Diskussionskultur und Polarisierung in unserer Gesellschaft

Ausgangspunkt war folgender, sehr interessanter Beitrag von @kaigallup aus einem anderen Thread, in dem ein (angeblicher?) Arzt erhebliche Zweifel an mRNA- und Vektorimpfstoffen äußert und sich für die Forcierung bei der (mutmaßlich eigentlich nicht möglichen) Entwicklung von althergebrachtem Totimpfstoff ausspricht: Daraus entwickelt sich eine mehr oder weniger hitzige Diskussion, die @kaigallup zum Anlass für folgende Gedanken nimmt:

Mir geht es hier nicht um die Impf-Frage. Dazu verweise ich u.a. auf den o.g. Thread. Mir geht es um die Diskussionskultur. Ich empfinde ähnlich wie @kaigallup: Die Qualität der Diskussionskultur auch in Deutschland nähert - zumindest bei einigen Themen: Corona, Klimakatastrophe, nur um zwei zu nennen - sich bedenklich der Qualität im „Trump-Land“ oder im „Brexit-Land“. Ähnliches kann man u.a. in Polen oder Frankreich beobachten.

Auch wenn ich selbst ein Freund klarer Worte bin, würde ich persönlich eine Ergebnis-orientierte Diskussionskultur bevorzugen, in der es darum geht, am Ende den anderen von seiner Position zu überzeugen oder am Ende mit einem „wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind“ friedlich auseinander zu gehen. Dazu ist ein sicherlich verständnisvoller, emphatischer Ansatz, wie in @kaigallup mit b) beschreibt, sicherlich hilfreicher.

Aber in der Umsetzung fällt mir das immer dann schwer, wenn man sich über die Faktenlage uneins ist: Man kann über Meinungen gern und viel streiten, nicht aber über Fakten. Und ich treffe immer mehr Menschen, die - angefeuert von Medien mit einer klaren Agenda oder kommerziellen Interessen, wie z.B. die BILD oder die Welt oder von „den sozialen Medien“ - falsche Informationen und „Fakten“ völlig unreflektiert und kritiklos als Grundlage ihrer Einschätzungen übernehmen und dann mehr oder weniger bewusst allerlei Argumentationsmuster (u.a. PLURV) verwenden, um ihre „Faktenlage“ zu verteidigen und die wahre Faktenlage zu erschüttern.

Mir will es in solchen Fällen einfach nicht gelingen, die Contenance zu waren und die Empathie aufzubringen, um mit Respekt und Verständnis für eine solche Position zu reagieren. Ich weiß, Respekt müsste ich doch mindestens aufbringen.

Aber ich kann einfach kein Verständnis und auch keine Toleranz mehr aufbringen für Menschen, die den menschengemachten Klimawandel oder die Gefährlichkeit der Corona-Pandemie heute immer noch anzweifeln. Ich kann kein Verständnis aufbringen, für Wahlkampftaktiken, die den Gegner herabwürdigen, anstatt den Wähler von der eigenen Position zu überzeugen. Ich kann kein Verständnis aufbringen für Politiker, die jetzt ein „Erneuerbaren-Energie-Turbo“ ankündigen - die gleiche, die während der den letzten 16 Jahren alles in Bewegung gesetzt haben, um erneuerbare Energien zu verhindern. Und ich kann auch wenig Respekt aufbringen für Menschen, die intellektuell und material durchaus dazu in der Lage wären aber zu träge, zu faul sind (oder Angst vor den Konsequenzen haben), um sich hinreichend über die Fakten zu informieren. Ich kann kein Verständnis für (u.a. die o.g.) Medien aufbringen, die der Verbreitung von Fake News aktiv Vorschub leisten. Ich habe einfach nicht die Kraft, hier Verständnis und Respekt aufzubringen und mir fehlt die Zuversicht, dass man in solchen Fällen überhaupt etwas ausrichten kann.

Dabei habe ich ja die Hypothese, dass viele, die ihre Position auf „falschen Fakten“ aufbauen, dies aus einer für sie unerträglichen Überforderung mit der Realität tun. Sie ertragen die mit der schier unendlich erscheinenden Komplexität einhergehenden scheinbare Ausweglosigkeit der Klimakrise / Pandemie / [you name it] nicht. Und die „falschen Fakten“ - bis hin zu Verschwörungsmythos - bieten scheinbar eine einfache Erklärung und eine einfache Lösung für die undurchdringliche Komplexität. Das mag psychologisch und menschlich verständlich sein. Aber mir fehlt die Kraft, dem mit Verständnis und Respekt zu begegnen.

Und so werde ich immer wieder Teil der Polarisierung! Das kann und will ich nicht, weil ich eine Gesellschaft wie in USA, UK etc. hier auf gar keinen Fall haben möchte.

