Mal ein Beispiel - Tansania hat im Mai 2020 das Land für coronafrei erklärt, verweigert jeglichen Impfstoff, Familien müssen ihre verstorbenen Angehörigen teilweise heimlich nachts beerdigen, weil es offiziell keine Coronatoten geben darf. DAS kann man imho zurecht Staatsversagen nennen. Mir fehlt eine Differenzierung, wenn die Lage in Deutschland mit solchen Vokabeln beschrieben wird.
Auch fehlt mir der ehrliche Vergleich mit anderen Ländern. Wenn man z.B. auf USA oder GB und deren Impferfolge verweist, und bei uns Fehler anprangert, müsste man doch zumindest auch lautstark einen Exportstopp in der EU fordern - der Impferfolg in Israel ging ja z.B. nur, weil wir uns in der EU letztes Jahr mit guten Argumenten gegen einen solchen Kurs entschieden haben. Oder noch konkreter auf Deutschland bezogen - Jens Spahn wollte das ja anfangs im Alleingang, und war da auch ganz gut unterwegs. Auch hier gab es gute Gründe, das europäisch (und damit zwangsläufig langsamer) zu organisieren. Wenn man das jetzt rückblickend anders sieht (kann mich nicht entsinnen, dass im Sommer 2020 schon viele gemeckert hätten), dann müsste man doch zumindest die damaligen Argumente anschauen, und ggf. begründen, warum die aus heutiger Sicht so nicht mehr ausreichen. Wem also hätten wir den Impfstoff „wegnehmen“ sollen, damit es bei uns schneller geht?
Bei dem „Impfdebakel“ fehlt mir eine Einordnung der „Impfstoffhalden“ - wieviel logisitschen Lagerbestand haltet ihr denn für realistisch notwendig und warum? Und wieso sollte dieses „Problem“ bei Aufteilung auf 50000 Arztpraxen plötzlich verschwinden? Es kann ja wohl nicht erwartet werden, dass eine Millionen-Dosen-Lieferung innerhalb einer Sekunde verimpft wird. Zu dem Thema gabs im Forum eine ausführliche Diskussion, auf die allerdings keinerlei Reaktion folgte, obwohl die dortigen Argumente imho durchaus stichhaltig sind. Mag sein, dass es in Berlin irgendwo Probleme mit Lagerbeständen gibt, aber in vielen Impfzentren ist es schlicht so, dass der komplette vorhandene Impfstoff Freitag komplett verimpft ist (aber klar, die faulen Mitarbeiter sollte man trotzdem am WE arbeiten lassen - einfach nur um den Volkszorn zu beruhigen ^^).
Überhaupt, abgesehen von den wenigen Ländern die ausreichend Impfstoff haben, sieht es doch zumindest in den westlichen Ländern jetzt auch nicht so aus, als wenn Deutschland da der auffällige Negativausreißer wäre (nicht nur was die Impfung angeht). Vielleicht liegt das „Impfdesaster“ ja doch am knappen Impfstoff, und nicht an der Unfähgkeit der Politik, selbigen zu verimpfen? Die derzeitige mediale Berichterstattung, auch hier in der Lage, hat in meinem engsten Umfeld dazu geführt, dass da Leute ernsthaft daran zweifeln, ob die Politik überhaupt impfen will, oder ob sie nicht absichtlich Impfstoff hortet, um damit irgendeine hidden agenda umzusetzen. Das traurigste daran, ich kann sogar nachvollziehen, wie bei der aktuellen Berichterstattung solche Gedanken aufkommen können.
Auch stört mich, mit welcher absoluten Gewissheit davon ausgegangen wird, dass eine Position (die mir übrigens prinzipiell auch sympathisch ist) die alleinig richtige ist, und alle anderen falsch und unsinnig. Ich bin selbst Physiker, und es ist für mich oft nur schwer erträglich, mit welchher Selbstverständlichkeit so getan wird, als würde die Wissenschaft irgendwelche Entscheidungen vorgeben/nahelegen, oder gar als richtig bestätigen. Dass kann die Wissenschaft garnicht (natürlich können sich einzelne Wissenschaftler mit einer Meinung am Diskurs beteiligen). Sie kann lediglich Fakten liefern, Modellrechnungen und Prognosen. Wie die dann allerdings zu bewerten sind, ist nunmal eine gesellschaftliche bzw. politische Frage (oder man könnte auch andersherum sagen, die Wissenschaft braucht eine Vorgabe, auf welchen Parameter sie ein Modell optimieren soll -, also z.B. möglichst wenig Tote, oder möglichst wenig Einschränkung für Kinder oder möglichst geringe Auswirkung auf die Wirtschaft …). Welches Grundrecht wollen wir stärker wichten als Andere? Es ist nicht automatisch gesetzt, das Schutz des Lebens höher steht, als andere Grundrechte. Folgt aus dem Wissen um ein aktuell exponentielles Wachstum automatisch, dass man einen Lockdown machen muss? Wäre mit der deutschen Bevölkerung denn ein so konsequentes Vorgehen wie in China denkbar? Können wir unsere Grenzen dicht machen, wie es viele erfolgreichere Länder ja tun? Könnte es sein, dass man Zahlen erst soweit steigen lassen muss, das die Complience in der Bevölkerung wieder zunimmt? Oder nimmt man vieleicht eine zeitweise Überlastung des Gesundheitssystems in kauf?
Schließlich fehlt mir oft eine genauere Betrachtung der Zuständigkeiten (bin mir aber gerade nicht sicher, ob das so auf die Lage zutrifft, oder nur auf die Medien im allgemeinen). Jens Spahn ist nicht für alles zuständig. Und viele, wenn nicht die meisten Probleme liegen doch auf Landes- und insbesondere kommunaler Ebene. Das zeigen doch Vergleiche zwischen unterschiedlichen Regionen (z.B. OB Rostock, Unterschiede bei Gesundheitsämtern, …).
PS: Und ich wundere mich schon, warum man bei den Impfstoffen rückblickend schimpft, warum man da auf den Preis geschaut hat, bei den Masken dagegen schimpft, dass da nicht auf den Preis geschaut wurde. (ja, ist nur bedingt vergleichbar - aber diese Empörungsmaschiene in D ist schon zu hinterfragen)
Sorry wenn das jetzt ziemlich negativ klingt. Ich bin eigentlich dankbar für die Lage. Aber mir geht es beim Hören aktuell ähnlich wie utoco, was ich sehr schade finde. Mag natürlich zum Teil auch daran liegen, dass auch wir Zuhörer coronabedingt empfindlicher sind