Auch wenn ich mich damit vermutlich wieder unbeliebt mache, aber man muss hier noch viel mehr, viel unangenehmere Fragen beleuchten.
Vorab:
Bevor mir wieder jemand gegenteiliges unterstellt: Ich verachte die Taliban und jede andere religiös-fundamentalistische Organisation. Ich habe absolut keine Sympathie für diese Leute und wünsche jeder Demokratie- und Rechtstaatlichkeitsbewegung jeden Erfolg gegen solche menschenverachtenden Regime.
Aber dennoch muss etwas angesprochen werden, was meines Erachtens in den letzten 20 Jahren konsequent ausgeblendet wurde - nämlich die Frage:
Was wollen „die Afghanen“ tatsächlich?
Oder anders gefragt:
Wie viel Unterstützung haben die Taliban in der afghanischen Bevölkerung tatsächlich?
In den letzten 20 Jahren konnte man immer wieder lesen, dass der Einsatz in Afghanistan ja nötig sei, um „die Afghanen“ vor der Unterdrückung durch „die Taliban“ zu retten. Ich habe schon immer gesagt, dass ich diese Art der Darstellung für genau so falsch halte, wie die revisionistische Darstellung, dass „die Nationalsozialisten“ ja nur „die Deutschen“ verführt hätten, oder dass in der Ostukraine „die Ukrainer“ von „den Russen“ unterdrückt werden oder dass „die Hongkonger“ generell von „den Chinesen“ unterdrückt werden.
In all diesen Fällen wird - aus welchen Gründen auch immer - ignoriert, dass es in einer Bevölkerung stets mehrere, gegeneinander laufende Bewegungen gibt. In der Ostukraine gibt es ohne Zweifel Menschen, die tatsächlich Russland unterstützen, weil das ihrer Ideologie entspricht. Die Nazis konnten nur die Macht in Deutschland ergreifen, weil es tatsächlich große Teile des Volkes gab, die an den rassistischen Bullshit geglaubt haben - und in Hong Kong gibt es auch tatsächlich, vor allem in der älteren Bevölkerung, noch viele Menschen, die den chinesischen Kurs unterstützen. Und in Afghanistan?
Nun, schauen wir mal auf Deutschland:
Wir leben seit über 75 Jahren in einer Demokratie und seit über 60 Jahren in großem Wohlstand. Alle Westdeutschen sind mit den Werten von Demokratie und Rechtstaatlichkeit aufgewachsen und haben von den Früchten der Demokratie und des Wirtschaftswunders profitiert. Selbst dem Langzeitarbeitslosen geht es in Deutschland besser als nahezu überall anders auf der Welt.
Und trotzdem haben wir in Deutschland 13,5% der Bevölkerung, die mit der Demokratie „überhaupt nicht zufrieden“ sind und 39,9%, die mit der Demokratie „wenig zufrieden“ sind. (Ergebnis der Studie „Vertrauen in Demokratie“ der Friedrich Ebert Stiftung). Vermutlich haben wir in Deutschland trotz der objektiv ziemlich gut funktionierenden Demokratie und der guten Wirtschaftslage ein Potential von mindestens 20% der Bevölkerung, die sich offen gegen die Demokratie stellen.
Und jetzt schauen wir mal nach Afghanistan:
Wir reden über ein Land, welches nie über längere Perioden „friedlich“ war, welches seit Jahrzehnten im Bürgerkrieg verharrt, in dem während des Kalten Kriegs ein Stellvertreterkrieg herrschte und in dem sich, unter anderem Befeuert durch Armut, auch eine radikale Religiosität vollständig etabliert hat (daher: die dort herrschende Ausprägung des Islam ist seit Jahrzehnen eine sehr fundamentalistische).
Die Bevölkerung hat keine Demokratieerfahrung und auch die Versuche unter der amerikanischen Besatzung, dort Demokratie zu etablieren, waren geprägt von Wahlbetrug - die erste Wahl Karzais wurde von (vermutlich berechtigten) Betrugsvorwürfen überschattet, die zweite Wahl ebenso und die eigentlich anstehende Stichwahl wurde schlicht abgesagt (weil der Gegenkandidat, Abdullah Abdullah, der Regierung Karzai vorwarf, unfähig zu sein, eine faire und transparente Stichwahl zu halten). Abdullah war dennoch weiterhin „Außenminister“ Afghanistans. Und wie toll das funktioniert, der Bevölkerung Demokratie zu vermitteln, wenn Außenminister und Präsident derart im Streit liegen, kann sich wohl jeder denken.
Die Wahl 2014 war noch chaotischer. Das genaue Wahlergebnis wurde nicht mal bekannt gegeben, sondern nur ein Sieger ausgerufen. Als „Ausgleich“ sollte Abdullah dann Premierminister werden, was von der Bevölkerung mit Recht als Postenkungelei betrachtet wurde. Auch die Wahl 2019 war geprägt von (nachvollziehbaren) Betrugsvorwürfen, die nie wirklich aufgeklärt wurden. Richtig deutlich wird die mangelnde Demokratie, wenn man sich die Zahlen anschaut:
Afghanistan hatte 2019 ganze 31 Mio Einwohner, davon sind nur 12 Mio als Wähler registriert gewesen, von diesen registrierten Wählern haben nur 20% ihre Stimme abgegeben. Das heißt: 2,4 Mio Stimmen auf 31 Mio Einwohner. Eine Wahlbeteiligung von deutlich unter 10% oder meinetwegen 15%, wenn man die nicht wahlberechtigten Kinder herausrechnet.
