Die Kinder- und Jugendhilfe am Limit - Wann kann der Kinderschutz in Deutschland nicht mehr sichergestellt werden?

Hallo zusammen,

anbei ein Themenvorschlag. Es geht um die Überlastung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Das Thema wird in den (lokalen) Medien immer nur wieder punktuell benannt. Öffentliche Positionen von politischen Entscheidungsträgerinnen auf Landes- und Bundesebene sind mir nicht bekannt. Aktuell gibt es aber immer mehr Berichte von betroffenen Jugendämtern. Dies liegt meiner Einschätzung nach daran, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland eine vergleichsweise schwache Lobby haben, nur wenige Bürgerinnen mit dem Thema direkte Berührungspunkte haben und die Kommunen an einer Bearbeitung des Themas wenig interessiert sind, da es mit einer massiven Kostensteigerung verbunden wäre. Dennoch denke ich, dass das Thema eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat, da eine gute Kinder- und Jugendhilfe die Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen bessern kann und eben auch im Gesetz benannt ist, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Person hat (§ 1 SGB VIII).

Im Folgenden werde ich für das bessere Verständnis des Themas einmal kurz den Aufbau des Kinder- und Jugendhilfesystems skizzieren und anschließend mit Quellen die aktuelle Situation darstellen.

Der Allgemeine Soziale Dienst (kurz ASD) ist der Teil des Jugendamtes, welcher direkt mit den Familien zusammenarbeitet. Je nach Region wird der der ASD auch Bezirkssozialdienst, regionaler Sozialdienst o.ä. genannt. Dabei hat nicht jede Kommune ein eigenes Stadtjugendamt, sondern ist manchmal einem Kreisjugendamt zugeordnet. Im Kern sind die Aufgaben aber alle identisch. Der ASD ist der Teil des Jugendamtes, welcher in der Regel sehr nah an den Familien, Kindern und Jugendlichen arbeitet und sich mit den vielschichtigen Problemlagen der Familien beschäftigt. Die Tätigkeit wird in der Regel von Sozialarbeiter*innen ausgeführt. Die Aufgaben des ASD kann man im Groben in vier Bereichen darstellen:

  • Mitwirkung in Verfahren vor dem Vormundschafts- und Familiengericht nach § 50 SGB VIII
  • Erziehungsberatung, Trennungs- und Scheidungsberatung und Beratung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts
  • Das Installieren und Steuern von Hilfen zur Erziehung (§§27 SGB VIII ff.)
  • Überprüfen und Abwenden von Kindeswohlgefährdungen nach §8a SGB VIII

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In der Praxis sieht die Zusammenarbeit zwischen Sorgeberechtigten, Kindern und Jugendlichen so aus, dass sich diese im besten Fall mit einem Thema an den/die zuständige Sozialarbeiterin wenden. Dabei sind die Themen, mit denen die Mitarbeiterinnen der ASDs konfrontiert werden, sehr vielfältig. Von Schulabsentismus über Drogenkonsum des eigenen Kindes bis hin zu Gewalt zwischen Eltern, unterstützen die Fachkräfte die Kinder, Jugendlichen und Sorgeberechtigten. Aufgabe der Fachkraft ist es dann im Rahmen einer ersten Klärung zu schauen, welche Bedarfe es gibt. Beispielsweise kann dann ein Beratungskontext eingeleitet werden oder mit den Beteiligten gesprochen werden, ob eine Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII geeignet und notwendig ist. Wichtig für den Kontext ist, dass die Kosten für Hilfen zur Erziehung von den fallzuständigen Kommunen getragen werden. Beispielsweise kostet die Unterbringung eines jungen Menschen in einer Wohngruppe der Kommune circa 6000-7000€ im Monat.

Wenn in der Zusammenarbeit zwischen den Sorgeberechtigten und dem ASD ausgearbeitet wurde (oder im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens beschlossen), dass eine Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII geeignet und notwendig ist, kommen die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe ins Spiel. Die meisten Träger sind in den Dachverbänden der Caritas, der Diakonie und dem Paritätischen organisiert. Jedoch gibt es auch viele private Träger. Diese freien Träger bieten diese sogenannten Hilfen zur Erziehung an. Dabei gibt es verschiedenste Hilfeformen. Beispielsweise gibt es die sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII), welche das Familiensystem direkt im Alltag unterstützt, quasi eine ambulante Hilfe zur Erziehung. Ebenso gibt es auch Wohngruppen ( § 34 SGB VIII), in denen die jungen Menschen über Tag und Nacht von pädagogischen Fachkräften betreut werden, wenn eine Unterbringung in der Familie nicht mehr möglich ist. Dies ist die sogenannte stationäre Kinder- und Jugendhilfe. Neben den zwei beschriebenen Angeboten gibt es jedoch auch zahlreiche andere Angebote. Es würde jedoch den Rahmen sprengen, diese hier zu beschreiben.

Zusammenfassend lässt sich benennen, dass der ASD die erste Anlaufstelle ist, welcher Hilfebedarfe in Familiensystemen analysiert und passende Unterstützungsmöglichkeiten installiert und steuert, während die freien Träger der Jugendhilfe diese Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen und die jungen Menschen betreuen. Beide Teile des Kinder- und Jugendhilfesystems sind jedoch massiv überlastet, was im Folgenden anhand von Stellungnahmen und Positionspapieren der verschiedenen Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe dargestellt wird.

