Deutschland steht gut da

Inzwischen habe ich immer mehr Probleme zu verstehen warum immer noch davon gesprochen wird, dass Deutschland gut dastünde. Die Datenlage spricht einfach klar dagegen.

Klar wir stecken so viel Geld in Gesundheitssysteme wie kaum ein anderes Land und können schlechte politische Entscheidungen etwas länger wegpuffern aber hätten wir zu Beginn der Pandemie diese Anzahl von Toten, die wir jetzt täglich haben in irgendeinem anderen Land gesehen, hätten wir entsetzt den Kopf über die katastrophalen dortigen Zustände geschüttelt und gerätselt was dort wohl politisch falsch gelaufen sein muss, um es so weit kommen zu lassen (Beispiele sind Italien, Spanien und die USA). Ich habe es gerade mal ganz grob überschlagen - auf die Bevölkerungsgröße normalisiert haben wir inzwischen ähnliche Sterbezahlen wie diese Länder zu ihren schlimmsten Zeiten.

Die Politik wurde über Monate von Wissenschaftlern gewarnt, dass wie im Winter solche Zustände haben werden und es war eine frustrierende Erfahrung, dass all diese Dinge als purer Idealismus abgetan wurden. Realpoltik funktioniere anders, was das für wirtschaftliche Schäden hevorrufen würde zwei Wochen einen harten Lockdown zu verhängen wäre unzumutbar etc. waren die Argumente. Das war so im Oktober und ist so auch noch heute.

Jetzt hat uns die Realität eingeholt. Menschen sterben in großer Zahl und wann immer ich mit Ärzt*innen und Pflegepersonal in der Klinik rede, die unserem Forschungsinstitut angeschlossen ist, ist die Stimmung recht eindeutig. Solch eine Situation ist niemandem langfristig zumutbar - weder in Kliniken noch im Rettungsdienst.

Und nicht nur das, wir haben auf dem Weg in eine schlechte Situation unfassbare finanzielle Mittel in unwirksame Maßnahmen gesteckt! Niemand kann mir erzählen, dass ein harter zweiwöchiger Lockdown im Oktober (inklusive des Arbeitslebens) der uns wahrscheinlich über große Teile des Winters gerettet und selbst das Weihnachtsgeschäft zugelassen hätte teurer gewesen wäre als die derzeitige Strategie. Die Situation im restlichen Europa spricht sehr klar gegen diese Argumente. Wir sind jetzt nicht mehr das Vorzeigeland, sondern das Problemkind Europas. Selbst Spanien und Italien haben die Situation inzwischen besser unter Kontrolle als Deutschland.

Ich möchte damit keine schlechte Stimmung verbreiten aber finde es in dieser Situation wichtig starken Druck auf die Teile der Politik auszuüben, die wirksame Maßnahmen noch immer verhindern, statt die Situation schön zu reden. Wenn ich Politiker*in wäre und einen derartigen Schaden verursacht hätte, wäre ich vielleicht auch nicht bereit zuzugeben, dass mein Kurs vollkommen unangemessen ist. Leider wird es mit jeder weiteren halbherzigen Entscheidung in Zukunft immer unwahrscheinlicher und schwieriger zuzugeben, dass etwas grundlegend schief gelaufen ist und wir unsere Strategie vollständig überdenken müssen.

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In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Ein zweiwöchiger „Shockdown“ mit einem zweiwöchigen „Lockdown“ davor, damit man sich auf den Shockdown vorbereiten kann im November (ich weiß nicht, wie Sie auf Oktober kommen, das hätte man schwer vermitteln können) wäre meiner Meinung nach der richtige Ansatz gewesen.

Mit Shockdown meine ich wirklich lückenlose Maßnahmen wie komplette Ausgangssperren (evtl. kleine Ausnahmen wie 1h am Tag gestaffelt nach Geburtsjahr oder so), komplettem Schließen aller wirtschaftlichen Tätigkeiten (bis auf „systemrelevante“ Berufe, um etwa Krankenhäuser und Apotheken offen zu halten, aber nicht Lebensmittel-Läden). 2 Wochen staatlich verordneter Zwangsurlaub mit vorigem Bunkern und schon hätte man die Zahlen quasi auf 0 gebracht.