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Ich lehne schon die Prämisse, dass „Polarisierung“ oder „Spaltung der Gesellschaft“ um jeden Preis zu vermeiden seien, ab. Ganz im Gegenteil muss man in Bezug auf antidemokratische Tendenzen polarisieren. Wer immer wieder auch mit Coronaleugnern, Reichsbürgern, Impfgegnern, Klimawandelleugnern usw. ernsthaft in den Dialog treten will, der tut dies entweder absichtlich als verdeckter Verbündeter oder weiß einfach nicht, was das Overton-Window ist bzw. was passiert, wenn es verschoben wird. Das sind Leute, die auf ihren Veranstaltungen und in ihren Chatgruppen der Mehrheitsgesellschaft offen den Bürgerkrieg erklärt haben. Das muss man einfach langsam mal akzeptieren und sie so behandeln, statt immer noch der Illusion einer möglichen „ergebnis-orientierten Diskussionskultur“ anzuhängen.

Dass in Ländern wie USA der Spalt zwischen demokratischer und autoritaristischer Bevölkerung mittlerweile fast bei 50% liegt, liegt genau daran, dass die entsprechenden Tendenzen jahrzehntelang ignoriert und teilweise auch aus machtstrategischen Gründen hingenommen wurden, auch und gerade von der Demokratischen Partei, und auch jetzt noch, wo das Land praktisch vor einem Bürgerkrieg steht. Wer das hier in Deutschland nicht möchte, muss endlich mal klare Kante zeigen.

Und dazu gehört eben klar zu machen: Wer AfD wählt, ist raus aus unserer Gemeinschaft. Wer auf Covidioten-Demos geht, auch. BILD und WELT auch. Und alle anderen müssen sich irgendwann mal entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Insbesondere die Unionsparteien und FDP stehen am Scheideweg, und da hätte ich mir schon von den VertreterInnen der anderen demokratischen Parteien gewünscht sich mal klar zu positionieren, dass es z.B. mit einer Partei, die Maaßen in den Bundestag schickt, und deren Abgeordnete ihre Mandate zum großen Teil sowieso nur nutzen um sich lukrative „Nebentätigkeiten“ einzuhandeln, nach der Wahl keine Koalition geben kann.

Stattdessen springen Teile der liberalen Bubble immer wieder selbst über das kleinste Stöckchen. Jüngstes Beispiel: Irgendein MDR-Praktikant hat bei einer Pressekonferenz ein prominent ins Bild gehaltene Logo von BILD-TV retuschiert. BILD hat sich natürlich aufgeregt und mal wieder über die öffentlich-rechtlichen Lügenmedien gehetzt. Aber statt sich hinter die Aktion zu stellen und zu sagen „ja, das Logo wurde entfernt, und das ist auch vollkommen korrekt so, denn unsere TV-Gebühren sind nicht dazu da um irgendwelchen Möchtegern-FoxNews-Verschnitten kostenlose Werbefläche zu bieten“, haben sich alle mal wieder schnell beeilt das in schärfsten Worten zu verurteilen, mit der Begründung das wäre ja total schädlich, denn es würde nur das Narrativ von BILD stärken. Na und? BILD und WELT hetzen sowieso permanent gegen öffentlich-rechtliche Medien und alles was „links“ der sogenannten Werte-Union steht. Die wollen das Land brennen sehen. Auf die muss man keine Rücksicht nehmen, die gehören im Gegenteil mit allen Mitteln bekämpft.

Mehr Polarisierung wagen!

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Ja, ich fürchte auch, die Gesellschaft ist schon gespalten. Wir müssen dafür sorgen, dass der Spalt zwischen einer möglichst großen Mehrheit und einer möglichst kleinen Minderheit verläuft.

Allerdings geht der Spalt zum Glück oder Unglück noch nicht ganz durch. Will sagen, es gibt noch immer genug Leute, die sich noch nicht für die eine oder andere Seite des Spaltes entschieden haben. Und gerade die könnte man durch eine anständige Diskussionskultur auf der richtigen Seite halten (oder auf die richtige Seite ziehen).

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Diese Diskussion geht inhaltlich nah an Poppers Toleranz-Paradox mit der Fragestellung: „Soll man gegenüber intoleranten Menschen tolerant sein?“ und der klaren Antwort: „Nein!“

Hier fragen wir nun: Sollen wir rational und gutmeinend mit Menschen diskutieren, die selbst jede Rationalität ablehnen (und es teilweise „gut meinen“, teilweise aber auch nicht).

In Fällen wie jenen von Atilla Hildmann und anderen Profiteuren von Verschwörungsmythen ist es einfach: Hier haben wir es mit Menschen zu tun, die schlicht ein „böses“ Ziel verfolgen. Diese Menschen wollen aus rassistischen und anderen widerlichen Motiven heraus eine Revolution anführen, größtenteils, um sich selbst aufzuwerten. Oder Alex Jones, der einfach mal Millionen mit seinen Verschwörungsmythen verdient hat. Mit solchen Leuten kann und darf man nicht sachlich oder gutmeinend diskutieren, solche Leute muss man klar und eindeutig für das verurteilen, was sie tun - und ihnen keine Bühne bieten, um ihren Mist weiter zu verbreiten. Diese Leute betreffend schließe ich mich Otzenpunk an.