Das Afghanische Volk hat nie eine funktionierende Demokratie gehabt, hat nie in wirtschaftlichem Wohlstand gelebt. Es ist mir absolut schleierhaft, wie man nun die Meinung vertreten kann, dass „die Afghanen“ selbstverständlich Demokratie und Rechtstaatlichkeit wollen.
Aber wie in jedem Krisenherd neigen unsere Medien dazu, stets immer nur mit denjenigen, definitiv existenten, Teilen des Volkes zu sprechen, die sich dem Westen zugewandt haben. Das ist auch okay, natürlich sollten diese Kräfte unterstützt werden. Aber es wird immer der Eindruck erweckt, dass diese Menschen „die Mehrheit“ seien, als stünden diese Menschen stellvertretend für „die Afghanen“.
Ist es wirklich so undenkbar, dass ein großer Teil der Afghanischen Bevölkerung die Taliban unterstützt?!? Wenn in Deutschland trotz vorbildlicher Funktionsweise der Systeme dennoch ein Teil der Bevölkerung demokratiefeindlich eingestellt ist, wie schlimm muss diese Lage in Afghanistan erst sein? In einem Land, in dem der Großteil der Bevölkerung nicht mit Demokratieerziehung groß geworden ist, sondern mit der Ideologie, nach der der Islam über der Politik steht.
Die Geschwindigkeit, in der die Taliban das Land zurückerobern, obwohl sie im Gegensatz zur Afghanischen Armee kein „schweres Gerät“ wie eine Luftwaffe haben, macht absolut deutlich, dass ohne jeden Zweifel ein sehr großer Teil der Afghanischen Bevölkerung die Taliban unterstützt. Das gilt auch für das Afghanische Militär - die sind teilweise in ganzen Verbänden zu den Taliban übergelaufen - vermutlich auch, weil in einem traditionell sehr konservativen Umfeld (daher: Militär) die extrem konservativen Einstellungen der Taliban durchaus populär sind.
Was mich halt stört, ist, dass die letzten 20 Jahre dieses Einsatzes immer damit gerechtfertigt wurden, dass man „den Afghanen“ schließlich helfen müsse, ohne auch nur ein Mal die Frage zu stellen, wie das Meinungsbild in der Afghanischen Bevölkerung wirklich aussieht.
Warum wird diese Frage nie erörtert?
Mir fallen dazu nur zwei Gründe ein, die beide vermutlich eine Rolle spielen.
- Wir wollen es nicht wahr haben.
Als an Demokratie und Rechtstaatlichkeit gewöhnte Menschen, die mit einem humanistischen Weltbild aufgewachsen sind, wollen viele von uns schlicht nicht wahrhaben, dass andere Menschen mit anderen Lebenswirklichkeiten und Biographien andere Systeme bevorzugen.
Fakt ist, dass Erdogan, Putin und Trump tatsächlich weite Teile der vor allem ländlichen Bevölkerung hinter sich haben. Auch das kann man als „Westler“ kaum verstehen und muss es natürlich durch Propaganda erklären. Aber das greift zu kurz. Und so können wir uns auch nicht erklären, warum z.B. in einem strengen Islam erzogene Menschen (also in Afghanistan alle über 30-jährigen und selbst große Teile der jüngeren Menschen) tatsächlich diese faschistoide Ideologie der Taliban unterstützen. Aber das ändert nichts daran, dass es diese Unterstützer gibt - und deren Zahl vermutlich deutlich größer ist, als wir uns eingestehen wollen.
- Propaganda
Es ist durchaus denkbar, dass die Entscheidungsträger aus Politik und Militär, vor allem in den USA, durchaus wissen, dass die Taliban einen sehr starken Support in der Bevölkerung haben. Das Problem ist nur: Das darf man aus propagandistischen Gründen nicht zugeben.
Denn so lange man der eigenen Bevölkerung erklären kann, dass in Afghanistan die eigenen Soldaten sterben, um den Menschen dort gegen eine faschistische, religiöse Unterdrückermacht zu helfen, kann man den Einsatz gegenüber dem eigenen Volk noch irgendwie vertreten.
Aber wie kann man den Einsatz vertreten, wenn man eingesteht, dass z.B. eine Mehrheit des Afghanischen Volkes die Taliban unterstützt? Plötzlich zerfällt das Narrativ, man sei dort, um „den Afghanen“ zu helfen und es weicht dem Narrativ, dass man dort ist, um das eigene System mit kriegerischen Mitteln einer Bevölkerung aufzuzwingen. Plötzlich ist man tatsächlich, was die Taliban vorwerfen: Ein Besatzer, kein Beschützer.
Tatsächlich ist es egal, ob die Ursache für die Fehleinschätzung Naivität ("Wie könnte der Afghane Demokratie nicht wollen?!?) oder politisches Kalkül ist, die Konsequenz ist die gleiche.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Ich würde mir eine ehrliche und aufrichtige Diskussion darüber wünschen, ob der krasse militärische Erfolg der Taliban überhaupt denkbar wäre, wenn nicht die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung die Taliban unterstützen würde. Es muss diskutiert werden, ob die pro-demokratischen Kräfte, die uns immer als „Normalfall“ der afghanischen Bevölkerung präsentiert werden, nicht in Wirklichkeit eine sehr, sehr kleine Minderheit sind.
Warum das so wichtig ist, wird deutlich, wenn man z.B. manche US-Republikaner hört, die wegen des Vorrückens der Taliban schon nach einem neuen Kriegseinsatz in Afghanistan schreien.