Damit hätte man viel Zeit gewonnen und müsste danach sicher nichts mehr komplett schließen, die AHA+L+App Regeln hätten dann bis März gereicht, wo ja die Sonne wieder raus käme. Ich dachte, dass eine solche Strategie über den Sommer ausgearbeitet worden wäre, man wusste ja schon, dass es im Winter wieder schlimmer wird. Da bin ich echt nicht zufrieden.

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Vielen Dank für den Beitrag und deine Einschätzung zur Lage der Pandemiebekämpfung. Ich stimme zu, dass angesichts der aktuellen Lage die verhaltene Pandemiepolitik sowie auch die zumindest bis vor kurzem noch in weiten Teilen der deutschen Exekutive offenbar vorherrschende Skepsis und Zurückhaltung vor Einschnitten des öffentlichen Lebens und des Wirtschaftslebens schwierig erscheinen kann - der Podcast hat das ja häufig auch angesprochen. Sicherlich haben da Entscheidungsträger*innen die relativ erfolgreiche Bilanz der Pandemiebekämpfung im Frühjahr als Maßstab genommen und darauf gesetzt, es werde mit diesem „Maß der Mitte“, das insbesondere auch das Wirtschaftsleben berücksichtigt, auch dieses Mal wieder klappen. Nun weiß man: damit hat man wohl zumindest in gewisser Weise wichtige Wochen im Oktober und November verloren, und das wirkt sich ja nun offenbar in den hohen Zahlen aus. Aber behauptet denn aktuell wirklich noch ein großer Teil der Leute, die Corona als Krankheit ernst nehmen, Deutschland stehe in Bezug auf die aktuelle pandemische Entwicklung gut dar?

Ich lebe in Paris und kann insofern @Kenny zustimmen, dass ein früher, harter (wenn auch nicht präventiver) Lockdown im Herbst hier vor Ort vieles entschärft hat. In Frankreich wurde mit dem zweiten „confinement“ nach dem Frühjahr für zumindest vier Wochen wieder vieles heruntergefahren (wenn auch etwas weniger heftig als im März, April und Mai - Teile des Dienstleistungssektors, der aber auch viel im Homeoffice stattfand, Schulen und Kinderbetreuung und die Industrieproduktion liefen etwa weiter). Die Lage der Nation hatte über die Situation in Frankreich ja vor einiger Zeit auch schon mittels eines Interviews berichtet. Ein restriktiver Herbst hat hier das Weihnachtsgeschäft gerettet, hatte aber natürlich seine eigenen Nachteile.

Im deutsch-französischen Vergleich sind mir dabei zwei Aspekte besonders aufgefallen:

  1. Interessant finde ich, dass ich im Deutschen spontan gar keine richtige sprachliche Übersetzung für das finde, was im Französischen mit dem „confinement“ gemeint ist - ist doch das Wort des „Lockdowns“ in Deutschland recht früh und auch recht inflationär genutzt worden (Stichwort „Teillockdown“ oder „Lockdown light“ oder „partieller Lockdown“).
  2. Offenbar haben die Erfahrungen aus der ersten Coronawelle in den jeweiligen Ländern zumindest teilweise auch das Management im Herbst und Winter geprägt. Wie oben erwähnt ist man in Deutschland zu Beginn des Winters lange sehr zögerlich mit den Maßnahmen gewesen, eben weil man zuvor ja auch mit weniger Einschnitten gut gefahren war. Umgekehrt war in Frankreich die Option einer zweiten, drastischen Stilllegung des öffentlichen Lebens nie ausgeschlossen, da man es ja aus dem Frühjahr schon kannte und es als erwiesenermaßen epidemiologisch erfolgreiche Maßnahme bekannt war.
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Die Prügelei ums Klopapier hätte ich gerne gesehen, wenn jeder weiß, dass man die nächsten zwei Wochen weder welches kaufen noch von Bekannten besorgen kann. :smiley:

Hallo,

sehe ich genauso, die aktuelle Lage ist hier mMn. weltfremd mit „Deutschland steht gut da“.

