Die Lage bei Aspekte

Hallo zusammen,

Gestern wurde bei Aspekte über die Frage diskutiert: „Wie pazifistisch wollen wir sein?“ Unsere beiden Lieblingshosts waren ebenfalls dabei – ihr findet sie ab Minute 8:49:

:link: ZDF - Aspekte

Dort sprachen sie darüber, wie sich ihre Einstellung zur Bundeswehr und zur Wehrpflicht in den letzten Jahren verändert hat und wie sie sich heute einbringen würden.

So ehrlich ihre Positionen auch waren, hinterließen sie bei mir dennoch ein gewisses Unbehagen. Philip erklärte, dass er heute mit ganz anderen Augen auf die Bundeswehr blickt:

Damals war das für mich ganz klar. Ich habe überhaupt keinen Sinn darin gesehen, was ich bei der Bundeswehr soll und auf jemanden schießen – warum? Heute sehe ich das völlig anders!

Kurz darauf fügte er jedoch hinzu, dass er nicht wisse, ob er den Mut hätte, sich heute zum Wehrdienst zu verpflichten, aber von der Ratio her sei alles klar.

Auch Ulf äußerte sich gewohnt präzise: Er sei sehr dankbar für jeden, der zur Bundeswehr gehe, und könne sich das grundsätzlich auch für sich selbst vorstellen. Allerdings schränkte er direkt ein, dass er dabei natürlich kein Kriegertyp sei, sondern als ITler tätig werden würde – vorausgesetzt, er wäre noch einmal 18 bis 20 Jahre alt und könnte in eine Cybereinheit [Anm von mir: fernab der Front] eintreten.

Diese Aussagen hinterlassen bei mir einen fahlen Beigeschmack von Gratismut. Bitte versteht mich nicht falsch – es geht nicht darum, die Hosts schlechtzureden. Dennoch erkenne ich hier ein Muster, das ich auch bei vielen Älteren beobachte: Sie fordern von jungen Menschen, sich für den Bund zu entscheiden, mit dem Argument, dass sie es ja ebenso tun würden, wären sie nur jünger. Und natürlich nur in Positionen, die ihrer Ausbildung angemessen sind, meist weit weg von dem Kampfgeschehen. Das ist aus meiner Sicht eine ungerechte Erwartungshaltung gegenüber der jungen Generation.

Wer solche Überlegungen anstellt, sollte bedenken: Der durchschnittliche 18- bis 20-Jährige ist in der Regel kein ausgebildeter IT-Experte. Meines Wissens trifft das auch auf Ulf nicht zu – was die Frage aufwirft, ob „ITler“ eine geschützte Berufsbezeichnung ist oder ob sich jeder so nennen darf, der mal eine App entwickelt hat (nicht böse gemeint, aber ich habe persönlich etwas mehr Demut gegenüber Menschen mit Berufsausbildung und professioneller Praxiserfahrung).

Ohne bereits vorhandene Fach- und Sachkenntnisse würde ein junger Wehrdienstleistender in der Cybereinheit auch nicht gebraucht werden, es sei denn, es gäbe eine langfristige Verpflichtung über den Wehrdienst hinaus. Das heißt, die große Mehrheit hätte gar nicht die Chance nach der Schule in der privilegierten Cybereinheit oder ähnlich anspruchsvollen Bereichen einzusteigen. Für mich wirkt es so als wird es letztlich an den jungen Menschen und solchen mit niedrigem Berufsstatus liegen sich an der Front beschießen zu lassen, während der Rest ihnen weit weg vom Balkon herab oder aus dem Lagezentrum im Bunker applaudiert.

Nehmt es bitte nicht als Fundamentalkritik. Ich schätze euch sehr. Aber die Wirkung des Interviews war für mich ehrlich gesagt verheerend.

Edit: Nur um es klar zu stellen: Mir ist bewusst, dass eure Position sich darauf begründet, dass eine starke Bundeswehr einen möglichen Krieg unwahrscheinlich macht. Ob dieser Ansatz tatsächlich zieht ist aber unsicher. Und so muss der Wehrdienstleistende das Risiko doch einpreisen.

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Das Interview habe ich nicht gesehen, aber die oben zitierten Ausschnitte auf Instagram.

Ich habe mir nicht so differenzierte Gedanken gemacht wie der Vorredner, aber ich musste über die vermutlich weltfremde Einstellung schmunzeln.

Wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, dann werden die guten Jobs auf Bürostühlen in beheizten Räumen sicher nicht an mittelalte Kriegsdienstverweigerer ohne Netzwerk gehen.

