„Einheitsbrei“ in der Lage?

In deinem Post waren wichtige Punkte (und auch Studien), auf die ich gerne noch eingehen möchte:

Ja, da besteht nach meinem Eindruck breiter Konsens.

Du hast absolut recht, dass dort die Meinungen auseinandergehen. Schulen sind i.A. sicherlich keine Superspreader, aber aus Pandemiesicht definitiv nicht irrelevant, da sie selbst bei wenigen Ansteckungen als Netzwerkknoten zwischen verschiedenen Clustern fungieren [1][2][3]. Ich denke, das entspricht auch den von dir verlinkten Studien, aber auch dem was in der Lage gesagt wurde (daher verstehe ich die Kritik nicht ganz). Mein Eindruck ist leider auch, dass bei diesem Thema ein absolutes Schwarz-Weiß-Denken stattfindet. Alleine die Frage „Sind Schulen Treiber der Pandemie?“, worauf eine ja/nein-Antwort erwartet wird, wird dem Problem nicht ansatzweise gerecht [4]. Poltiker machen gerne aus „Kinder sind weniger Infektiös“ (was auch schon umstritten ist), „lasst uns die Schulen komplett öffnen, da Kinder nicht infektiös sind“. Solche binären Sichtweisen sind sehr problematisch.

Ganz klar, Kinderpsychologen, Pädagogen o.ä. müssen genau so gehört werden (was m.E. auch geschieht), denn dort ist der Befund eindeutiger: Hinreichend viele Kinder gehen ohne offene Schulen massiv verloren [5][6].

Daher muss m.E. die Frage nicht sein, ob wir die Schulen öffnen, sondern wie (das ist nebenbei auch die Meinung von Lauterbach [7] und Drosten [8]). Und bei dieser Frage hat die Politik hochgradig gepennt. Geteilte Klassen, 1-2/Woche Schnelltests, Maskenpflicht im Unterricht (ich verstehe bis heute nicht, wieso Grundschüler keine Maske tragen können), mehr Schulbusse und Luftfilter würden den Unterricht deutlich sicherer machen und könnten gleichzeitig die psychologischen Belastungen der Kinder abfedern. Stattdessen haben sich die Kultusminister monatelang auf dem Satz „Kinder sind keine Treiber der Pandemie“ ausgeruht und nichts, wirklich nichts vorbereitet (leider wurden sie in diesem Vorgehen von prominenten Virologen bestätigt). Nur wenn man die Rolle der Kinder in der Pandemie anerkennt, kann man dieses Problem lösen.

Da aber selbst eine Teilöffnung der Schulen eine gewisse (und hoffentlich nur geringe) Steigerung des R-Werts zur Folge hat und wir derzeit keinen Puffer im R-Wert haben (eigentlich müssten wir so schon verschärfen), müssen wir gleichzeitig an anderer Stelle die Infektionen (z.B. durch strengere Home-Office-Regelungen) reduzieren, um den R-Wert unter 1 zu halten. Das wäre ein gesellschaftlicher Kompromiss.

[1] https://twitter.com/prof_m_baumann/status/1363123003274493952
[2] NDR.de - Das Beste am Norden - Radio - Fernsehen - Nachrichten | NDR.de
[3] Kinder und Corona - Wie sich Schulen verantwortlich öffnen lassen | deutschlandfunk.de
[4] Corona und die Machtlosigkeit: Die geistig-moralischen Wände der Pandemie - DER SPIEGEL
[5] https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-zahl-der-psychotherapie-anfragen-von.2850.de.html?drn:news_id=1229474
[6] Der Tag - Lockdown: Kinderseele unter Stress | deutschlandfunk.de
[7] https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-2-februar-2021-100.html (ab 28:12)
[8] (74) Coronavirus-Update: Durststrecke mindestens bis Ostern | NDR.de - Nachrichten - NDR Info

2 „Gefällt mir“

Ok, der Trollvorwurf tut mir leid. Ich habe den verlinkten Artikel zu oberflächlich gelesen und dabei ein falsches Datum aufgenommen, stehe aber zu meiner Aussage, dass zumindest der Teil, über den wir hier explizit gesprochen haben, im Februar „falscher“ ist, als im Dezember.

