Deutsche Erinnungskultur: Völkermord an den Slawen

Ich betrachte den Völkermord an 20 Millionen Slawen als das schwerste Verbrechen in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Ich warte noch auf den Tag, an dem die Deutsche Regierung offiziell den Völkermord an den Slawen eingesteht. Die einseitig ausgelegte WW2-Erinnerungskultur mit (nur) dem Holocaust als Hauptverbrechen hatte daher für mich immer die Frage aufgeworfen, wie ernst das offizielle Deutschland es eigentlich mit seiner Geschichtsaufarbeitung meint.

Ich habe diese Woche mit Erstaunen festgestellt, dass hochrangige deutsche Politiker (z.B. die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident) den Mord an den Slawen öffentlich verurteilen. In meinem noch relativ jungen Leben haben ich eine solche Bestimmtheit aus dieser Richtung noch nie wahrnehmen dürfen. Und aufgrund der aktuellen Spannungen zwischen der NATO und Russland auch gerade dieses Jahr nicht erwartet.

Ich wundere mich daher über diese Kehrtwende der deutschen Erinnerungskultur und versuche die politischen Motive dahinter nachzuvollziehen.

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Erinnerungskultur ist (zumindest in demokratischen Gesellschaften) ja niemals monolithisch und von daher war auch hier eher über die letzten Jahre ein gradueller Wandel beobachtbar als eine plötzliche „Kehrtwende“. Nicht nur Wissenschaftler:innen fordern ja bereits seit Längerem eine stärkere Anerkennung osteuroäischer Opfer der NS-Vernichtungspolitik. (siehe u. a. https://www.gedenkort-lebensraumpolitik.de/).
In Gedenkveranstaltungen, Reden etc. ist hier seit 2009 eine deutliche Bewegung erkennbar, aber eben graduell. Und im Oktober 2020 hat der Bundestag schließlich die Errichtung einer „Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft“ beschlossen: Deutscher Bundestag - Bundestag stärkt Ge­den­ken an die Opfer des deut­schen Ver­nich­tungs­kriegs.
Blinde Flecken gibt es in der bundesdeutschen Erinnerungskultur dennoch mehr als genug. Die Frage wie „ernst“ diese gemeint ist, wird halt immer sehr unterschiedlich beantwortet werden müssen, je nachdem ob man wohlfeile Sonntagsreden zum Maßstab macht oder Entschädigungszahlungen für Opfer bzw. deren Nachkommen.
Was ich allerdings für komplett sinnlos halte ist ein Wettbewerb der Superlative (Stichwort „schwerstes Verbrechen der Menschheitsgeschichte“). Es gibt nach wie vor sinnvolle Gründe, den Holocaust als beispiellos oder singulär zu bezeichnen (ich will jetzt hier nicht in die Tiefe gehen), aber dabei geht es nicht alleine um Opferzahlen (body count) und das schließt auch überhaupt nicht auf, andere Opfer der NS-Vernichtungspolitik ebenso in den Blick zu nehmen. Opferkonkurrenz ist (nicht nur) hier fehl am Platze.

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Genau diese Mischung aus Bodycount und Superlativen „größte Genozid der Geschichte“ meinte ich :frowning:

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Ich habe großes Verständnis dafür, InDubioProReo, wenn Du den Völkermord an den Slawen als nicht ausreichend dargestellt siehst. Ich gebe zu, ich weiß von den Kriegsverbrechen des „Ostfeldzugs“ und kenne den Begriff der Untermenschen für die „Völker“ im Osten und somit den rassistischen Gedanken dahinter. Ich habe das nie als rassistisch begründeten Mord verstanden, sondern als Kriegsverbrechen im „Feindesland“. Ich weiß leider auch zu wenig, zum Beispiel, inwieweit die Ursache des Völkermordes im politischen Verständnis von den Untermenschen begründet liegt, oder die Mär von den „Untermenschen“ den Feldzug zur Eroberung von „Lebensraum im Osten“, Vernichtung des „Bolschewismus“, und Kontrolle der Rohstoffvorkommen nur legitimieren sollte.
Ich möchte aber vor einem Vergleich der größten Verbrechen warnen, weil damit die anderen Verbrechen automatisch relativiert werden. Wenn der Völkermord an den Slawen unter dem Begriff der Kriegsverbrechen nicht als Völkermord genannt wird, soll das angeprangert werden, aber ist der systematische Mord an den europäischen Juden weniger schlimm, nur weil es weniger waren - einfach weil es weniger gab? Oder war die politisch in Kauf genommene Hungerkatastrophe in China im Zuge des „Großen Sprungs“ oder die Kulturrevolution weniger schlimm, weil keine „Völker“, sondern einfach massenhaft „Menschen“ ermordet oder verhungern lassen wurden?
Nein die Verbrechen der Nazis dürfen nicht und werden nicht (nur9 auf den Holocaust reduziert, auch nicht in der Erinnerungskultur. Mörderische Verbrechen gegen politische Gegner, kranke Menschen, Homosexuelle, verschiedene Glaubensgruppen, Sinti und Roma, andere nomadisch lebende Gruppen, Slawen, und und und sind bekannt und werden lebendig gehalten. Dafür darf und soll man auch kämpfen, ohne deshalb die anderen Verbrechen zu relativieren.