Ich denke für uns ist die beste Taktik etwas lernen, das kurz hinter der Front gebraucht wird. Instandhaltung, Drohen fliegen oder Sanitäter :man_shrugging:

Mein Plan für den Ernstfall ist: Familie in Sicherheit bringen und dann der polnischen Armee beitreten. Die sind wenigstens gut ausgerüstet :cry:

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Ich betrachte das Militärische immer noch mit Skepsis, das ist mir ungeheuer, schön wäre eine Welt ohne. Mir wäre es am liebsten, wenn man in Russland die Liebe zu irgendwelchen Blumen entwickelt, es müssen keine Nelken sein, aber Flower Power ist schon schön, auch in Russland…

Wie ich schon in einem anderen Thread sagte:
Das ideale Szenario, da sind wir uns alle einig, ist, dass alle Länder abrüsten und wir alle in Frieden leben. Aber Russland hat auf Kriegswirtschaft geschaltet und rüstet massiv auf. Wir haben nun die Möglichkeit, Gegenzuhalten, um Russland von einem Angriff auf EU-Gebiet abzuschrecken, oder unseren pazifistischen Grundsätzen treu zu bleiben und zu hoffen, dass Putin dann schon nicht angreifen wird.

Eine Situation, in der alle Länder komplett entwaffnet sind, ist ideal.
Eine Situation, in der alle Länder bis an die Zähne bewaffnet sind, ist zumindest stabil.
Eine Situation, in der ein Aggressor hochrüstet und seinen Nachbarn militärisch massiv überlegen ist, ist ein Rezept für eine Katastrophe.

Glaubt irgendjemand, Hitler hätte Polen nur angegriffen, weil er sich bedroht fühlte? Natürlich nicht. Ebenso wenig hat Putin die Ukraine angegriffen, weil er sich bedroht fühlte. Es sind Autokraten, die sehen, dass sie militärisch überlegen sind, und daraus Kapital schlagen wollen. Hitler wäre auch in Polen einmarschiert, wenn Polen gar keine Armee gehabt hätte, Putin wäre auch in die Ukraine einmarschiert, wenn die Ukraine völlig entwaffnet gewesen wäre. Dann wäre die Ukraine aber jetzt auch schon von der Karte getilgt.

Man muss einfach anerkennen, dass wir es wieder mit zwei autokratischen Reichen zu tun haben, die bereit sind, Kriege zu starten, um ihre Ziele zu erreichen. Trump schließt weiterhin keine militärische Gewalt aus, um sich Grönland zu schnappen, Putin verfolgt weiterhin das Ziel, die Grenzen von 1914 wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund muss man schon immenses Gottvertrauen haben, gegen eine Aufrüstung zu sein…

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Es gibt einen Unterschied zwischen 1939 und heute, Ukraine konnte sich wehren, wahrscheinlich nicht genug, es war jedoch keine zweite Tschechoslowakei, Russland hat schon jetzt einen hohen Blutzoll bezahlt, man sollte es nicht vernachlässigen, das hat eine Wirkung gehabt, wahrscheinlich eine Wirkung, die selbst Putin unterschätzt. Das ist alles wahrscheinlich weitaus unstabiler, als es den Anschein hat.
Und Trump richtet sich mit seiner Wirtschaftspolitik selbst, von Wachstum in die Rezession. . .

Naja, das kann man so sehen, das will ich gar nicht bestreiten. Aber dann sind wir in einer klassischen Risikoabwägung, bei der wir die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe bei Eintritt beachten müssen.

Also selbst wenn du sagst, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges wegen des hohen Blutzolls in der Ukraine niedrig wäre, sind wir uns glaube ich einig, dass die Schadenshöhe, wenn der Fall eintreten würde, kaum in Worte zu fassen ist, man könnte es fast apokalyptisch nennen.

Die Kosten für Aufrüstung für Aufrüstung und die potenziell damit verbundenen Risiken schätze ich dagegen eher gering ein - wenn das Geld für die Aufrüstung nicht, wie so oft, rein zu Lasten des sozialen Ausgleiches geht. Aber auch hier kann ich verstehen, wenn man das anders sieht.

Unter’m Strich bleibt es damit eine Abwägung, welche Risiken man für wie wahrscheinlich hält und welche Konsequenzen man wie schlimm einschätzt. Und ich sage hier ganz ehrlich: Der Worst Case ist für mich, dass Autokraten wie Putin oder Trump sich denken: „Europa ist wehrlos, wir können uns einfach ein Stück schnappen“. Hier ist Grönland tatsächlich noch gefährdeter als das Baltikum, denn das Baltikum würden wir ohne Zweifel versuchen, zu verteidigen, aber Grönland wäre einfach nicht zu verteidigen, sobald die USA auch nur ein kleines Truppenkontingent dort hin verlegen würden. Und ja, wir sind uns einig, dass das ein massiver geopolitischer Fehler der USA wäre, dass Trump sich damit „selbst richten“ würde, aber das hat Trump noch nie abgehalten…