Auf der anderen Seite stehen Verschwörungsgläubige, also Menschen, die sich wirklich einbilden, es gäbe eine Gefahr, vor denen sie andere warnen müssten - oder die wirklich meinen, Corona mit Hydroxychloroquin oder Ivermectin behandeln zu können. Diese Menschen wollen ja letztlich anderen helfen, indem sie auf Gefahren hinweisen, die in ihren Augen „echt“ sind oder Tipps geben, die ihrer Meinung nach „hilfreich“ seien. Der Umgang mit diesen Leuten fällt mir immer schwer - denn sie handeln halt nicht aus „bösen“ Motiven. Mit solchen Leuten versuche ich daher noch zu respektvoll zu diskutieren, auch wenn es selten etwas zu bewirken scheint. Leider.

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Danke, @otzenpunk! Du formulierst da einen Gedanken, den ich exakt so auch zu dem Thema teile.

Hinzufügen möchte ich noch, dass diese immer wieder gern herangezogenen Vergleiche mit den USA und der dortigen politischen Kultur in einem entscheidenden Punkt hinken. Egal bei welchem unserer „Spaltungsthemen“ man einen Vergleich mit amerikanischen Verhältnissen bemühen könnte, es gibt in keinem Fall eine zum amerikanischen Zweiparteiensystem vergleichbare Kraft, die eine Zuspitzung auf exakt zwei hart voneinander abgetrennte Pole von etwa gleicher Größe forcieren würde. Und nur das wäre ein Problem, denn so lange es entweder mehr wie zwei Gruppierungen gibt und/oder die Gruppierungen deutlich unterschiedlich in ihrer Größe sind, gibt es Möglichkeiten zu Koalitionen bzw. zumindest keine Entscheidungsparalyse, so dass die Grundlage für die sich selbst verstärkende Spirale, die man in den USA beobachten kann, nicht gegeben ist.

Es auf Basis des Blicks über den großen Teich also als „Naturgesetz“ zu betrachten, dass eine fortgesetzte Polarisierung immer langfristig zu einer Teilung der Gesellschaft in exakt zwei Lager führen würde, die sich dann auch jeweils zahlenmäßig etwa gleich groß gegenüberstehen und jegliche Meinungen zwischen den Extremen in sich aufgesogen haben, halte ich daher für fehlgeleitet. Und ein daraus abgeleitetes Gebot zu „Versöhnung um jeden Preis“ für geradezu kontraproduktiv und gefährlich, aus genau den Gründen, die @otzenpunk dargelegt hat. Der Weg in die Hölle ist auch hier mit guten Vorsätzen gepflastert.

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Vielen Dank für deinen Beitrag, der, finde ich, ein sehr schönes Plädoyer für „mehr Intoleranz“ gegenüber schädlichen und subversiven politischen Positionen entfaltet. Dennoch bin ich eher dem konträren Ansatz zugeneigt, nach Möglichkeit in einen verständigungsorientierten Dialog zu treten, und versuche einmal darzustellen, aus welchem Grund.

Im Kern treibt mich die Sorge um, dass oftmals ein Zerrbild dieser politischen Opposition - seien es Impfgegner, Bild-Leser oder AFD-Wähler - gezeichnet wird. Wir alle sind uns vermutlich einig, dass es manche politische Akteure gibt, bei denen es zwecklos und sogar kontraproduktiv ist, ihnen mit Verständnis, Interesse und Offenheit gegenüberzutreten. Für mich wären das z.B. Bild-Chefredakteur Julian Reichelt oder hochrangige AFD-Politiker. Bei solchen Personen muss man davon ausgehen, dass sie Gespräche und Auftritte nicht nutzen, um wahrhaftig ihre Überzeugungen zu teilen und zu begründen, sondern im Dienste einer verborgenen Agenda. Mit jemanden in einen Dialog zu treten, der dazu dient, die Auffassung des anderen nachzuvollziehen und Argumente auszutauschen, ist einzig dann sinnvoll, wenn man dem Gegenüber eine ähnlich wohlwollende Absicht unterstellen kann. Wenn es hingegen darauf abzielt, durch unredliche Mittel rhetorisch zu punkten oder zu manipulieren, dann wird eine verständigungs-orientierte, empathische Haltung tatsächlich ausgenutzt. Das heißt, manche Personen sollte man tatsächlich möglichst aus einem Gespräch ausgrenzen und sie nicht noch mit Aufmerksamkeit belohnen (Wobei es selbst dann, wenn vorgeschobene Argumente als propagandistisches Werkzeug fungieren, wichtig ist, sie zu entkräften. Nur sollte dies dann eben nicht im Rahmen eines gleichberechtigten Dialogs geschehen).

