Eingeschränkte Vorstellung von Leben und Arbeit in Wirtschaft und Industrie

Liebes Lage-Team,

Ich höre euren Podcast bereits seit vielen Jahren und bin sehr froh und dankbar dafür, dass ihr in Zeiten ausufernder Desinformation viele Menschen mit einem hohen Level an faktenbasierter Einordnung des täglichen Geschehens versorgt.

Ein Thema, welches mir aber schon öfter aufgefallen ist und welches ich deshalb gerne einmal kritisch beleuchten würde, ist euer an manchen Stellen etwas verkürztes Verständnis von „der Wirtschaft“, dem Alltag durchschnittlicher Arbeitnehmer in mittelständischen Unternehmen und „der Industrie“ ganz speziell.

Vorweg: Jeder kann nur ein begrenztes Maß an Expertise anhäufen und ich möchte euch nicht vorwerfen, neben euren individuellen Karrieren nicht auch noch Maschinenbau und BWL studiert bzw. zwischendurch 5 Jahre in einem Industriebetrieb gearbeitet zu haben.

Konkretes Beispiel, welches mich zum Schreiben dieses Beitrages motiviert hat, war der in Folge 429 (Minute 24 bis einschl. 26) ausgeführte Vergleich von Ministern und CEOs in der Wirtschaft.
Die Darstellung, Führungskräfte in der Wirtschaft wären nicht ganz genauso permanent damit beschäftigt, die sozialen Dynamiken innerhalb des Unternehmens, zu Kunden/Lieferanten und in der jeweiligen Industrie generell zu bespielen, um irgendetwas erreichen zu können, entspricht m.E. nicht der Realität. Das gemalte Klischeebild eines Chefs, der seinen Mitarbeitern in autoritärer Manier ein „bitte so umsetzen, Bericht nächste Woche!“ an den Kopf knallt, entspringt eher einem Hollywood Streifen. Meine Erfahrung aus sowohl Automobil- als auch Offshore Wind Industrie ist viel eher, dass gerade die erfolgreichen CEOs extrem gut darin sind, Seilschaften innerhalb des eigenen Unternehmens aufzubauen, die entscheidenden Leute genauso „mitzunehmen“, wie ihr es aus dem Politikbetrieb beschreibt, in jedem Bereich ihre vertrauten Ansprechpartner zu haben und so immer ein realistisches Bild von der Stimmung in allen Unternehmensbereichen zu haben. Ich selber leite eine Abteilung mit zeitweise ca. 20 Leuten und kann aus eigener Erfahrung sagen: Wenn ich in der hier illustrierten Form mit meinen Mitarbeitern umgehen würde, könnte ich (völlig zu Recht) mir spätestens nächstes Jahr einen neuen Job suchen zu müssen. Wenige Dinge gehen schneller als das Zerstören von Motivation und ich habe oft genug erlebt, dass die entsprechenden Führungskräfte eine kurze Halbwertszeit haben, da sie ihre Mitarbeiter innerhalb kürzester Zeit als Verbündete verloren haben und anschließend keinerlei Ergebnisse mehr liefern können.

Dies ist natürlich nur ein Beispiel und isoliert betrachtet kein Problem. Nun sind mir aber in der Vergangenheit schon öfter vergleichbare Tendenzen zu einer gewissen Trivialisierung von Industrie, Wirtschaft und Handwerk aufgefallen, die ich in ähnlicher Form von Menschen in meinem Umfeld kenne, die im öffentlichen Sektor arbeiten. Ich selbst kann das einordnen, schmunzele schlimmstenfalls hin und wieder darüber wie einfach sich viele Dinge vorgestellt werden und verfalle nicht reflexhaft in eine Abwehrhaltung, weil ich mich durch die tendenzielle Abwertung/Trivialisierung meines Berufsfeldes in meinem Stolz gekränkt fühle - ganz viele andere Menschen (meiner Erfahrung nach) aber schon.

Worauf ich hinaus will ist eigentlich Folgendes: Einer der Hauptkritikpunkte, welcher (meiner Erfahrung nach) euch bzw. der Lage oft entgegengebracht wird und den ich aufgrund der oben exemplarisch beschriebenen Tendenzen selbst nicht ganz von der Hand weisen kann, ist dieses latent-unterschwellige Gefühl, dass euer Blick auf Themengebiete außerhalb der (verzeiht den etwas despektierlichen Ton) „Berlin Bubble“ teils etwas entkoppelt wirkt.

Ich äußere das hier, weil ich euch eigentlich für mit die fähigsten Menschen in der deutschen Medienlandschaft halte wenn es darum geht, das (tages)politische Geschehen für nicht-Politprofis verständlich einzuordnen und es mir immer in der Seele wehtut, wenn ich mitbekomme, dass der LdN dieser gewisse Hauch Elfenbeinturm anhaftet - und zwar gerade in den Augen solcher Menschen, die eine sachliche Einordnung der Welt um sie herum am nötigsten hätten.