Ich gehe mal hoffnungsvoll davon aus, dass wir eigentlich alle mehr oder weniger das gleiche Ziel haben: Gesamtgesellschaftlich möglichst gut durch die Ausnahmesituation Pandemie zu kommen.

Viele Menschen sind gereizt und ich muss persönlich auch zugeben, dass meine Zündschnur etwas kürzer geworden ist im letzten Jahr.

Trotzdem sei mir noch einmal der Hinweis bzw. die Frage erlaubt (und ich würde mich wirklich freuen, wenn du konkret darauf eingehen würdest):

Was meinst du mit einzig richtiger Lösung? Die Politik in Deutschland und vielen europäischen Ländern handelt nicht so, wie es mir und anderen hier im Forum lieber wäre. Gerade in Deutschland findet ja ein Diskurs verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte statt und die Maßnahmen haben seit eigentlich einem Jahr immer einen Mittelweg dieser Ansichten gesucht. Bei heute stattfinden Schulöffnungen sind wir da meines Empfindens deutlich näher an Stöhr als an NoCovid. Die Kritik hier ist, dass dieser „Mittelweg“ eine Schlagseite hat und nicht dem echten Gewicht des Standes der Wissenschaft entspricht, ähnlich wie beim Thema Klima.

Es gibt ja viele verschiedene Länder auf diesem Planeten, die sehr unterschiedlich mit der Pandemie umgehen und auch unterschiedliche Ergebnisse erzielt haben. Auch meine Behauptung, dass es keine „gute“ Strategie mit Schutz der Risikogruppen in der hohen Inzidenz gibt, möchte ich wiederholen und bin natürlich nachwievor für Gegenbeispiele offen.

Ich hänge hier mal meine zwei Cent zu diesem Thema an. Auch für mich hat das Interesse an der Lage im Laufe der letzten Jahre abgenommen, obwohl ich sie nach wie vor noch ganz gerne nebenbei höre.
Dies hat folgenden Grund: Als die Lage neu war (ich bin ca. seit Folge 30 dabei), hab ich die Lage gerne gehört, um meine Meinung gegen die Meinung von Phillip und Ulf „zu testen“, wobei mir die vorgetragenen Themen schon immer zu ca. 90% bekannt waren. Dies habe ich dazu genutzt um meinen Standpunk im Spannungsfeld von „wie schätzt die Lage ein bestimmtes Thema ein“ vs. „wie schätze ich ein bestimmtes Thema ein“ zu schärfen, wobei ich mir verschiedene Aspekte Ulfs und Phillips Sichtweise zu eigen gemacht und andere verworfen habe. Dies war extrem lehrreich für mich, allerdings hat sich dieses Prinzip ein bisschen erschöpft, da ich mittlerweile schon vorher relativ gut abschätzen kann, welchen Standpunkt Phillip und Ulf im Hinblick auf eine bestimmte Problematik vertreten werden.
Dies kann man aber natürlich nicht den beiden zum Vorwurf machen, viel mehr kann ich durch diesen Gedanken getrieben das Einladen von Gästen in die Sendung, was hier ja auch bereits angesprochen wurde und von den beiden ja auch positiv gesehen wird, nur unterstützen um wieder ein bisschen mehr „Spannung“ durch andere Sichtweisen in die Lage zu bekommen.

4 „Gefällt mir“

Als kleines Update zwei Wochen später (und weil ich Genf als Bewohner natürlich genau beobachte) - der R-Wert liegt immer noch knapp unter 1, die absolute Zahl an Infektionen und Variantenfällen geht sehr langsam nach unten. Todesfälle sind gesamtschweizerisch auf einem sehr niedrigen Niveau angelangt, etwas unter einen Todesfall je 1 Million Einwohner je Tag.

Ich hatte gestern auch zufälligerweise nochmal nachgeschaut: das sind ja echt super Nachrichten!