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100% d’accord mit Deiner Kernaussage, dass die Erinnerung an ein Verbrechen die Erinnerung an ein anderes nicht relativieren sollte. Das ist aber auch gar nicht notwendig - denn Erinnerung ist kein Nullsummenspiel. Den Impuls von @InDubioProReo kann ich aber auch gut verstehen, denn viele Deutsche denken immer noch, es war halt ein „normaler“ Krieg, in dem die Wehrmacht salopp gesagt etwas über duie Strenge geschlagen hat. Der Begriff „Kriegsverbrechen“ impliziert ja zumindest, dass es einen gewöhnlichen Krieg gibt, in dem dann vereinzelt Verbrechen begangen wurden. Ganz anders das Wort „Vernichtungskrieg“ - für das das Hamburger Institut für Sozialforschung bei der sogenannten Wehrmachtsausstellung vor über 20 Jahren noch richtig auf den Deckel gekriegt hat. Damals war es für viele in Deutschland noch unerträglich, die Tatsache anzuerkennen, dass der Krieg an sich verbrecherisch war - und zwar schon von seiner Planung her, aber auch von der Brutalität seiner Durchführung her - und dass daran Millionen Deutsche aktiv beteiligt waren, egal ob Nazis oder nicht. Das sagt sich heute - knapp eine Generation später - zwar etwas leichter, aber im Bewusstsein der Deutschen angekommen ist es meiner Meinung nach noch nicht so recht.
Einer Studie von 2018 zufolge waren 69% der befragten Deutschen der Meinung, dass keiner ihrer Vorfahren unter den Tätern des Zweiten Weltkriegs war. Dagegen meiten 18% der Befragten 2018, dass unter ihren Vorfahren welche waren, die während des Zweiten Weltkriegs potentiellen Opfern geholfen haben - was eine mindestens 100-fache Übertreibung sein dürfte.
Diese Zahlen zeigen, dass es zwar einfach ist, die historischen Fakten abstrakt anzuerkennen, aber dass es immer noch den Wunsch gibt, zu sagen: Meine Familie hatte damit nichts zu tun. Selbst wenn man die knapp 25% der Bevölkerung abzieht, die mindestens einen nicht-deutschen Elternteil haben, sind das immer noch krasse Zahlen. Sie versinnbildlichen den Titel eines Buches, das schon 2002 feststellte: „Opa war kein Nazi“.
Die Studie gibt es hier: https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Stiftung/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_1_2018_dt.pdf (S. 11)

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Was muss eigentlich noch geschehen, damit endlich ein Verständnis dafür aufkommt, dass die Sowjetunion mehr als „Russland“ war? Dass die Mehrheit der 14 bis 16 Millionen ermordeten Zivilisten aus der Ukraine und Belarus stammte? Dass der Krieg auch deshalb auf diese beiden damaligen Sowjetrepubliken fokussierte, weil genau hier Hitlers „Lebensraum im Osten“ liegen sollte?

Natürlich hat auch Russland immense Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen gehabt. Aber die Konsequenz aus der Entmenschlichung der Osteuropäerinnen und Osteuropäer durch die NS-Rassenideologie muss doch sein, dass wir jedes einzelne Land, das aus der Sowjetunion entstanden ist, als existent, frei und selbstständig handelnd anerkennen. Schaffen wir das nicht, schreiben wir die kolonialistischen Ideen von damals fort.

