Der Mythos Leistungsgesellschaft

Meine Theorie ist, dass Menschen in sozialen Berufen weniger zur Konfrontation neigen und es daher wenig Kultur zum Arbeitskampf gibt.

In wieder anderen Bereichen gibt es wenig Kultur, passende Preise aufzurufen: ich habe den Eindruck, dass sowohl die Auftragsbücher fast aller Handwerker bis übernächstes Jahr voll sind, als auch, dass fast niemand die Preise angemessen erhöht, bis Auftragslage und Leistungsfähigkeit zusammenpassen. Was ja mittelfristig auch im Kundeninteresse ist, in der Hoffnung, dass es bei hohen Stundenlöhnen irgendwann mehr Handwerker gibt.

Hier wird die Ungleichheit der Einkommensverhältnisse diskutiert – sei sie nun im Allgemeinen gerechtfertigt oder nicht. Das deutlich größere Problem stellt aber doch die Ungleichheit der Vermögens- (und damit Macht-)verhältnisse dar. (So sehr ergebnisoffene Diskussionen über die Ungleichheit der Einkommenverhältnisse ja sinnvoll sind, sie wirken auf mich immer auch wie Strohmänner um von der Ungleichheit der Vermögensverhältnisse abzulenken.)

Rechtfertigt sich der Mythos der Leistungsgesellschaft nicht insbesondere damit, dass dadurch die fähigsten Leistungsträger auch die meiste Gestaltungsmacht bekommen, da diese bewiesen haben, dass sie mit Macht am besten umgehen können? In vermutlich allen neoliberal geprägten Ländern ist die Gestaltungsmacht aber in den Händen von expliziten Nicht-Leistungsträgern, die ein wortwörtlich unverdientes Einkommen beziehen (in Form von Milliarden-Erbschaften und den daraus erwachsenden Kapitaleinkünften).

Im Archetyp einer Leistungsgesellschaft würde es eine 100-prozentige Erbschaftssteuer geben. Davon sind wir in Deutschland aber maximal weit entfernt.

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Und wir besteuern Arbeit höher als fast jedes andere Land… Stimmt…

Auch ein Problem. Trotz kostenlosem Bildungssystem haben Kinder aus Nichtakademikerfamilien schlechtere Chancen das Studium zu beenden als jene aus Akademikerfamilien und das ist extremer als in anderen eupäischen Ländern, in denen das Studium zum Teil massiv kostet… Und das obwohl so ein kostenloses Bildungssyste nicht billig ist… Irgendwie machen wir da was falsch…

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Die Menschen mit kleineren Einkommen haben einfach weniger ‚Spielgeld‘. Beispiel: Pisst du mich hier an - ich hab die Kohle mit dem Anwalt zu klären (Beratungsgespräch) ob es Sinn macht (Kosten > Selbstbeteiligung in der Rechtsschutzversicherung) mit dir zu streiten. Die alleinstehende Krankenschwester hat was besseres mit den Hundert euro vor. Und so. zieht sich das durch alle Lebensbereiche - Teilhabe bezieht sich auch auf Gerechtigkeit.

@ffiene Danke für die Erinnerung wieso ich keine Beratung mehr mache.

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Das stimmt sicher auch. Aber es gibt andere Berufsgruppen, in denen z. b. mehr Leute in ner Gewerkschaft sind und auch Gutverdiener, die sich im Job übel behandeln lassen, Krabkenhausärzte etwa (auch wenn es dem Pflegepersonal noch schlechter geht).

Zwei Gedanken zur bisherigen Diskussion:

  1. das Problem ist, dass wir Menschen über Anreize funktionieren und „mehr zu haben als andere“ ein starker Anreiz ist und immer schon war. Wahrscheinlich muss sich ein System, das Mehrwert für viele generieren möchte, dieses Anreizes bedienen, in gewissem Umfang, damit viele Menschen ihr Potential ausschöpfen. Auch wenn nie das ganze „Mehr“ auf eigenem Verdienst beruht (oft vielleicht noch nicht einmal der Großteil davon).