Ich habe bei deinen Beiträgen rausgehört, dass du selber in der Schweiz lebst. Falls das so sein sollte, kannst du ein wenig erzählen, wie derzeit die Corona-Beschränkungen dort aussehen? Wie läuft das Testen & Impfen? Wie ist das Commitment der Bevölkerung? Siehst du Unterschiede zu Deutschland?

Leider scheint es in Deutschland mit den Mutationen ja nicht ganz so gut zu laufen…

Ja, ich wohne seit 2014 aus Studiengründen in Genf. Da auch die Schweiz ein föderales System hat, habe ich nicht 100% den Überblick, wie alle Maßnahmen gesamtschweizerisch aussahen/sehen (und in D kenne ich auch die Situation in Bayern am besten über meine Eltern), aber ich kann etwas berichten:

Die Einschränkungen hier in Genf in der zweiten Welle waren mit Deutschland vergleichbar, teilweise kamen sie etwas früher oder später. Seit Anfang November waren hier alle Restaurants, Cafes, Bars etc (bis auf Takeaway) geschlossen, ab etwa Weihnachten bis diese Woche auch alle Läden (Ausnahme nur für täglichen Bedarf, auch große Läden durften nur noch das verkaufen), der große Unterschied ist wahrscheinlich, dass die Schule durchgehend offen waren. Und wir hatten keine nächtliche Ausgangssperre, aber ich halte das wirklich für eine Maßnahme, die man nicht in den Zahlen sehen kann.

Testen und Impfen läuft ähnlich schlecht. Die Schweiz hat AZ bisher nicht zugelassen, J&J bisher nicht einmal bestellt, die Zahl der Impfungen sinkt seit Mitte Februar leicht, anstatt anzusteigen, derzeit muss man alle Tests selbst bezahlen, wenn man keine Symptome hat (das soll sich aber demnächst ändern), und die kosten 150-260 Franken.

Die Zustimmung zu den Maßnahmen nimmt hier rapide ab. Ein Referendum von der SVP und den Jungfreisinnigen (Schweizer Julis) für ein sofortiges Lockdownende hat über 300000 Unterschriften bekommen (entspräche über 3 Millionen in Deutschland, wenn man den unterschiedlichen Ausländeranteil mit einbezieht, eher über 4 Millionen). Das liegt in meiner Wahrnehmung an verschiedenen Gründen:

  • Das Bundesamt für Gesundheit und die Bundesregierung musste mehrfach einräumen, nicht die ganze Wahrheit über Maßnahmen berichtet zu haben. Es kam im November raus, dass die Einreisequarantäne nach den Zahlen, die der Regierung vorlagen, nichts bringt. Das wussten die Regierung aber schon Monate vorher, trotzdem wurde die EQ nicht geändert/verbessert/aufgehoben. Ähnliches passierte vorher schon bei den Masken, und jetzt wieder (seit Ende Februar wird hier offiziell von FFP2-Masken abgeraten …). Auch wird seit Wochen immer an den Tagen, an denen Pressekonferenzen des BAG/der Regierung stattfinden, ein höherer R-Wert gemeldet, der danach stillschweigend nach unten korrigiert wird.
  • Es gibt noch weniger Hilfe für geschlossene Betriebe oder Gruppen wie Künstler mit de facto Berufsverbot als in Deutschland. Die Schweiz ist wahrscheinlich das libertärste (nicht liberal!) Land in Europa, und entsprechend dieser Kultur wird z.B. diskutiert, ob es überhaupt fair ist, betroffenen Unternehmen auch nur zinsvergünstigte Kredite zu geben. Ein Bekannter von mir hat im Dezember 2019 ein Restaurant eröffnet/übernommen, hat von den bisher 15 Monaten 9 nicht öffnen dürfen (und Takeaway bietet sich bei gehobener Küche mit Weinbar nur begrenzt an), und hat bisher keine Hilfen bekommen und bekommt wahrscheinlich auch keine. Dadurch sind nur noch sehr wenige Unternehmer in den betroffenen Branchen bereit, irgendwelche Maßnahmen mitzutragen.
  • Durch die fehlende Koordination zwischen Bund und Kantonen kommt es immer wieder zu blöden Situationen. Beispiel aus dem Dezember: Nachdem die Zahlen konstant zurück gingen in Genf (aber nicht in der Gesamtschweiz), hatte die Kantonsregierung beschlossen, den Restaurants unter Bedingungen (u.a. Voranmeldung aller Gäste, Kapazitätsgrenzen, Luftfilter etc.) an Weihnachten und Silvester Menus anzubieten. Entsprechend wurde mit den Planungen und Einkauf begonnen, nur um dann in der Weihnachtswoche mit einem Beschluss der Bundesregierung konfrontiert zu werden, nun in der Schweiz alle Restaurants zu schließen (Genf hatte die nur für den Kanton im November geschlossen, in der restlichen Schweiz kam das erst im Dezember). Alle eingekauften Lebensmittel konnten die entsorgen oder verschenken, die Anzahlungen mussten zurückbezahlt werden etc.
  • Manche Branchen bekommen Ausnahmen, die insgesamt die Glaubwürdigkeit der Maßnahmen untergraben. So haben alle Skigebiete auf, auch die Hotels und die Hotelrestaurants dort. Wieso die ungefährlicher sind, als der Außenverzehr in anderen Restaurants erschließt sich nicht wirklich.
  • Auch die anderen Maßnahmen erscheinen oft willkürlich. Bei der Einstufung, was als täglicher Bedarf gilt, wurden Zahnbürsten als nötig, elektrische Zahnbürsten als nicht nötig eingestuft, Schnuller darf man nicht kaufen, Unterwäsche ja, aber nur einfache Qualität, Socken nur für Kleinkinder, Rasier für Beine nur für Frauen, Handschuhe und Winterjacken nicht, Badehosen doch, Laminiergeräte ja, Druckerpatronen nicht … es blickt keiner mehr durch und teilweise ist es einfach lächerlich.
  • Es glauben immer weniger Menschen daran, dass die Impfungen hier in absehbarer Zeit an Fahrt aufnehmen. Wie oben geschrieben, hakt es da auch in der Schweiz gewaltig, und während um Weihnachten noch ein erheblicher Teil der Bevölkerung dachte, es würde sich um einige Monate handeln, bis durch die Impfung andere Maßnahmen überflüssig würden, sieht das mittlerweile anders aus. Wenn die Perspektive ausreichende Impfung vielleicht in 10-12 Monaten ist (und dazu müsste die Schweiz das derzeitige Tempo auch noch mehr als verdoppeln), sehen viele mittlerweile keine Alternative als irgendwie mit dem Virus zu leben.
  • Auch wenn die Infektionszahlen nicht deutlich anders aussehen (auf die Bevölkerungsgröße skaliert) als in Deutschland, sterben seit Anfang Februar kaum noch Menschen daran in der Schweiz. Seit Mitte Februar immer weniger als einer je Million Einwohner je Tag, mit sinkender Tendenz. Die Schweiz ist sogar in eine Untersterblichkeit gerutscht (was generell nichts schlechtes ist). Dadurch hinterfragen immer mehr die Notwendigkeit der Maßnahmen.

Speziell in Genf kommt noch die Grenzlage dazu. Das Leben findet hier für fast alle beiderseits der (immerhin EU-Außen-)Grenze statt, man kann sogar mit der Straßenbahn über die Grenze fahren. Daran hat man sich seit Jahrzehnten gewöhnt. Grenzschließungen, selbst mit Ausnahmen für Grenzpendler (durch die Staus an den Kontrollen werden auch die aufgehalten), führen einfach zu absolutem Chaos. Ich habe bisher eine komplette Grenzschließung erlebt (für 4 Tage nach den Terroranschlägen in Paris), dann funktioniert nichts mehr. Kein ÖPNV, in Läden gibt es weder Waren noch Verkäufer, keine Ärzte im Krankenhaus, kein Schulbetrieb mehr möglich, und man kommt nirgendwo mehr hin (außer mit dem Fahrrad) durch die Rückstaus von den Grenzübergängen.