Nur sind nicht alle Gespräche öffentlich und nicht alle Impfgegner, Corona-Leugner, Bild-Sympathisanten und AFD-Wähler durchtriebene, böswillige Menschen, die Mitmenschen bloß im Dienste einer dunklen Agenda gegenübertreten. Solche Agitatoren gibt es, nur schießt man m.E. über das Ziel hinaus, wenn man dort die Mehrheit der Anhänger dieser Gruppen verortet. Stattdessen gibt es dort viele Menschen, deren allgemeine Welthaltung sich nicht allzu stark von unserer unterscheidet, bloß dass sie in manchen - fatalen - Hinsichten fehl-informiert sind oder sich einem Themengebiet einseitig-irrational nähern. Oftmals beruhen ihre Einstellungen auf Sorgen oder Haltungen, die man - obwohl sie abzulehnen sind - mit etwas Empathie zumindest nachvollziehen kann. Mit solchen Menschen respektvoll und auf Augenhöhe zu kommunizieren - zumal wenn es sich nicht um die ganz große öffentliche Bühne handelt - kann kaum schaden und ist die einzige Möglichkeit, womöglich ihre Auffassung ein wenig zu verändern. Anhänger politisch-weltanschaulicher Gruppen auszugrenzen und zu verurteilen, wird eher nicht dazu führen, dass sich ihre Einstellungen ändern. Stattdessen sorgt es wohl eher dafür, dass sie noch vehementer Zuflucht in ihrer Echokammer suchen und sich endgültig vom „Mainstream“ zurückziehen.

Zumal ich schon glaube, dass eine weniger polarisierte Gesellschaft einen Wert an sich darstellt (der natürlich mit anderen abgewogen werden muss). Zumindest würde ich eher nicht in einer amerikanisierten Gesellschaft leben wollen, wo (überspitzt gesagt) die Bevölkerung in zwei Teile zerfällt, die sich gegenseitig aus politischen Gründen verachten. Eine Gesellschaft, in der man sich grundsätzlich - selbst über tiefe politisch-weltanschauliche Differenzen hinweg - mit Respekt behandelt und als grundsätzlich gute Menschen ansieht, ist doch viel attraktiver.

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Wer hat denn davon geredet, „um jeden Preis“ eine Polarisierung zu vermeiden? Ich jedenfalls nicht und @TilRq auch nicht. Wenn Du „antidemokratische Tendenzen“ zum Ausgangspunkt Deiner Replik machst, scheinst Du folgenden Satz von mir entweder überlesen oder bewusst ignoriert zu haben.

Nichts gegen klare Kante gegen Positionen, die tatsächlich menschenverachtens und/oder demokratiegefährdend sind. Aber nochmal: Um die ging es in diesem Thread nie. Was Du machst, ist letztlich derselbe Beschuss von Spatzen mit Kanonen, den z. B. auch die Wissenschaftsredaktion des SPIEGEL betreibt, wenn sie in einer Suggestivfrage an einen Virologen behauptet, einige seiner Kollegen seien „schlimmer als die Querdenker“ oder den Jan Böhmermann praktiziert, wenn er als wissenschaftlicher Laie behauptet, bestimmte Virologen hätten „keine Ahnung“ und würden „menschenverachtende Inhalte“ verbreiten und sollten sich daher nicht mehr öffentlich äußern dürfen. Wenn ich jegliche Meinung, die mir nicht passt, als antidemokratisch oder menschenverachtend abtue, aber nicht mal in der Lage bin, das inhaltlich zu begründen, geht genau die Abwägung verloren, von der ich schrieb. Das mag bequem sein und sich gut anfühlen, weil man sich auf „der richtigen Seite“ wähnt, aber aus einer gesellschaftlichen Perspektive ist es selbstgerecht, töricht und toxisch.
Denn wenn Du z.B. ein „Wir“ behauptest (wen auch immer das umfasst und aus welchen Gründen), das legitimiert sei, bestimmte Medien per se und mit allen Mitteln aus der Öffentlichkeit zu verbannen (und zwar unabhängig davon, wer sich da wie über was äußert): Mit welchem Recht willst Du dann kritisieren, dass Rechte bezogen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk dasselbe machen?
Wer Polarisierung zu einem Selbstzweck erhebt erweist der Demokratie einen Bärendienst.

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Ich finde den Ansatz gut, habe aber das Gefühl dass die Spaltung noch nicht so schlimm ist, wie Sie befürchten. Ich sehe das Problem eher an einer anderen Stelle, ähnlich wie @otzenpunk: Wir reden bei den beinharten Impfgegnern von einer absoluten Minderheit, ebenso wie beinharten Klimaleugnern und Rechtsextremen. Vor einigen Jahren bin ich in Frankfurt mal mitten in eine Pegida Demo hineingeraten… Ich würde schätzen das waren etwa 50 Personen + riesiger Gegendemo + riesigem Polizeiaufgebot - aber als ich dieselbe Demo am Abend in den Nachrichten gesehen habe sah das viel beeindruckender aus als vor Ort.