  • Wir haben inzwischen mehr Tote an mehreren Tagen gehabt, als Italien je hatte.
  • In der aktuellen Sterblichkeitrate liegen wir inzwischen vor den USA!!!
    https://twitter.com/OlafGersemann/status/1348273027616804866
  • Impfungen laufen nur schleppend und 16 mal anders an
  • Wir haben trotz teilweise 1200 Toten eine Diskussion ob Schulen geöffnet werden sollen, statt sofort einen vollen Lockdown mit kompletter Ausgangssperre (was Italien und Spanien bei solchen Zahlen schon längst hatten).
  • Unsere Schulen sind immer noch digitalisiert für einen Lockdown
  • Die Meldedaten des RKIs sind zur heftigsten Phase der Pandemie für über 2 Wochen laut dem RKI selber nicht wirklich verwendbar wegen „Feiertagen“, die komplett vorhersehbar waren.
  • Wir haben immer noch Wochenendeffekte in den Coronadaten, nach 10 Monaten Pandemie.
  • Testkapazitäten und Nutzung war über die Feiertage halbiert, statt verdoppelt, was eigentlich nötig gewesen wäre.
  • Wir sind bei einer Positivrate vom Mittwoch von 16% bei den Tests angekommen, laut WHO ist ab 5% die Lage ausser Kontrolle.
  • Wir haben immernoch keine gesetzten Werte ab wann welche Maßnahmen greift (25 Büros dicht, 50 Schulen, 100 Ausgangssperre etc.) sondern jede Woche wieder würfeln unsere 17 Exekutiven diese neu aus, mit fast keinem Fokus auf Wissenschaft.
  • Statt einem 4-6 Wochen harten Lockdown im Oktober/November (der garantiert die Zahlen senkt) haben wir Schweizerkäse Lockdown für wahrscheinlich ein halbes Jahr (Oktober - März) in dem alles was nicht Arbeit ist, verboten ist.

Könnte hier noch ewig weiteraufzählen, aber bei Ulfs Kommentar in der LDN 223 „Deutschland steht gut da“ ist mir echt kurz die Spucke weggeblieben.

Man braucht ja nicht immer Panik machen, aber bei 1000+ Toten sollte man dann vielleicht doch mal auch in der Lage in den Modus umschalten.

PS: Ansonsten war die Coronaberichterstattung meist ja gut, aber den Volllockdown als definitive Lösung hätte ich mir auch schon vor Monaten als Thema gewünscht, statt jede Woche wieder die absurden Würfelregeln der Regierung durchzukauen.

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Ich kann gar nicht oft genug auf Like drücken.

Wir haben in Deutschland vollkommen die Kontrolle verloren, das steht glaube ich außer Frage.
Maßnahmen die keine sind, Kultusminister die sämtliche Wissenschaft ignorieren oder sogar zurückweisen und als falsch darstellen, Ministerpräsidenten die glauben Wahlkampf mit dem Thema machen zu können und am Ende noch haufenweise Knalldackel in Politik und Gesellschaft, die sich allen Ernstes hinstellen und fordern den Lockdown sofort zu beenden.

Ich denke in der Politik versucht man sich jetzt noch mit den Ausreden „Wir impfen ja schon viele!“ (was irgendwie überhaupt nicht gut startet) und „Bald wird es ja auch wieder Warm!“ durch die nächsten 4 Monate zu schleppen, nur um sein Gesicht zu wahren und nicht zugeben zu müssen, dass man Fehler gemacht hat.

Der Vertrauensverlust in die Politik wird in den nächsten Wochen und Monaten des herumplenkelns massiv sein.
Ich glaube mittlerweile sogar, dass man im Februar wieder viel öffnen wird obwohl die Zahlen es keinesfalls zulassen, einfach nur weil man Angst hat „die Akzeptanz zu verlieren“, die aber schon heute komplett vernichtet ist und Tag für Tag weiter zerbröselt.

P.S. @ugbgjh: Ich glaube da fehlt ein „nicht“ beim Punkt der digitalisieren Schulen :slight_smile:

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@Lukas Da hast du Recht, aber ich kann anscheinend den Kommentar nicht bearbeiten, weil zu neu?

Und zum aktuellen Stand und „wir stehen gut da“, Stand RKI Bericht vom 12.1.2021: Von 834 abgeschlossenen Behandlungen auf Intensivstationen sind 35% gestorben, 289 Personen.

Wenn 1/3 der Patienten wegsterben (normal ist 2-10%, je nach Land und KH) ist die Kontrolle schon längst verloren.

Gestern (vermutlich fehlende Daten) war es noch schlimmer, 11.1.2021, von 235 gemeldeten abgeschlossenen Behandlungen sind 80% !!! gestorben, das ist dann keine Intensivstation sondern eher eine Pallativstation.

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