Deswegen sind viele Genfer skeptisch, wenn die Bundesregierung Maßnahmen für die Grenzen beschließt. Und ich persönlich sehr skeptisch, was No/Zero-Covid angeht, man müsste die Regionengrenzen wohl ländergrenzüberschreitend ziehen (wahrscheinlich auch in Basel, Salzburg, Trier, und vielen anderen Grenzregionen), und ich könnte meine Eltern in Deutschland wohl auf viele Monate nicht sehen.

Ich hoffe, ich konnte deine Fragen halbwegs beantworten, und es ist nicht zu wirr. Bin etwas durch den Wind, gestern ist ein Rennradfahrer aus meinem Bekanntenkreis von einem Autofahrer getötet worden (das ist jetzt der vierte Fall in meinem Bekannten- und Freundeskreis in den letzten 12 Monaten).

9 „Gefällt mir“

Das konntest du :slight_smile: Vielen Dank, dass du dir so viel Zeit genommen hast!

Ich finde es sehr interessant, mal aus einem anderen Land eine so detailierte Beschreibung der „Corona-Stimmung“ zu lesen. Und (auch wenn solche Vergleiche niemanden etwas bringen) ist es ein wenig berühigend, dass nicht nur in Deutschland Dinge schief laufen :wink:

Ich habe dazu nochmal einen Datenpunkt gefunden, diesmal für die USA.

For those ages one through 24, Covid-19 has proved to be only about one-tenth as dangerous as cars and trucks normally are. The 2020 transport-accident statistics may look a lot different with more kids stuck at home and, for a few months at least, far less driving going on. But it’s still jarring how much more risk this country’s children and teenagers face from motor vehicles than from the deadliest pandemic in a century.

( Bloomberg - Are you a robot? )

1 „Gefällt mir“

Danke dir für den ausführlichen und eindrucksvollen Bericht, sehr interessant zu lesen. Und mein Beileid für den persönlichen Verlust!

Ich verstehe durchaus woraus du hinauswillst, aber dein Vergleich hat einen Denkfehler:

Du Zahl der gleichzeitigen Teilnehmer/Betroffenen.

Am täglichen Straßenverkehr nehmen deutlich mehr Menschen Teil als jemals gleichzeitig am Krankengeschehen.

Du müsstest also wenn dann die Zahlen in’s Verhältnis zu den gleichzeitig teilnehmenden/betroffenen setzen um zu einer vernünftigen Risikoabschätzung zu kommen.

Weil bei 10 von 100 dein Risiko deutlich höher zu bewerten ist als bei 100 von 100.000 obwohl im zweiten Beispiel die absolute Zahl betroffene wesentlich höher ist.

Ich tue mich schwer, ihren Einwand zu verstehen. Wenn es um die Abschätzung eines persönlichen Risikos für mich (oder für die Kinder oder Eltern von @Justjaythings ) geht, ist es doch irrelevant wieviele Menschen am Straßenverkehr oder am Krankheitsgeschehen teilnehmen? Das Risiko für ein Individuum bleibt unabhängig davon bestehen.

Ich glaube, hier muss man verschiedene Risiken (oder besser Wahrscheinlichkeiten, im folgenden P) auseinander halten (ihr redet mE von verschiedenen):

  • P („Person hat einen schweren Verlauf, nachdem sie infiziert wurde“): Diese Wahrscheinlichkeit ist unabhängig von der aktuellen Inzidenz und lässt sich primär an Vorerkrankungen/Alter/etc festmachen.
  • P(„Person infiziert sich und hat einen schweren Verlauf“): Diese Wahrschienlichkeit ist sehr stark abhängig von Inzidenz, aber eben auch von den individuellen Risikofaktoren. Selbst ein 20 jähriger hat ein variables Risiko für den beschriebenen Fall, da die Wahrscheinlichkeit einer initialen Infektion von der Inzidenz abhängt.
1 „Gefällt mir“

Denke mal du hast den Nagel auf den Kopf getroffen und das ist die Stelle an der @Konsi und ich voneinander abgebogen sind in der Argumentation.