Guter Artikel zum Thema:

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Zur Erinnerungskultur: Dieser Thread wollte die Ereignisse 2021 ansprechen, d.h. die „Kehrwende“ der hohen deutschen Amtsträger. Mir ist bewusst, dass Historiker und geschichtlich Interessierte schon lange – bisher vergeblich – auf diesen blinden Felck hinweisen.

Zur Opferkonkurrenz: Ich stimme zu, dass Opferkonkurrenz nicht zielführend ist. Das ist ja auch gerade meine Kritik: für glaubhafte Reue genügt es eben gerade nicht, nur selektiv einzelne Opfergruppen der Naziverbrechen zu betrauern – insbesonder nicht, wenn über die Hälfte der Opfer ignoriert wird.

Zum „schwersten“ Verbrechen: Der Generalplan Ost sah vor mithilfe des Unternehmen Barbarossa einen halben Kontinent zu entvölkern. Diese Größenordnung des Größenwahns und Vernichtungswillens ist in meinen Augen einzigartig in der bisherigen Geschichte. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen andere Verbrechen als weniger relevant für die Erinnerungskultur ansehe.

So als Ergänzung gerade im Bezug auf Osteuropa muss man wohl an ganzes Stück weiter zurück gehen. Stichwort Ober Ost bzw. gilt hier wohl der Frage der Kontinuität deutscher Siedlungen im Osten, welche noch weiter zurück reichen.

Die Anerkennung der Verbrechen der Nationalsozialisten in der Ukraine ist wichtig nur ist der Text so überhaupt nicht dazu geeignet. Das Ziel des Textes ist es über die Geschichte zu begründen warum Deutschland aktiver in der Ukraine eingreifen sollte. Die deutsche Geschichte instrumentell zu nutzen, um eine stärkere Rolle Deutschlands in internationalen Konflikten zu legitimieren ist das Gegenteil des Lernens aus deutscher Geschichte… Zu mal der Text in bester Hufeisen-Manier Hitler und Stalin gleichsetzt bzw. sich sogar viel stärker auf die Verbrechen der Sovietunion konzentriert als auf jene der Nazis. Hinzu kommt, dass die Forderung die deutsch-ukrainische Beziehung sollte mehr der deutsch-israelischen gleichen eine besondere Frechheit ist, wenn man keine Kritik an den teils faschistischen Milizen auf ukrainischer Seite übt… Man kann die unkritische Beziehung Deutschlands zu Russland auch kritisieren ohne gleich seltsame Gleichsetzungen zu benutzen. Selbiges gilt für die Frage der Verbrechen der Sovietunion. Hier wird von Ambiguität gesprochen und doch Relativierung betrieben.

Trotz einiger Kontinuität würde ich schon unterscheiden zwischen dem was man gemeinhin als Kolonialismus begreift und der Ideologie der Nationalsozialisten. Hinzu kommt, dass ich deine Affirmation der Nationalstaaten doch etwas seltsam finde. Gerade bei einem ethnisch recht heterogenen Staat wie der Ukraine, sollte man entsprechend differenzieren.

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Ein Problem deiner Studie dürfte aber auch das Verdrängen der Ereignisse sein.

Von meinen Großeltern weiß ich von meinem Großvater väterlicherseits nur, dass er zu den Vetriebenen aus Sudeten gehört, ob er im Krieg war weiß ich gar nicht.
Von meinem Großvater mütterlicherseits weiß ich nur, dass er gezogen wurde, in Kriegsgefangenschaft in Russland war und seine Familie danach mit ihm gebrochen hat, weil er überlebte, im Gegensatz zu seinen Brüdern die freiwillig in den Krieg gezogen sind.

Von den Kriegserlebnissen selber weiß ich gar nichts und auch meine Eltern (1. Nachkriegsgeneration) wissen nicht wirklich etwas, da die Erlebnisse im Krieg in ihrem jeweiligen zu Hause verschwiegen wurden um zu vergessen.

Solches dürfte bei vielen Studienteilnehmern zur Verzerrung der Wahrnehmung geführt haben, denn niemand wird gerne und offen über seine Gräueltaten berichtet haben, so er denn überlebt hat.