  2. meines Erachtens ist das größte Problem die Vermögensungleichheit und innerhalb dessen diejenige, die durch Erbschaft entsteht. Nicht umsonst haben viele liberale Denker des 19. Jahrhunderts eine hohe Erbschaftsbesteuerung gefordert… aber viele robuste Umfragen zeigen, dass eine breite Mehrheit die Besteuerung von Erbschaften als ungerecht empfindet. Das habe ich noch nie verstanden, ist aber so. Was also tun? Aufklären über die Ursachen von Ungleichheit?

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ich bin mir nicht so sicher ob das die Wissenschaft so konsequent auch bestätigt. Kann es nicht sein, dass wir soziale Wesen sind die Empathie haben und uns um unseren Nächsten sorgen?

Die Frage ist halt in was für einem System wir leben, welche Möglichkeiten es gibt und welche Grundlagen wir annehmen.

Ich glaube es ist wichtiger in welchem sozialen Umfeld man aufwächst und was man schon als Kind gelehrt bekommt. Nach meiner Beobachtungen kopieren Kinder erst mal ihr Umfeld, um dann selbst Erfahrungen damit zu machen. In dieser Bubble bekommen sie dann für ihr Tun positives oder negatives Feedback was sie in ihrem Tun bestärkt.

Also werden emphatische Eltern höchstwahrscheinlich auch emphatische Kinder hervorbringen.

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Das Kriterium Leistung ist von vorne herein schlecht geeignet, um gerechte Entlohnung zu gewährleisten (was auch immer das ist). Lohnen soll sie sich jedenfalls, die Leistung. Mit diesem identischen Argument fordert der Gewerkschafter höhere Löhne, und der Unternehmerverband warnt vor Erhöhung der Spitzensteuersätze. Der Begriff ist sehr offen, und in meinen Augen in dieser Form eher unbrauchbar.

Es stimmt mich aber verhalten optimistisch, dass hier die richtigen Fragen gestellt werden.
Warum ist es so, dass die gefühlt wichtigsten Aufgaben sich für die Arbeiter so gar nicht lohnen?
Arbeiten die Supermarktkassierer wirklich X mal weniger/schlampiger/ineffizienter/etc. als die Unternehmensberater?
Nein, sie arbeiten ganz einfach anders. Ihre Arbeitsplätze werden vom Unternehmer ganz nach seinen Gewinnerwartungen eingerichtet, oder auch nicht. Auf diesen Arbeitsplatz schauen die beiden Seiten mit denkbar gegensätzlichsten Interessen: Der Arbeitnehmer will mit seiner Beschäftigung einen Lebensunterhalt verdienen. Davon, und vom Grad seines Verschleißes durch den Arbeitgeber ist maßgeblich seine Lebensqualität bestimmt. Die Arbeitgeberseite hingegen will einen möglichst intensiven Einsatz der Arbeitskraft zwecks hoher Produktivität, und natürlich bei geringstmöglichem Lohn.
Der Profit, für den sie Arbeitsplätze überhaupt nur schaffen, steigt gerade mit der Billigkeit und Ergiebigkeit der Arbeit.
Welches dieser gegensätzlichen Interessen sich in der Regel besser durchsetzen kann ist kein Geheimnis. Lohn ist das Resultat eines sehr ungleichen Kräftemessens. Für die spezialisierte Führungskraft mit jahrelang aufgebautem Nischen-Wissen kann dieses Ringen auch durchaus attraktiv ausfallen. Aber wie ergeht es in diesem Szenario wohl jenen, deren Arbeit schneller erlernbar ist, und die entsprechend leicht ersetzbar sind? Wie geht es denen, die unter dem Druck ganzer Heerscharen von Arbeitern aus aller Welt um diese Position konkurrieren müssen? Das Ergebnis kann man an Paketboten, Spargelstechern, Fernfahrern ablesen.
Und verbessern wird sich daran von selbst absolut gar nichts. Bessere Beschäftigungsbedingungen müssen vom Staat erzwungen oder durch Arbeitskampf erstritten werden.

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Diese Grafik habe ich schon oft gesehen, aber ich mag sie überhaupt nicht. Insbesondere nicht im Kontext der Leistungsgesellschaft.