Ich habe allerdings an keiner Stelle von ersterem geschrieben? Mir ging es im ganzen Faden immer nur um das Gesamtrisiko (was natürlich auch für junge Menschen mit der Inzidenz steigt, aber trotzdem im letzten Jahr für Kinder, Jugendliche, und junge Erwachsene unter dem Risiko im Straßenverkehr lag, sowohl in Deutschland, Schweden, als auch den USA), nicht um das Risiko eines schweren Verlaufs bei erfolgter Ansteckung.

Das ist total richtig. Das Argument kommt öfter von Leuten, die sagen wollen, dass ja alles nicht so schlimm sei, aber es überzeugt mich halt nur bedingt, denn

  1. sind Todesfälle im Straßenverkehr ja ein anerkanntermaßen ernstes Problem und nur, weil etwas weniger ernst ist, ist es damit ja nicht unwichtig
  2. ist das Risiko ja nur deswegen so vergleichsweise gering, weil wir massive Maßnahmen ergreifen und so die Inzidenz unter Kontrolle halten. Würden wir das nicht tun, würden die Zahlen exponentiell wachsen und auch bei geringen Sterberaten in dieser Gruppe in absoluten Zahlen auf einmal sehr viele sterben.

Wir drehen uns in diesem Faden etwas im Kreis, in meinem ursprünglichen Beitrag zu der Risikodebatte ging es nicht darum, wie schlimm die Pandemie ist, sondern dass wir die Risiken teilweise überschätzen im Vergleich zu anderen akzeptierten Risiken.

Dem möchte ich widersprechen. Wir nehmen in Deutschland wie auch in der Schweiz oder den USA die Risiken, die vom motorisierten Verkehr ausgehen, nicht ansatzweise ernst genug. Ein wenig eine Ausnahme ist dabei ausgerechnet Schweden. Aber die Strafen für Verkehrsvergehen, besonders bei Verletzung- oder Todesfolge, sind lächerlich. Rasen oder Telefon am Steuer gelten als lässliche Sünden, die Durchsetzung der geltenden Vorschriften wird von weiten Kreisen der Bevölkerung und auch von zu vielen Politiker als „Abzocke“ verunglimpft. Das Buch von Woodrow Phoenix „Crash Course: If You Want To Get Away With Murder Buy A Car“ (Crash Course: If You Want To Get Away With Murder Buy A Car s/c by Woodrow Phoenix) kommt zwar von einem amerikanischen Autor, aber der Titel trifft auf Deutschland oder die Schweiz genauso zu.

2 „Gefällt mir“

Das ist m. E. ein Kennzeichen und auch ein Problem der inzwischen extrem polarisierten Debatten über Corona: Äußerungen, die in die Richtung von @Konsis Argumentation gehen (also die Frage: Wie schätzen wir das Risiko bei Corona ein und wie gehen wir in anderen Fällen mit ähnlich hohen Risiken um?) - werden reduziert auf die (vermeintliche) Intention, das tatsächlich vorhandene Risiko kleinreden zu wollen.
Es ist ja eben nicht so, dass alles Mögliche getan wird, um Tote und Schwerverletzte im Straßenverkehr zu verhindern. Und das ist beileibe nicht das einzige Beispiel dafür, dass der Schutz der Gesundheit vielfach gerade nicht den Stellenwert besitzt, den er bei Corona (zumindest vorgeblich) hat. Und das wiederum wirft ja einige Fragen auf.
Edit: Tippfehler

3 „Gefällt mir“

Ich nehme diese Debatte ebenfalls als sehr polarisiert war und finde es nicht zielführend, solche Diskussion sofort als „unsolidarisch“ o.ä. abzustempeln (das hat hier keiner gemacht, aber in manchen öffentl. Debatten wird dies getan). Dahinter steht ja ein sinnvoller Gedanke; nämlich der, einen gesellschaftlichen Zielkompromiss zu finden, der zwischen den unterschiedlichen Schäden abwägt. Das Beispiel „Straßenverkehr“ zeigt eindrücklich, dass es einen geseschaftlichen Konsens gibt, den Gesundheitsschutz nicht in absoluter Instanz über alle anderen gesellschaftlichen Interessen zu heben.