Worauf ich hinaus will ist Folgendes: Früher waren all diese Menschen, die Fakten geleugnet und sich ihre eigene Realität gebastelt haben eben Exoten, denen man in der Nachbarschaft aus dem Weg gegangen ist. Machen wir es mal am Beispiel der echten Impfgegner, die sich „auf keinen Fall“ impfen lassen wollen. Das sind nach dem letzten Bericht des RKI zur Impfbereitschaft etwa 5% (Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/COVIMO_Reports/covimo_studie_bericht_6.pdf?__blob=publicationFile).

Da bald Wahl ist, bemühe ich mal den Vergleich, dass diese Minderheit an der 5%-Hürde kratzen und vielleicht nicht einmal in den Bundestag einziehen würde. In unserer Demokratie würden wir also akzeptieren, solch eine Randmeinung sogar vollkommen zu ignorieren. In den Medien sind diese Menschen als Querdenker etc. allerdings allzeit präsent und lenken den Diskurs. Keine Woche vergeht ohne Meldungen zu diesen Spinnern. Klar sagt man dazu dass das Spinner sind, aber das Problem ist als „Falsche Ausgewogenheit – Wikipedia“ bekannt. Es sieht so aus als wäre die Bevölkerung in der Mitte gespalten. Politiker*innen bedienen sich der „Argumente“ von Randgruppen dann um zu begründen was auch immer ihnen gerade in den Kram passt und so hat eine Nischenmeinung der 5% plötzlich Einfluss auf das operative Geschäft der Bundesregierung.

Diese Menschen leben nicht einfach ihre Meinung aus sondern haben eine sehr differenzierte social Media Strategie und nutzen die Eigenheiten der Algorithmen großer Plattformen um Desinformation zu verbreiten. Es werden ständig Scheinorganisationen und Fake accounts erstellt um diese Gedanken zu verbreiten und die Fakten durch Desinformation zu verwässern. Und das obwohl Techriesen wie Google und Facebook inzwischen bei covid schon dagegen steuern - das ist kein erfundenes Problem sondern diesen Firmen sehr bewusst. Und nicht die Auslebung eigener verquerer Ideen sondern diese unfassbaren Möglichkeiten den gesellschaftlichen Diskurs aus einer Randgruppe heraus zu steuern ist für mich das Problem.

Ich sehe daher nicht, dass solche Meinungen zu wenig Aufmerksamkeit bekommen - ganz im Gegenteil, das Problem entsteht durch die Akzeptanz. Radikales Gedankengut wird mit der Zeit gesellschaftstauglich. Dann ist es plötzlich in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert, sich der Rhetorik von Coronaleugnern, Klimawandelleugnern, Rechten, Impfgegnern - you name it - zu bedienen. Und da diese Rhetorik uns dann so vertraut ist - selbst aus den seriösen Medien - fällt es dann auch schwer konsequent Grenzen zu ziehen und zu sagen - das ist nicht ok. Denn viele dieser Menschen identifizieren sich gar nicht als Impfgegner, Klimaleugner etc. und fühlen sich sofort persönlich angegriffen und in diese Lager gesteckt. Natürlich werden solche Menschen Gründe suchen, warum sie nicht im Unrecht waren und letztendlich „merken“ sie dann vielleicht doch, dass Mitglieder einer gefährlichen und demokratiefeindlichen Randgruppe „eigentlich ganz nette und vernünftige Menschen“ sind denen man Unrecht tut und die „Opfer der Mehrheit“ sind. Und so schafft man es dann auch, einen Riss quer durch die Gesellschaft zu ziehen. Mal einige aktuelle Beispele, die mir ganz spontan aus der Corona Pandemie einfallen, die gegen den Konsens verstießen, aber aufgefangen von den Medien den Diskurs gelenkt haben:

  • „das Arbeitsleben spielt keine große Rolle“
  • „Kinder sind nicht betroffen“
  • „Experten rücken von der Inzidenz ab“
  • „Risikogruppen schützen“
  • „Bevölkerung ist gegen Coronamaßnahmen“
  • allein das Wort „Lockdown“, obwohl wir nie einen hatten
  • „No Covid stellt nur die Gesundheit in den Mittelpunkt, aber schadet der Wirtschaft“
  • „Impfpflicht durch die Hintertür“
  • „Fokussierung auf Durchbruchsinfektionen“

Das sind alles Dinge, die von einem sehr kleinen Kreis von Menschen verbreitet wurden, gesellschaftstauglich wurden und im Endeffekt Einzug in die Politik gehalten haben. Egal wie man zu diesen Aussagen steht, einen fairen Diskurs hat es dazu nicht gegeben. Aber für die Medien waren es tolle Schalgzeilen. Man muss es ganz klar sagen - die Politik hat sich in den meisten Fällen gegen den wissenschaftlichen Konsens und für die Randmeinung entschieden. Dasselbe passiert uns bei anderen polarisierenden Themen ebenfalls. Daher sehe ich keinen Grund noch eine größere Plattform zu bieten und solche Meinungen zu legitimieren.

