Die Aushöhlung der Erforderlichkeitsprüfung durch das BVerfG? Ergänzende Gedanken

In der LdN269 regt sich Ulf darüber auf, dass die Prüfung der Erforderlichkeit von Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren im Beschluss „Bundesnotbremse I“ des BVerfG dogmatisch schlecht sei – und das zurecht. Mit diesem Beitrag möchte ich noch einige verfassungsrechtliche Aspekte ergänzen und aufzeigen, dass die Erforderlichkeitsprüfung im genannten Beschluss nur noch pro forma erfolgt.

Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist zu fragen, ob es mildere aber gleich effektivere Maßnahmen gibt als den in Frage stehenden Grundrechtseingriff, hier die Bundesnotbremse. Ulf schlägt als solche Maßnahme beispielsweise eine Home-Office-Pflicht vor.

Bei der Prüfung der Ausgangssperre hat das BVerfG bei der Erforderlichkeitsprüfung (Rn. 282 ff.) diese möglicherweise mildere Maßnahme gar nicht thematisiert. Als mildere Maßnahmen wird hier nur die effektivere Umsetzung der bestehenden Kontaktbeschränkungen (Rn. 284 f.) abgelehnt. Eine Home-Office-Pflicht oder andere Maßnahmen finden keine Erwähnung.

Immerhin bei der Prüfung der Kontaktbeschränkungen wird sie im Rahmen der Erforderlichkeit erwähnt (Rn. 212). Das BVerfG lehnt sie als milderes Mittel aber ab, weil dadurch die Belastung lediglich „auf Dritte verschoben“ würde.

„Entgegen der Einschätzung eines Teils der Beschwerdeführenden verlangte die Erforderlichkeit nicht, bestimmte Lebensbereiche, wie etwa die Arbeitswelt, stärker als

geschehen zu regulieren. Denn dadurch wären Belastungen auf Dritte verschoben

worden, so dass es sich nicht um ein milderes Mittel im verfassungsrechtlichen Sinne

handelte (vgl. BVerfGE 123, 186 <243>; 148, 40 <57 Rn. 47>).“

Das ist, wie Ulf richtig kritisiert, keine taugliche Einschränkung auf Erforderlichkeitsebene, da es selten mildere gleich effektivere Maßnahmen geben kann, die exakt die gleiche Adressatengruppe treffen. Aber darüber hinaus ist auch die Begründung des BVerfG nicht passend:

Das Gericht begründet das Verbot der Drittbelastung, wie ich diese Konstruktion nennen möchte, mit einer früheren Entscheidung (BVerfGE Band 123, 186, 243 ff.). Dort war der Fall folgender: Private Krankenkassen wendeten sich gegen eine Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG in Verbindung mit einem Kontrahierungszwang im Basistarif nach § 193 Abs. 5 VVG, der sie zwingen würde, Versicherungsverträge mit Personen zu schließen, die nicht gesetzlich versichert sind. Da darunter auch vorerkrankte und damit kostspielige, unlukrative Personen sind, sind die Versicherungsunternehmen durch den Kontrahierungszwang belastet. Diese Personen der gesetzlichen Krankenversicherung (als „Drittem“) zuzuweisen und damit die pKV zu entlasten, sieht das BVerfG aber nicht als milderes Mittel an:

„Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, sämtliche Personen, welche in der privaten Krankenversicherung keinen Versicherungsschutz finden oder ihn verloren haben, der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuweisen. Dies würde zu einer einseitigen Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Sie müsste dann alle Personen aufnehmen, die wegen ihrer schlechten Risiken von den privaten Krankenversicherungen bisher abgewiesen wurden.“ (BVerfGE 123, 186, 244)

Diese Entscheidung über die Erforderlichkeit ist richtig und verfassungsrechtlich geboten. Im Bundesnotbremse-I-Beschluss vergleicht das BVerfG also die Situation der durch das mildere Mittel mehrbelasteten gKV mit der Situation der Arbeitgeber, die durch eine Home-Office-Pflicht belastet werden. Jedoch unterscheidet sich die Entscheidung in einem wesentlichen Punkt von der Bundesnotbremse und ist darum nicht als Begründung verwertbar!

Bei der KV-Entscheidung gibt es eine feste Gesamtsumme von Belastungen, nämlich die Gesamtheit der durch die unlukrativen Personen in Deutschland verursachten Kosten. Wenn man nun diese überhaupt nicht in der pKV unterbringen würde, sondern ausschließlich auf die gKV abwälzt, würde sich dadurch die Belastung der gesetzlichen Krankenkassen erhöhen! Dass eine bloße Umverteilung der selben Last auf jemand anderes kein milderes Mittel sein kann, leuchtet natürlich ein.

Bei der Bundesnotbremse verhält es sich aber so: Entweder sind alle gleichmäßig belastet (Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen) oder nur einige (Arbeitgeber) sind belastet (Home-Office-Pflicht). Die Arbeitgeber tragen aber keine Sonderbelastung dadurch, dass andere keiner Ausgangssperre unterliegen, wie dies beim Versicherungsfall wäre. Vielmehr müsste man hier abwägen, was schwerer wiegt: eine Ausgangssperre für jeden in Deutschland oder eine Home-Office-Pflicht, die die Arbeitgeber eventuell zwingt, Abläufe im Betrieb zu ändern? Vermutlich wiegt die Beschränkung der persönlichen Freiheit aller Menschen in Deutschland schwerer. Diesem Vergleich entzieht sich das BVerfG jedoch komplett, indem es einen pauschalen Vergleich zu dem Versicherungsfall zieht, obwohl die Situation nicht vergleichbar ist.

In der weiteren Erforderlichkeitsprüfung hätte das BVerfG prüfen müssen, ob die Home-Office-Pflicht auch tatsächlich genauso effektiv wäre, die eine Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen. Hier hätte das Gericht die Erforderlichkeit wohl verneinen können, ohne so eine dogmatische Fehlkonstruktion anzuwenden.
Auch darüber hinaus finde ich bemerkenswert, wie groß der dem Gesetzgeber eingeräumte Spielraum ist - sachliche Prüfungen werden vom BVerfG kaum vorgenommen.

So wie die Entscheidung hier begründet wird, finde ich sie leider nicht komplett überzeugend, auch wenn sie in der Sache jedenfalls bezüglich der Kontaktbeschränkungen richtig ist.

Wenn Ihr meine Gedanken bestätigen, kritisieren oder widerlegen mögt, würde ich mich sehr freuen!

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