Sie suggeriert hier nämlich, dass ein Studium der erstrebenswerteste Bildungsweg ist. Das ist auch im Wikipedia-Artikel zur Meriokratie den @Kenny schon mal gepostet hat beschrieben: „[…] führt in vielen Ländern zur Überbewertung formal-schulischer und universitärer Bildung und zur Abwertung der beruflichen Bildung […]“.

Ich denke, dass die meisten nicht die oberen 1% im Sinne haben, wenn sie an hohe Besteuerung von Erbschaften denken (z.B. Klatten und Konsorten), sondern an sich selbst. Da schwingt in meinen Augen die Angst vor hoher Besteuerung von z.B. dem vererbten Eigenheim eine große Rolle.

Was man in meinen Augen ändern sollte, wäre insbesondere die Freibeträge bei Schenkungen senken. Dadurch kann man richtig Steuern sparen, in dem man (anstatt zu vererben) seinen Kindern hohe Geldbeträge schenkt (alle 10 Jahre 400.000€ !)

Fairer Punkt. Sie schien mir deshalb zu passen, weil das oft genannte Argument sei man müsse ja nur studieren um in XY hochbezahlten Beruf zu kommen. Aber von deinem Blickwinkel aus ist die Grafik natürlich inadequat.

Das glaube ich überhaupt nicht und denke das gehört auch zum Mythos. Wenn das so wäre, gäbe es weder Ehrenamt noch soziale Berufe oder akademische Forschung. Ich glaube, dieser Anreiz wird nur gebraucht wenn sich die Arbeit an sich nicht lohnenswert erscheint (und das sind leider viele inclusive der meisten Bürojobs).

Vielleicht ist das auch genau das die Falle in vielen der schlecht bezahlten aber systemrelevanten Berufen: Vielleicht ist das Gefühl gebraucht zu sein und etwas sinnvolles zu tun so stark, dass das die mangelnden finanziellen Anreize überdeckt denn der „Markt“ zahlt natürlich das minimum für das Menschen noch bereit sind zu arbeiten.

Es geht vollkommen gegen unsere Lebensphilosophie aber es gibt aber inzwischen einiges an Forschung zu dem Thema und es zeigt sich immer wieder: Finanziell abgesicherte und ungestresste Menschen werden produktiver und kreativer. Das ist die Idee hinter einem bedingungslosen Grundeinkommen. Und die Pilotversuche bestätigen das tatsächlich ebenfalls, auch in Deutschland.

Genauso macht es auch am Meisten Sinn, armen Menschen Geld direkt zu geben. Das wird selten gemacht weil man Angst hat vor Korruption und schlechten Entscheidungen dieser Menschen hat aber auch dazu gibt es inzwischen Forschung die immer wieder zeigt, dass es ein sehr effektiver Weg ist jemandem zu helfen, während in den meisten Hilfsorganisation das meiste Geld für die gigantische Logistik eines solchen Verwins benötigt wird.

Und es scheitert immer wieder an der „Leistungsgesellschaft“… :wink:

Kommt darauf an ob es ein Verkäufermarkt oder Käufermarkt ist. Das wahnsinnige in unserer Gesellschaft ist ja, dass den qualifizierten Arbeitnehmern noch vorgegaukelt wird es sei ein Käufermarkt, d.h. für jede Krankenschwester die aus dem Beruf scheidet, findet sich immer wieder eine neue. Das ist oft so, aber eigentlich könnte man das drehen. Dazu müsste man aber die Gehälter erhöhen. Das ist imho der Grund wieso da so gemauert wird, auch mit Hilfe des ach so hoch gelobten Karl Lauterbach: Den Menschen soll weiter vorgegaukelt werden der markt für qualifizierte, aber niedrig bezahlte Arbeit sei ein Käufermarkt und die Arbeitgeber würden die Bedingungen setzen.

Dies entspricht dem BSP. Der Messgröße für Wohlstand - der einzigen für Wohlstand und Wachstum. Würde man weitere Faktoren einbeziehen, könnte solch unentgeltlich Leistung in unseren „Fortschritt“ integriert werden.

Das stimmt so nicht - der Markt regelt es richtig. Derjenige bekommt mehr Geld, dem der Markt es zahlt. Das ist Markt. Eine Einschränkung durch den Staat wäre ein Eingriff in den Markt, hin zu einem gesellschaftlich evtl. gewünschtem Ergebnis.