Was mir dabei immer im Kopf herumgeht ist ein Zitat von Erich Kästner, das ich irgendwann mal in meiner Jugend gelesen habe: „Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“

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Ein weiterer Aspekt ist die Frage nach dem Adressaten des Streitgesprächs. Warum geht man denn in ein Streitgespräch (sei es eine Diskussion oder eine Debatte):

  1. Entweder um sich selbst weiterzubilden,
  2. oder um das Gegenüber aufzuklären,
  3. oder um Dritte von seiner Meinung zu überzeugen (bzw. um zu verhindern, dass der Streitgegner Dritte von seiner Meinung überzeugt).

Im ersten Fall kann man jederzeit das Streitgespräch abbrechen, sobald man der Überzeugung ist, dass der Streitgegner nichts sinnvolles zu sagen hat. Im zweiten Fall wäre es kontraproduktiv das Gegenüber respektlos zu behandeln. Spannend wird es im dritten Fall und hier kommt es auf das Vorwissen und die Aufnahmefähigkeit der Dritten an. Es kann durchaus im Interesse des Dritten sein, wenn man erstmal die Motive des Streitgegners auf PLURV etc. abklopft (sofern es dafür eben Anhaltspunkte gibt).

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Zum Thema Polarisierung der Gesellschaft stellt sich die Frage, ob diese überhaupt (wieder) zunimmt. Seit Gründung der BRD standen sich CDU und SPD polarisierend gegenüber, später dann CDU+FPD und SPD+Grüne. Dann kam quasi eine halbe Generation lang die Ära der großen Koalitionen. Und als ob durch das parlamentarische Verschmelzen von CDU und SPD auch die Spaltung zwischen deren Wählerschaften über Nacht verschwunden wäre, wurde nun erklärt, dass die „Mitte der Gesellschaft“ nun geeint ist und nur die Ränder noch von diesem harmonischen (bzw. konformistischen) Optimum abweichen.

Soll heißen:

  1. Früher waren ganze Milieus bedingungslose Stammwähler einer Partei, heutzutage sind viele Wähler deutlich flexibler in ihrer Wahlentscheidung. Sieht für mich danach aus, als wären die Gräben zwischen den verschiedenen Lagern eher flacher geworden.
  2. Früher konnten die Medien noch Schlagzeilen machen indem sie von den Debatten zwischen CDU und SPD berichten, heute „verweigern“ diese Parteien eben Debatten, die schlagzeilenwürdig sind.

Meine Gegenthese wäre, dass die Polarisation selbst nichts neues ist, sondern im Gegenteil etwas essentielles der Demokratie ist. Das eigentliche Problem liegt wohl eher in der verkümmerten Streitkultur, d.h. dass ad hominem und ad personam „Argumente“ mehr Gewicht haben als richtige Argumente.

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Danke für den Thread!
Mir geht’s hier im die Diskussionskultur: Wo lernt man sowas noch? Ich frage mich immer wieder, wie man aus einer kaputten Diskussion wieder in einen halbwegs konstruktiven Modus kommt. Fast jede Gruppe wird sich jetzt oder demnächst mal damit befassen müssen, wie alle zum Impfen, etc. stehen und so eine Diskussion kann gern schief gehen. Die Spaltung/Spaltungen werden da nochmal krasser zu Tage treten.

@InDubioProReo: Deine Liste ist m.E. leider nicht vollständig, da die Eskalationsspirale oft noch weiter geht:

  1. um jemanden nicht nur zu überzeugen, sondern zu diskreditieren
  2. sich anzuschreien
  3. sich anzuschweigen

Ich frage mich immer wieder, wie wir da wieder „einen Gang zurück schalten“ können. Einige Medien und Minderheiten sind ja nicht unbedingt gute Beispiele und viele haben nie gelernt, wie eine gute Diskussion funktioniert. Oft scheitert es ja schon daran, jemanden ausreden zu lassen.

Das klingt beim nochmal-durchlesen schon irgendwie ziemlich finster, aber eine wirkliche Lösung habe ich auch noch nicht gefunden. Ich verfolge mal weiter den Thread, mal sehen, ob was dabei ist.

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Ich finde, Mitgefühl muss man sich irgendwo auch verdienen. Jemand, der sich absichtlich dafür entscheidet, die Realität zu leugnen, um so jede Verantwortung von sich auf andere abzuwälzen, hat kein Mitleid verdient. Menschen, die versuchen diese Person dann auch noch zu verteidigen oder zu verstehen sind für die Polarisierung mit verantwortlich.

Jedenfalls will mir nicht klar werden, wie man jemals Polarisierung überwinden will, wenn man Polarisierern nicht mehrheitlich klar entgegen tritt, sondern wenn ein großer Geil ihre Realitätsverzerrung hin nimmt. Genau das hat doch z.B. dazu geführt, dass CDU/CSU so lange an der Macht bleiben konnte. Dass die Reichen reicher, die Armen ärmer wurden. Dass die Rassisten systematisch geduldet wurden.