Viel weiter würde ich aber den Vergleich zwischen den Risiken d. Straßenverkehrs und Corona nicht strapazieren (in diesem Thread war es mE auch nicht die Intention es weiter zu strapazieren, aber ich will den folgendne Punkt dennoch machen) wollen, da wir beim Thema Straßenverkehr über einen sehr langen Zeitraum (mehrere Jahrzehnte) einen gesellschaftlichen Kompromiss gefunden haben. Ein genauer Vergleich von Risikowerten (also Zahlenwerten) finde ich vor dem Hintergrund der sich quasi in Echtzeit entwickelnden Pandemie mit all ihren Folgen schwierig. Nichtsdestotrotz (und so verstehe ich auch @kaigallup) ist ein solcher Vergleich zumindest für die Größenordnung (auch wenn man hier natürlich alle Altersgruppen mit einbeziehen muss) interessant und für das Vergegenwärtigen, dass der Gesundheitsschutz definitiv nicht über allem stehen sollte. Und umso wichtiger: wir müssen selbstverständlich diese Diskussion führen.

Ich glaube aber, dass Corona eine grundsätzlich andere Dimension mitbringt, welche in allen anderen Beispielen (Grippe, Straßenverkehr, o.ä.) nicht enthalten ist und im exponentiellen Charakter der Pandemie begründet ist: die potentielle Überlastung des Gesundheitssystems. Dies ist in meinen Augen auch mit das einzige Argument, was die drastischen Maßnahmen über einen solch langen Zeitraum rechtfertigen kann. Daher finde ich an dieser Stelle einen Vergleich des Stellenwertes des Gesundheitschutzes nicht ganz einfach. Hier geht es um mehr: den potentiellen Wegfall einer grundlegenden Versorgungsstruktur.

In einem Gedankenexperiment fände ich es mal sehr interessant durchzugehen, für welche Pandemiestrategie (nicht dass wir momentan eine hätten :wink: ) wir uns gesellschaftlich entscheiden würden, wenn Corona zwar die gleiche Sterblichkeitsrate hätte, jedoch Infizierte das Gesundheitssystem nicht belasten würden. Das wäre z.B. der Fall, wenn Personen viel schneller (z.B. nach einem Tag und nicht nach einem Monat) versterben würden. Ich persönlich vermute, dass dann der Gesundheitsschutz einen kleineren Stellenwert einnehmen würde. Diese Diskussion wird mit zunehmender Durchimpfung auch für diese Pandemie relevant.

P.S.: Um fair gegenüber @Konsi zu bleiben: Das Beispiel des Straßenvekehrs wurde in diesem Thread intitial in einem anderen Zusammenhang eingebracht, nämlich bezogen auf das individuell wahrgenommene Risiko. Meine Punkte beziehen sich mehr auf die darauf folgende Diskussion.

Vergleichen wie hier nicht Äpfel mit Birnen?

Verkehr: Kann ich sehen, mich aber nicht durch Maßnahmen wie Impfen aus der Gleichung rausnehmen.

Corona: Kann ich nicht sehen, mich aber durch Impfung aus der Gleichung rausnehmen.

Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, dass die Wahrnehmung zu Recht unterschiedlich ist und ein Vergleich immer eine „Hidden Agenda“ hat.

1 „Gefällt mir“

Dazu kommt, dass Verkehrsunfälle nicht auf eine Ansteckung zurückgehen und daher auch grundsätzlich nicht ausgerottet werden können, Corona prinzipiell schon. Daher hinkt der Vergleich halt.

Nur zur Sicherheit: ich wollte @Konsi keine bestimmte Intention unterstellen.

Edit: Tippfehler