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Die Bundesarbeitsgemeinschaft ASD bilanzierte zum Jahresende, dass die ASDs teilweise Familien, Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen nicht mehr adäquat unterstützen können und fachliche Standards nicht mehr eingehalten werden können (1). Teilweise teilen die Kommunen dies öffentlich mit (2 ; 3 ; 4)

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Es mehren sich auch die anonymen Mitteilungen an die lokale Presse von Mitarbeitenden der ASDs und der stationären Kinder- und Jugendhilfe, welche benennen, dass eine massive Überlastung gegeben ist, welche dafür sorgt, dass die Rechte der Kinder- und Jugendlichen nicht mehr gewahrt werden können (6 ; 7). Auch in der Fachwelt wird benannt, dass die ASDs überlastet sind und ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden können (u.a. Beckmann/Ehlting/Klaes - Berufliche Realität im Jugendamt: der ASD in strukturellen Zwängen). Die Beiträge zeigen auf, dass die Überforderung des Systems aufgrund des Fachkräftemangels (und damit verbundene Stellenvakanzen), der hohen Mitarbeitendenfluktuation und den gestiegenen Fallzahlen gegeben ist. Spannend ist jedoch, dass der Deutsche Städtetag im November 2022 von einer „drohenden Überlastung“ der ASDs sprach, obwohl viele andere Akteure davon sprechen, dass die Überlastung schon lange gegeben ist (8).

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Die beschriebene Situation zeigt auf, dass das Hilfesystem aktuell oft nur noch greift, wenn „der Baum schon brennt“. Aus pädagogischer Sicht lässt sich benennen, dass, wenn Familien bei erzieherischen Herausforderungen nicht früh genug unterstützt werden, sich die Probleme so sehr verfestigen können, dass das Wohl des Kindes gefährdet ist und dann eine Unterbringung außerhalb des Familiensystems erfolgen muss. Dies ist nicht nur aus der Sicht des Kindes und der Eltern katastrophal, sondern auch aus finanzieller Sicht eine große Herausforderungen, wenn man davon ausgeht, dass eine Unterbringung in einer Regelwohngruppe circa 200 Euro am Tag kostet. Wenn nun aber viele ASDs nur noch in akuten Gefährdungslagen handeln können und Familien mit „kleinen Problemen“ keine Unterstützung erfahren, ist davon auszugehen, dass die akuten Gefährdungslagen weiter zunehmen werden, wenn Familien nicht im Vorfeld Unterstützung erfahren. Dies ist ein Teufelskreis, welches das schon jetzt überforderte System weiter belastet. Die Internationale Gesellschaft für Hilfen zur Erziehung prognostiziert sogar einen Kollaps des Inobhutnahmesystems der Jugendhilfe, der Teil der Kinder- und Jugendhilfe, welcher jungen Menschen in akuten Gefährdungslagen Schutz bieten soll (9).

Folglich lässt sich festhalten, dass der ASD, also der Teil der Kinder- und Jugendhilfe, welcher für die Steuerung und Gewährung von Hilfen zur Erziehung zuständig ist, seit mindestens 2015 so überlastet ist, dass die gesetzlichen Pflichtaufgaben nicht mehr allumfänglich erfüllt werden können. Ebenso ist auch die stationäre Kinder- und Jugendhilfe aufgrund diverser Faktoren (Fachkräftemangel, zu viele Anfragen) nicht mehr in der Lage, genug Angebote für junge Menschen zu bieten. In den o.g. Beiträgen wurde berichtet, dass Mitarbeitende der ASDs teilweise mit den jungen Menschen in Hotels schlafen müssen, da es nicht genug Angebote gibt. Auch ist bei einer weiteren Verschärfung der Situation davon auszugehen, dass es immer öfter zu akuten Kindeswohlgefährdungen kommt, wenn das Hilfesystem nicht mehr in der Lage ist Familien, Kinder und Jugendliche im Vorfeld zu unterstützen.

Zusammenfassend lässt sich benennen, dass das aktuelle Jugendhilfesystem in Deutschland den Bedürfnissen und Rechten der Kinder und Jugendlichen nicht ansatzweise gerecht wird. Kinder und Jugendliche, welche eh schon benachteiligt sind, werden Entwicklungspotentiale verwahrt. Aktuell kann nur noch jungen Menschen in Gefährdungssituationen geholfen werden. Präventive Maßnahmen können aufgrund der Überforderung des Kinder- und Jugendhilfesystems kaum noch angeboten werden. Die Fachkräfte arbeiten am Limit. Viele sind jedoch so überlastet, dass sie kündigen und dem Arbeitsbereich den Rücken kehren.

Ich hoffe, dass ich durch die Ausführung einen kurzen Einblick in ein sehr spannendes Thema geben könnte. Die Stückelung des Beitrages ist mit der Zeichen- und Linkbegrenzung pro Beitrag begründet. Ich hoffe, dass es dennoch übersichtlich ist)

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Anbei noch ein paar aktuelle und interessante Berichte zu dem Thema:

Probleme in Jugendhilfe: Zwischen Trauma und Selbstständigkeit | MDR.DE vom 05.02.2023

Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und katho beklagen Notstand vom 06.02.2023

Plätze werden doppelt belegt: Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst massiv überlastet - WELT vom 02.01.2023

Jugendhilfe: Wenn die Helfer aufgeben (nd-aktuell.de) vom 02.12.2022