Damit muss Schluss sein. Polarisierung erfordert zwei starke Pole. Überwiegt ein Pol ganz klar, gibt es auch keine Polarisierung, sondern eine Mehrheit und eine Minderheit. In diesem Fall ist es gut, die Minderheit zu unterdrücken, denn sie verhält sich pur egoistisch auf Kosten der gesamten Bevölkerung. Absichtliche Realitätsverweigerung sollte meiner Meinung nach genauso strafbar sein wie Körperverletzung. Es steht dem in Nichts nach.

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Das Argument kannst Du aber genauso gut in die andere Richtung anwenden: Für ein typisches Aluhutträgy bist doch Du dasjenige, das die Realität leugnet.

Und außerdem gibt es noch verschiedene Stufen von Realitätsleugnung: „einfache“ Religiosität, Kreationismus, Flacherdeglauben…

Ab wann ist es in Ordnung,

oder sogar für ihren Glauben zu bestrafen? Bin ich in einer Gesellschaft von Zeugen Jehovas eine bestrafenswerte Minderheit, weil ich an den Big Bang glaube, obwohl doch die Wahrheit ganz klar in einem Buch geschrieben steht?

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Das hört sich für mich an wie wenn du der Machthaber in Belarus wärst und über die „Demonstranten“ redest.
So eine Einstellung bringt nur Unterdrückung, denn eine (Meinungs-) Minderheit wird es immer geben.
Das ist absolut schräg, antidemokratisch, in einer Gesellschaft in der das die Maxime ist will ich nicht leben.

Ein Problem ist dass das Streitgespräch oft wie ein Krieg geführt wird der um jeden Preis zu gewinnen ist. So ein Gespräch ist verlorene Zeit da gegen Dogmen die so vertreten werden kein Argument zählt.

Das verstehe ich konzeptionell nicht: Wie kann etwas „den Diskurs lenken“, obwohl es einen anderslautenden „Konsens“ gibt?

Zumindest einige der Punkte, die Du genannt hast, wurden ja in ganz unterschiedlichen Öffentlichkeiten (Medizin, Wissenschaft, Politik etc.) breit diskutiert und lassen sich keineswegs darauf reduzieren, dass hier ein paar Durchgeknallte mit etwas Gehör gefunden hätten, was vollkommen dem common sense widerspricht. Es ist aber genau diese Entgrenzung und Inflationierung von Begriffen wie „Konsens“, „PLURV“ oder „False Balance“, die das an sich richtige Plädoyer für eine wehrhafte Demokratie hohl werden lassen. Um es mal ganz platt zu sagen: Streeck ist einfach nicht Pegida. Und wer das behauptet, zeichnet genau so ein Zerrbild, wie es @Sommermaerchen beschreibt.

Wer definiert denn, was „die Realität“ ist und was „Realitätsverweigerung“? Das mag ja in einigen Fällen sehr einfach sein, etwa beim Thema Klimawandel. Aber spätestens dann, wenn wir es mit einer Interpretation und Einordnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu tun haben - mit Menschen und ihren Wahrnehmungen, Emotionen, Gedanken und ihrem Handeln, kurz mit Psychologie und Soziologie - wird ds schon erheblich schwieriger. Ein Beispiel: Basiert Kapitalismus per Definition auf Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zwecks Profitmaximierung, - führt als dazu, dass Reiche reicher und Arme ärmer werden oder setzt Kapitalismus lediglich die Potenziale des Menschen auf bestmögliche Weise frei und führt daher tendenziell zu Zufriedenheit und Wohlstand - was davon ist denn nun die Realität? Und wer legt das fest? Und wie ist „Realitätsverweigerung“ definiert?
Ganz abgesehen davon finde ich es eine höchst undemokratische Haltung, wenn Menschen sich Respekt „verdienen“ müssen (wer bestimmt denn, wann dieser verdient ist?) und wenn es gutgeheißen wird, Positionen von Minderheiten zu „unterdrücken“. Das verträgt sich im Übrigen auch überhaupt nicht mit dem von Dir an anderer Stelle vorgeschlagenen Verfahren des Systemischen Konsensierens.

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Indem es einen Konsens in der Wissenschaft zu diesen Themen gab, was in der dort definitionsgemäß mit der Meinung der überwiegenden Mehrheit gleichgesetzt wird. Danke der Nachfrage, scheinbar wird der Begriff außerhalb der Wissenschaften anders verwendet, quasi als Gegensatz zum Diskurs. Wir benutzen das in der Wissenschaft deshalb etwas anders als Rechtswissenschaften etc., da es immer möglich sein muss eine stehende Hypothese oder Theorie zu widerlegen, das gehört zur Wissenschaftlichkeit und fällt uns leider ständig im Diskurs mit der Öffentlichkeit auf die Füße (siehe z.B. „keine 100%ige Sicherheit“, „Evolution ist ja nur eine Theorie“, etc.).