Ich fühle mich nicht qualifiziert, hieraus eine konkrete Handlungsempfehlung abzuleiten, dafür kann ich meinerseits euer Geschäft zu wenig einschätzen. Dass ihr nicht alle glücklich machen könnt, ist auch klar. Ich denke ich würde es am ehesten wie folgt formulieren:

Wenn ihr das nächste Mal ein Thema behandelt, welches den Arbeitsalltag von vielen Millionen Menschen in Industrie und Wirtschaft streift, lasst euch manche Formulierungen vielleicht zwei Sekunden länger durch den Kopf gehen oder zieht in Betracht, nicht bloß WirtschaftswissenschaftlerInnen aus Verbänden oder Instituten zu konsultieren, sondern noch mehr mit Menschen aus den betroffenen Unternehmen zu sprechen. Ich bin sicher in gewissem Umfang tut ihr das - ich denke aber der Akzeptanz des Podcasts könnte eine Ausweitung solcher Kontakte gut tun.

Allerbeste Grüße!

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Zum Schluss des von dir genannten Zeitraum wurde ja darauf eingegangen, dass nun ein ehemaliger CEO ein neues Ministerium „from scratch“ aufbauen soll und gerade darin eine Chance gesehen wird. Anschließend noch über die veralteten Strukturen in Ministerien kritisiert mit den Worten „was interessiert mich, wer unter mir [position xy] ist“. Überbesetzung, fehlende Accountability, möglicherweise auch einfach Unbeholfenheit durch fehlende Responsibilities (gibts gute deutsche Übersetzungen die die Unterscheidung verdeutlichen?)

Ich denke, das bild mit dem Bericht geht etwas an der geäußerten Kritik der CEOs vorbei und trifft eher auf die Kritik der Ministerien zu. Bei den CEOs schwingt hier meiner Meinung nach eher ein fehlendes Netzwerk in der Politik mit.

Allerdings möchte ich auf deine Erfahrungen vielleicht auch nochmal eingehen:

Ich weiß natürlich nicht genau in welchem Bereich du dich da bewegst - aber die großen Konzerne sind quasi too big to fail (zumindest über lange Zeit gewesen) und haben unzählige Abteilungen die vermutlich auch noch stark heterogen strukturiert sind. Gerade in Deutschland bzw. EU sind hier durch Arbeitnehmerrechte, Gewerkschaften und Betriebsräte viele dem Arbeitsklima (und in weiten Teilen auch der Produktivität würde ich behaupten) positiv beitragende Betriebsablauf und arbeitsumgebungen geschaffen worden. Dazu zählen auch ein positives Miteinander, Respekt und gefühlt flache Hierarchien.
Strafzahlungen, der Imageschaden und vor allem wohl die Macht der Arbeitnehmerorganisationen forcieren das Ganze aber auch.

In kleineren familiengeführten Betrieben ohne Betriebsrat gibt es teils erschreckende Zustände. In großen Unternehmen wird ist es aktuell angesagt, dass der Praktikant den CEO vor der globalen Versammlung wie auch auf dem Flur duzen darf, ohne dass sich jemand herabgesetzt fühlt. In kleinen Unternehmen ist der Auszubildende noch der Stift, die Azubine für den Kaffee zuständig und alle werden durchs Dorf geschickt um den dringendst benötigten Vierkantbohrer oder ein Liter kristallwasser zu besorgen. Ein Ohrring macht den männlichen Azubi schnell zur „Tunte“ oder „Schwuchtel“. Die Pausenzeit liegt dann im Verkauf auch gerne mal vor Arbeitsbeginn und darf zum umkleiden und den Toilettenbesuch genutzt werden (Glücklicherweise aus meiner Perspektive hauptsächlich Hörensagen, aber Hörensagen mir vertrauter Personen).
In Unternehmen mit solchen Machtstrukturen ist die Anweisung dann auch mal eben ohne Nachfrage zu erfüllen und der Bericht auf den Tisch zu legen. Im zweifel werden die daraus entstehenden Fehler dann vertuscht und verpfuscht, Verletzungen nicht gemeldet etc.

Zumindest aus meinem medienkonsum heraus fühlt es sich so an, als würde gerade erst Tesla versuchen, die Umsetzungsweise der Arbeitnehmerrechte aus kleinen Firmen in die großen Player zurückholen zu wollen.

Aber das sind mal wieder andere Diskussionen… :slight_smile:

Klingt sehr generalisierend…

Ich kann einiges von dem, was du oben schreibst durchaus bestätigen. Aber gerade unser neuer Kanzler ist halt der beste Beweis, das es solche Chef-Typen durchaus gibt und das sie diese Haltung auch mit in die Politik nehmen können.