalationen Russlands müssen besonnen aber bestimmt beantwortet werden (i.d.R. mit noch größeren Hilfezusagen an die Ukraine und noch mehr Sanktionen gegen Russland).

Lachen?

Sorry, aber die Forderung wäre so absurd, dass niemand, wirklich niemand sie ernst nehmen würde.
Russland hat kein Interesse an einer nuklearen Apokalypse, eine solche Drohung wäre daher ein so offensichtlicher Bluff, dass man sie nicht ernst nehmen könnte.

Wer hält denn eine atomare Eskalation für wahrscheinlich?
Niemand, der hier wirklich Ahnung hat jedenfalls.
So ziemlich alle Experten sind sich einig, dass die Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch die Russen früher bei 0% war und jetzt minimal höher ist. Aber selbst die absoluten Pessimisten sehen die Wahrscheinlichkeit jetzt nur im Promillebereich.

Die Medien hingegen greifen jede Atomdrohung Russlands - und die gehören halt zur russischen Einschüchterungsstrategie - auf und verpacken sie in Schlagzeilen wie diese hier:

Angst vor der Atombombe - So könnte ein russischer Nuklearschlag ablaufen (ntv)
Ukraine-Krieg - Selbst ein Bömbchen wäre verheerend (Zeit)
Nukleare Waffen - Regionaler Atomkrieg: Das wären die weltweiten Folgen (inFranken)

Klar, die Medien wollen informieren, aber diese theoretischen Szenarien, die ständig an die Wand gemalt werden, oft ohne einzuordnen, wie extrem unwahrscheinlich sie sind, helfen halt der russischen Droh-Propaganda ungemein.

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Stimmt, da habe ich mich blöd ausgedrückt und das oben schon korrigiert.

Wer soll’s denn sonst gewesen sein? Die Mainzelmännchen?

Nein. Das ganze erinnert eher an 1938/39. Da hat man auch vorher als „vertrauensschaffende Maßnahme“ Hitler das Sudetenland annektieren lassen, weil er hoch und heilig versprochen hat, dass er sich damit dann ein- für allemal zufrieden gibt. Und dann hat er sich gedacht, das war ja einfach, das lassen die mir mit dem Rest der Tschechoslowakei und mit Polen sicherlich ebenfalls durchgehen. Und genau so verhält sich Putin. Das Appeasement, Putin die Krim praktisch zu überlassen und sich auch im Donbass seit 2014 nicht weiter einzumischen, und einfach weiter Gas, Öl, Kohle, Uran usw. zu beziehen, hat ihn zu diesem Krieg motiviert, und wenn man ihn wieder gewinnen lässt, wird er in Ruhe seine Armee neu aufbauen, diesmal professioneller, auf Basis der Erkenntnisse dieses Krieges, und sich das nächste Stück Land greifen. Den Rest der Ukraine, Moldawien, das Baltikum,…

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Gut, nehmen wir mal an, Nord Stream wurde von jemand anderem gesprengt:
Meinst du wirklich, die russische Führung fühlt sich durch die Zerstörung einer nicht genutzte Pipeline mehr bedroht, als durch die Beihilfe bei der zehntausendfachen Tötung russischer Soldaten? Es ist ja nicht so, dass der Westen mit seiner Absicht, mittels Unterstützung der Ukraine den russischen Invasionstruppen katastrophale Verluste zuzufügen, hinter dem Berg hielte. So twitterte der slowakische Verteidigungsminister jüngst, dass die Lieferung von Haubitzen an die Ukraine ein „Geburtstagsgeschenk für den Aggressor Putin“ sei. Nord Stream ist dagegen doch eine Randnotiz.

Siehst du denn Missverständnisse? Die Konfliktlage ist meines Erachtens sehr klar: Solange die Ukraine kriegswillig und kriegsfähig ist, wird der Westen sie dabei unterstützen, russische Soldaten zu töten sowie deren Kriegsgerät und militärische Infrastruktur zu zerstören, bis Russland sich vom ukrainischen Staatsgebiet zurückzieht. Wenn es hier zu einer Eskalation über die Ukraine hinaus kommt, dann doch nicht aufgrund eines Missverständnisses.

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