Diskurs gab es zu den gelisteten Themen aber hauptsächlich in der Politik, in der wissenschaftlicher Konsens und Randmeinungen, die man dort zu jedem Thema findedt gleichberechtigt diskutiert wurden, wenn das zur politischen Agenda passte und die Randmeinungen am Ende meist gewannen. Das ist eben schade und nicht unbedingt hilfreich um einen demokratischen Diskurs zu führen.

Ein aktuelles Beispiel von Drosten (Kommentar zur Umsetzung effektiver Teststrategien in den Schulen): „[…] ich habe viel Arbeitszeit im letzten Winter in Beratungen von Ämtern, Politik, RKI und allen Mitspielern, Lehrer-verbänden usw. investiert. Und es war alles aus meiner Sicht, wenn es um dieses Modell geht, relativ wenig fruchtbar, weil das Modell einfach nicht angewendet worden ist.“ (https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript324.pdf). Ist das nicht irgendwie traurig, dass wir Menschen aus Steuergeldern dafür bezahlen Jahrzehnte Wissen zu bestimmten Themen aufzubauen und wir ihnen dann nicht zuhören, wenn sich diese Investition in so einer Krisensituation für uns auszahlt?

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Wenn hier über die Grenzen der Toleranz und über Polarisierungen und den Umgang mit den Wirrköpfen diskutiert wird, wenn hier versucht wird, seine Haltung, die man in der Mehrheit der Menschen zu finden meint, zu definieren, seinem Verhalten Maß und Mitte zu geben, so geht man eben davon aus, dass man sich mit seiner wissenschaftlichen und logischen Art der Meinungsbildung in der Mehrheit befindet. Das scheint mir auch für den deutschen Kulturraum zu gelten, nicht aber in der Kultur, in der ich lebe: Südbrasilien, Santa Catarina, dem Stammland der Bolsonaristen, in dem die Anhänger Bolsonaros für sich in Anspruch nehmen, 75% – 80% der Menschen hinter sich zu wissen. Da kehren sich also Polaritäten in ihrer Mehrheit um. Was in Deutschland Mehrheit ist, ist hier Minderheit. Das hat Folgen. Versuche ich, mit Fakten, Belegen, logischen Überlegungen und auf Grund meiner Werteskala, die durch den Humanismus geprägt sind, den Lügen, Falschmeldungen, ideologischen Verirrungen bis hin zu Verleumdungen der politischen Gegner und blankem Hass, so erhalten ich zumeist gar keine Reaktion. Meine Stellungnahme wird ignoriert, man geht über sie hinweg, tut so, als gäbe es sie gar nicht. „Der Alemão hat da ein Problem.“ Es ist wie gegen dicken Nebel boxen. Stattdessen werden über die sozialen Medien in dichtem Takt Behauptungen, Verleumdungen, Lügen weitergeleitet. Ich habe deswegen begonnen, diesen Behauptungen mit Faktenchecks zu begegnen, was eine langwierige und mühsame Arbeit ist. Einmal habe ich sogar eine zustimmende Reaktion auf meinen Faktencheck zu einer weitergeleiteten Falschmeldung erhalten. Gerade wollte ich mich freuen, da hat der Verfasser dieser ermutigenden Botschaft auch schon die nächste Lüge weitergeleitet und dann noch eine und noch eine. Ich schaffe es nicht, alle Lügen, die da in Sekundentakt eintreffen, zu entlarven. Und da die Lügen so dicht kommen, rückt mein Faktencheck schnell aus dem Sichtfeld und damit aus dem Sinn.

Wie also soll ich mich verhalten, wenn nicht ich die Mehrheit hinter mir weiß, sondern die Bolsonaristen die Mehrheit bilden? Wie kann ich damit umgehen, dass sich die Richtlinien der geltenden Politik nach Verschwörungserzählungen, Lügen und nach religiösen Hoffnungen (pfingstlerisch, evangelikal) richten? – Hoffen auf das Ende, das mir vermutlich Recht gibt? Dann aber ist es zu spät. Dann ist der Amazonas-Regenwald gekippt und das Pantanal ausgetrocknet, Brasiliens Mitte eine Wüste und die heutigen Profiteure im Ausland. Dann ist die Kultur der Eingeborenen zerstört, Hunger herrscht im Land und alle fragen sich allen Ernstes und ihrem Denken gemäß, wieso Gott das zulassen kann.

Ich möchte also im Zusammenhand mit dieser Diskussion um Diskussionskultur und Polarisierung zum Perspektivwechsel aufrufen, um Möglichkeiten zu finden, dieser erschreckenden Entwicklung entgegen zu treten. Allein ausgrenzende Polarisierung kann es nicht sein, weil ich dann Gefahr laufe, selbst ausgegrenzt zu werden und mit mir jegliche Vernunft. Freundlich überzeugend aufzutreten? Das wird ignoriert, grenzt aber letztlich aus, weil – auch das ist hier zu spüren – man mit solchen Minderheiten keinen Kontakt haben will. Welche Diskussionskultur ist also sachgerecht, wenn die Bolsonaristen in der Mehrheit sind?

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