Das Argument des hohen Blutzolles Russlands sehe ich z.B. bei weitem nicht so kritisch wie du. Einen Autokraten juckt es nicht, 250.000 Männer, davon viele Straftäter, und etliche Milliarden in einem Krieg zu verheizen - nicht, wenn er dafür massiv Territorium in der Ost-Ukraine und der Krim erobern kann. Putin geht es vor allem darum, sich ein Denkmal zu setzen - und die Veränderung auf der Landkarte wird in die Geschichtsbücher eingehen, den Kriegstoten werden ein paar Denkmäler gesetzt, um die nachfolgende Generation zu ermutigen, genau so „ehrenhaft für’s Vaterland zu kämpfen“ (oder anders gesagt: sinnlos für imperialistische Zwecke zu verrecken). Das war immer so, und auch wenn wir dachten, wir hätten das überwunden, es ist scheinbar immer noch so. Wirtschaftlich wird sich ein Territorialgewinn langfristig immer auszahlen, nahezu völlig egal, wie teuer er erkauft wurde. Daher gehe ich gerade nicht davon aus, dass der hohe Blutzoll dazu führt, dass Russland in den nächsten 20 Jahren weniger aggressiv sein wird. Und deswegen halte ich das Risiko für einen katastrophalen Angriff auf die EU für immens hoch, wenn Russland den Eindruck bekommt, dass es damit Erfolg haben könnte. Und deshalb bin ich dafür, Russland klar zu signalisieren, dass wir verteidigungsfähig und verteidigungsbereit sind, dass das, was Russland in der Ukraine zahlen musste, sind Peanuts sein werden im Vergleich zu dem, was droht, wenn Russland Europa angreift. Und genau deshalb bin ich auch für Offensivwaffen (vor allem Mittelstreckenraketen), weil wir Russland klar signalisieren müssen, dass im Falle eines Angriffs auf Europa der Krieg auch in Moskau zu spüren sein wird und nicht wie im Ukraine-Krieg nur das Land des Angegriffenen (und vielleicht die unmittelbare Grenzregion) verwüstet wird.

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Wenn Russland Europa angreifen sollte, wird es atomar vernichtet. Für Russland gibt es da nichts zu gewinnen.

Sie beißen sich seit drei Jahren erfolglos die Zähne an der Ukraine aus. So Blitzkriege wie im Zweiten Weltkrieg funktionieren heute nicht mehr. Der Angriff auf Kyjiw ist grandios gescheitert. Es gibt nicht erst seit 2022 einen massiven brain drain in Russland, gut ausgebildete Menschen haben in Scharen das Land verlassen. Nur mit Masse gewinnt man im 21. Jahrhundert keinen Krieg mehr. Russlands Wirtschaft exportiert hauptsächlich fossile Rohstoffe, die aber in ein paar Jahrzehnten niemand mehr braucht aufgrund der Erneuerbaren Energien.

Niemand geht davon aus, dass Russland direkt großflächig im Baltikum oder gar in Finnland einfällt.

Was aber durchaus realistisch ist, ist, dass Russland einen Vorstoß in der Suwalki-Lücke wagt. Oder generell „kleine grüne Männchen“ im Osten des Baltikums den Aufstand proben und von Russland unterstützt werden. Wenn die USA sich weiter aus Europa zurückziehen und Europa nicht aufrüstet könnte sich Russland durchaus ermutigt fühlen, das zu versuchen - denn Frankreich wird seine Atomwaffen wegen eines solch begrenzten Angriffs nicht einsetzen.

Und dann haben wir genau diese Situation, dass Europa plötzlich „aktiv“ das Gebiet zurückerobern müsste. Denn wenn Russland damit durchkäme, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis das Gleiche nochmal passiert.

Grundsätzlich könnte Russland auch einfach das Ziel verfolgen, die EU zu sprengen. Ein regional sehr begrenzter Angriff im Baltikum oder auf irgendeine kleine Insel Finnlands würde dazu führen, dass die betroffenen EU-Staaten die Beistandspflicht aktivieren würden. Was aber, wenn Ungarn sich z.B. völlig dagegen stellt, was aktuell sehr wahrscheinlich wäre?

Ich habe immer gesagt, dass meiner Einschätzung nach Russland niemals in der Lage sein wird, große territoriale Gewinne gegen Europa zu machen. Dein Verweis auf die Ukraine (man könnte auch noch weiter zurück auf die Tschtschenien-Kriege gehen) ist da durchaus korrekt. Also nein, ich fürchte nicht, dass „der Russe plötzlich vor Berlin steht“. Aber ich fürchte durchaus, dass Russland sich kleine Gebiete an der NATO-Ostflanke schnappen könnte, wenn wir nicht militärisch hinreichend abschreckend sind, um Putin und Co. klar zu machen, dass das völlig aussichtslos wäre.

Außerdem geht es mir auch darum, dass Europa in der Lage sein muss, die Ukraine zu schützen. Denn selbst wenn es jetzt einen sehr fragwürdigen Frieden geben würde, die latente Bedrohungslage eines weiteren russischen Vorstoßes würde stets verbleiben. Und Europa muss hier in einer Position sein, die Russen abzuschrecken. Aktuell scheint das nicht der Fall zu sein.