Da widerspreche ich gerne. Wenn in einem sozialen Beruf jemand streikt (z.B. Altenpflege), dann steht da kein Band still, sondern es liegt ein Mensch eingesch… in seinem Bett.
Wer kann da mit gutem Gewissen streiken - dem Band ist es wurscht ob es läuft oder nicht. In der einen Berufsgruppe stehen Sachwerte im Fokus des Streiks (Produktionsmittel), in der anderen Berufsgruppe Menschen.

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Wenn man möglichst viele Optionen und die höchste Chance auf eine höhere Bezahlung haben will ist dies auch der Fall. Ausnahmen bestätigen hier die Regel. Ganz krass zieht das übrigens der Staat durch. Um hier in den gehobenen Dienst mit entsprechenden Vergütungen zu kommen muss man ein abgeschlossenes Studium haben. Ein Mensch, der dort schon 20 Jahre arbeitet, kommt niemals in diese Positionen, für ihn ist gehaltstechnisch da meist schon Ende. Und das obwohl er/sie besser für den Job geeignet wäre.

Hallo Leo,

Also zunächst möchte ich auch nicht jedes Projekt und jeden Exzess rechtfertigen, über das ich nichts sagen kann bzw. die es sicher auch gab. Ich habe auch schon große Beratungen mit sehr hohen Tagessätzen erlebt, die dem Kunden ein bisschen als Selbstbedienungsladen behandelt haben und wo dieser unerwartet hohe Rechnung bekommen hat, ohne, dass der Kunde einen entsprechenden Mehrwert erlebt hat, u.a.m.

Zunächst möchte ich aber mal klarstellen, dass Personalabbau wirklich nur eines von sehr vielen Beratungsthemen ist. Ich habe kein einziges solches Projekt gemacht.

Projekte reichen von Strategie, Wachstum und Innovation über Marketing, Organisation, Personal bis hin zu Controlling und von Konzepten bis hin zur Umsetzung inkl. IT.

Beratungen gibt es auch entsprechend verschiedene, die top-management-Beratungen, die Beratungen der großen Wirtschaftsprüfer, IT-Beratungen und unzählige Boutiquen und Spezialisten. Diese haben durchaus unterschiedliche Preise und Geschäftsmodelle, auch also bei weitem nicht alle so teuer.

Grundsätzlich ist es aber so, dass Beratungen klassischerweise wie eine Pyramide aufgebaut sind und die jungen Leute nicht für ihr eigenes Know How bezahlt werden, sondern der Partner oder Manager dafür bezahlt wird, dass er diese mitarbeiter:innen - ggf. auch sehr kurzfristig und in großer Zahl - bereitstellen kann und durch sie sein Know How in einem großen Projekt umsetzen kann.

Und warum brauchen Unternehmen überhaupt Berater? Viele Gründe: fehlendes Know How zu einem Thema, ein neutraler Blick ist gefragt, Moderation und Coaching; zu wenig Personal, um neben dem Tagesgeschäft noch ein Projekt zu stemmen, etc.

Man muss sehen, dass Projekte - und insbesondere große Transformationsprojekte sehr riskant sind. Für einen Vorstand wäre es geradezu fahrlässig, so etwas ohne jede Unterstützung anzugehen.

Und damit sind wir bei einem anderen Faktor, der den Preis treibt: der Nutzen für den Kunden. Viele Projekte sind nicht deshalb so teuer, weil die Lebenszeit der Berater so teuer ist, sondern schlicht, weil der Nutzen für den Kunden so hoch ist und es keine Alternative gibt. Das lassen die Berater sich natürlich bezahlen…

Dank an @Kenny für den anspruchsvollen Thread, den ich wegen seines Umfangs jetzt archivieren möchte. Es gibt mehrere Themenstränge, die hier angesprochen und naturgemäß nicht erschöpfend diskutiert werden konnten, Sie sind in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen von Politik, Ökonomie u.Gesellschaft angesiedelt - viel Stoff also für weitere Diskussionen, die sich aus diesem Thread ergeben.