Erneutes Verfahren nach rechtskräftigem Freispruch?

Vielleicht ein interessantes Thema für die Lage? Aus meiner Sicht kann es das Gerechtigkeitsgefühl nicht befriedigen, bei DNA beweisen einen Mörder und Vergewaltiger nicht zu belangen und darüber hinaus die Gefahr, die weiterhin ja von ihm ausgeht, in der Bevölkerung zu belassen. Da würde mich Ulf juristische Perspektive interessieren.

Update: Bundesverfassungsgericht kippt Reform zur Wiederaufnahme von Strafverfahren - DER SPIEGEL

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Das ist die eine Seite. Wobei es ja auch bei DNA-Beweisen schon Fehler gegeben hat, man denke nur als prominentes Beispiel an das „Phantom von Heilbronn“.

Die andere Seite ist die: Nehmen wir mal an, du wirst zu Unrecht des Mordes verdächtigt, aber nach der Beweisaufnahme freigesprochen. Möchtest du wirklich dein ganzes Leben damit rechnen müssen, dass sich Jahrzehnte später vielleicht irgendein „Zeuge“ mit implanted memorys meldet, der meint sich daran zu erinnern dich gesehen zu haben? Und wie oft soll das passieren können? Ist dann nach zweimal U-Haft, monatelangen Gerichtsverfahren und Freisprüchen endlich Schluss oder geht nach weiteren fünf Jahren alles nochmal von vorne los?

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Liebe Lage-Community,

Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des 2021 eingeführten § 362 Nr. 5 StPO ist meines Erachtens überzeugend und rechtsstaatlich geboten. Interessant finde ich jedoch das Sondervotum zur generellen Abwägungsfestigkeit des Art. 103 III GG. Was haltet ihr von der Entscheidung und findet ihr sie (gerne auch ein Feedback, ob als juristische Laien oder als Juristen) nachvollziehbar?

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So einfach ist das ganze leider nunmal nicht. Wenn man eine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO zuließe, dann hätte das unter Umständen verheerende Folgen für uns als Gesellschaft. Daher sind die Erwägungen zur Verfassungsmäßigkeit auch - trotz des Vorliegens einer Urteilsverfassungsbeschwerde - nahezu unabhängig von dem konkreten Fall anzustellen. Eine Zulässigkeit einer solchen Norm würde uns allen eine enorme Rechtsunsicherheit bescheren. Im Strafprozessrecht zugelassene Beweise sind nämlich auch Zeugenaussagen und Ähnliches, sodass ein jeder von uns - einmal von einem nicht begangenen Vergehen/Verbrechen freigesprochen - später durch ggf. auch willkürliche Zeugenaussagen wieder vor Gericht gezerrt werden könnte. Ferner verfängt das Argument der Beschränkung auf unverjährbare Taten nach dem StGB und dem Völkerstrafgesetzbuch nicht. Denn ließe man eine solche Regelung verfassungsrechtlich erstmal zu, ist man nicht weit davon entfernt auch Taten wie bspw. Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178 StGB) mit in den Anwendungsbereich einzubeziehen. Denn die Argumentation wäre dann: Wenn schon Mord, dann doch auch Tatbestand X oder Y. In dieser Abwärtskaskade wäre man schnell bei weit weniger schwerwiegenden Delikten angelangt und jegliche Rechtssicherheit durch einen rechtskräftigen Freispruch wäre passé (sog. Dammbruchargument). Insofern ist das vom BVerfG gesprochene Urteil die im Ergebnis einzig richtige rechtsstaatliche Entscheidung. Dass man auf emotionaler Ebene anderer Meinung sein mag (was mir persönlich genauso geht) und mit der Familie und generell den davon betroffenen Personen fühlt ist davon ja ganz unabhängig. Der Einzelfall darf jedoch nicht zur Aufweichung grundlegender Rechtsstaatlicher Prinzipien führen. In dem Fall ist die juristisch richtige Entscheidung nicht unbedingt die emotional Nachvollziehbare. Führt man sich ferner die Entscheidung des BVerfG zu Gemüte, dann erkennt man insbesondere an der historischen Herleitung des § 362 Nr. 1-4 StPO auch, dass das Sondervotum mit seinem Rekurs auf dessen Zulässigkeit nicht zu überzeugen Vermag.

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Für mich als juristischem Laien:

Reden wir von einem rechtskräftigen Freispruch oder einem eingestellten Verfahren wegen mangelnder Beweise?

Denn bei zweiterem würde ich schon davon ausgehen, dass das Verfahren bei Entdeckung neuer Beweise wieder aufgenommen wird.

ersteres

richtig, bis zur Grenze der Verjährung.

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Mal ein wirklich großes Lob für das Segment dazu in der aktuellen Folge. Ich höre es gerade zum zweiten Mal, lese nebenbei das von Ulf angesprochene Anhörungsprotokoll und schüttele belustigt den Kopf darüber, zu welchen Verrenkungen ein renommierter Strafrechtler wie Jörg Eisele willens ist, um dieses politische Projekt irgendwie juristisch zu fundieren.

Kompliment auch an Ulf, die Argumentation im Ausschuss war sehr stark.

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Ja, Bravo.

Ich hatte es ja ähnlich, nur etwas markiger beschrieben.
Das Gesetz selber war natürlich nicht verfassungskomform, und nicht nur die Tatsache, dass man nach einem Urteil sich einfach mal ein Gesetz passend ändert.

Ich kann die Argumentation nachvollziehen, finde aber dennoch, es bleibt immer ein Schmerz für Logik und Gerechtigkeitsgefühl.

Das ist das allgemeine Problem bei Dilemmata.

Wir müssen anerkennen, dass es keine „optimale Lösung“ gibt, die ein für alle Seiten zufriedenstellendes Ergebnis produziert. Daher bleibt uns nichts anderes, als das „geringste Übel“ zu wählen. Das Problem, das ich in Diskussionen oft beobachte, ist eben die Nichtanerkennung von Dilemmata, i.d.R. weil sich ein Diskussionsteilnehmer vollständig auf eine Seite des Konfliktes schlägt und die andere Seite dabei völlig ignoriert.

Im vorliegenden Fall - und das zeigen ja auch die beiden Sondervoten beim BVerfG - waren definitiv beide Optionen zulässig, dh. das BVerfG hätte auch anders entscheiden und begründen können. Es hat sich - und darauf kann man beim BVerfG i.d.R. vertrauen - diese Entscheidung auch nicht leicht gemacht.

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