Das "Los" statt die "Wahl"?

Klasse, dass ihr das Thema „Bürgerräte“ angesprochen habt.

Fun Fact: in der attischen Demokratie (der Wiege unsere heutigen Demokratie) wurden die meisten Ämter auch über das Losverfahren an die Bürger verteilt. z.B. Rat der 500, Volksgerichte

Es ist schon spannend wie sehr unser heutiger Demokratiebegriff mit der Methode der „Wahl“ und nicht mit der Methode des „Loses“ verknüpft ist.

Spannender Buchtipp: GEGEN WAHLEN! David Van Reybrouck
(Kleiner Hinweis: Nicht offensichtlich im Zug lesen, weil der Titel doch etwas subversiv wirkt)

Was haltet ihr von dem Vorschlag, die Hälfte des Bundestages nicht durch das Wahlverfahren sondern durch das Losverfahren zu besetzen?

3 „Gefällt mir“

Ich halte das für keine sinnvolle Idee.
Für mich ist es gut möglich parlamentarische Entscheidungen zu akzeptieren, in dem Wissen dass die entsprechenden Mehrheitsverhältnisse durch die Wahl einer Bevölkerungsmehrheit legitimiert sind.

Entscheidungen die von einem gelosten Gremium getroffen werden würde ich (wenn ich sie für schlecht hielte) nicht (schlechter) akzeptieren, weil für mich das Los/dem Zufall keine Legitimität verleiht

Ich würde den Vorschlag unterstützen. Allerdings könnte ich mir auch „Policy Juries“ ganz gut vorstellen.
Bei diesem Format würden ausgeloste Bürger:innen über ein Gesetz beraten und dann darüber abstimmen und nicht die Parlamentarier selbst.

PS: Das Buch „Gegen Wahlen“ ist wirklich ein guter Buchtipp :wink:

Die sog. Attische Demokratie bestand auch nur aus paar Männern die genug Ressourcen hatten, um sich mit Politik zubefassen. Die civitas (Bürgerschaft) war ein bruchteil der Bevölkerung. Nach Standards einer modernen Demokratie sind selbst die heutigen defekten Demokratien eher Demokratien als die attische, welche doch wesentlich näher an den mittelalterlichen Republiken liegt.

Ferner ist aber die Perspektive auf Politik sehr seltsam. Hier wird Politik im Sinne der Ausübung der Volkssouveränität nur anhand der Dezession (Entscheidung) nicht anhand deliberativen Prozessen fest gemacht. Hinzu kommt dass die gelöste Körperschaft ihre Legitimation nur durch eine statistische Repräsentation bekommt, ein Punkt der witzigerweise bei der Diskussion um Quoten in der Politik meist wehement abgelehnt wird. Auch hier eine moderne Vorstellung von Repräsentation ist wesentlich ausdifferenzierter. Diese Gleichsestung von Repräsentation und der Individuuen als Teil der civitas hat mit einer Gemeinwohlorientierung nichts zu tun.

Auch ist die Politik wie jeder andere Bereich der Gesellschaft zu einem komplexen ausdifferenzierten System geworden und entsprechend professionalisiert sind die Akteure in der Politik. Zu glauben man könnte diesen Beruf einfach auslagern auf die Bevölkerung führt nur dazu dass die professionalisierten Teile der politischen Institutionen (Verwaltung, ministerien, lobbygruppen etc.) noch mehr Macht bekommen als dies ohne hin schon der Fall ist. Gerade im Bereich der Exekutiven sind diese Leute ja nicht mal gewählt. Das hat nichts mit dem Argument angeblich dummer Menschen zu tun sondern damit dass das polit. System seine eigenen Machtstrukturen ausgebildet hat, welche eben nicht nur an die formalen Prozesse polit. Willenbildung gebunden sind.

4 „Gefällt mir“

Mit dieser Logik müssten dann bei 30% Nichtwählern auch 30% der Sitze nicht besetzt werden, oder?

2 „Gefällt mir“

Lieber Hufschmied (und alle anderen Antwortenden), herzlichen Dank für das Feedback!

Ich höre bislang 4 Argumente gegen den Vorschlag eines halb gewählten, halb gelosten Bundestages:

  • Die Attische Demokratie darf nicht Vorbild sein, denn das Wort „Demokratie“, in unserem modernen Sinne, ist hier völlig fehlangebracht.
  • Bei dem Vorschlag geht es nur um die politische Entscheidung (Dezession) und nicht um politische Deliberation.
  • Woher gewinnt das „Los“ seine Legitimation? Statistische Repräsentation hat nichts mit Legitimation zu tun.
  • Der Politikbetrieb ist spezialisiert und die Akteure sind „Politikexperten“. Eine Auslagerung an „Laien“ ist gefährlich, weil andere Spieler (Lobby, Verwaltung) noch mehr Macht erhalten.

Ich werde nicht auf jedes einzelne Argument eingehen, sondern nur auf das, welches aus meiner Perspektive das Losverfahren an seinem Fundament angreift – die Infragestellung der Legitimation.

Wieso legitimiert das Los die ausgewählte Person? Das Losverfahren ist eine Methode um eine Auswahl „unter Gleichen“ zu treffen. Der Zufall berücksichtigt keine Fähigkeiten, Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung. Gegenüber den konkreten Eigenschaften einer Person ist der Zufall blind. Gerade die „Blindheit“ führt dazu, dass sich plötzlich Personen im politischen Betrieb wiederfinden, die über den „klassischen“ Wahlprozess niemals diese Position erreicht hätten.

Ich vermute, dass die klassische Politikerkarriere wie ein großer Filter wirkt, der bestimmte Individuen mit bestimmen Fähigkeiten und Persönlichkeitsstukturen präferiert. Als Politiker sollte man ein Mindestmaß an Eloquenz aufweisen, selbstbewusstes Auftreten, strategisches Gespür, eine gewisse Resilienz sind nicht verkehrt. Im gefilterten Ergebnis haben wir eine vergleichsweise homogene Menschenmenge vor uns – relativ zum Rest der Gesellschaft.

Das Los umgeht diesen Filter komplett. Ich vermute das legitimative Element ist die „Blindheit“ des Zufalls. Das einzelne Ergebnis einer konkreten Auslosung bildet mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die exakten statistischen Verhältnisse einer Gesellschaft ab. Es könnte zum Beispiel passieren, dass nur Frauen ausgelost werden (unwahrscheinlich aber möglich.) Die Legitimation liegt weniger in der statistischen Repräsentation, die vielleicht erst nach vielen Jahrzehnten sichtbar wir, als vielmehr in der Blindheit des Prozesses.

Aber ich sehe auch die Vorteile der Wahl, weswegen ich für eine Ergänzung des bestehenden Systems argumentiere, also einem „Nebeneinander“ beider Methoden „Los“ und „Wahl“. Nicht „entweder oder“ sondern „sowohl als auch“.

Nope.

Ich wünsche mir auch funktionierende politische Prozesse, d.h Möglichkeiten der Entscheidungsfindung für unsere Gesellschaft via die parlamentarische Demokratie.

dein Vorschlag würde zu einer Lähmung fuehren.
Na klar, mehr Wahlbeteiligung wäre besser und noch höhere Legitimität, aber auch die Legitimität eines von 70% gewählten Parlaments (wenn die Regel wer wahlberechtigt ist halbwegs ok sind) empfinde ich als deutlich höher als die einer zufallswahl.

Hufschmieds letzten Punkt halte ich für megarelevant:

Man sieht das in der Kommunalpolitik ja schon sehr stark, dass es einen riesigen Unterschied gibt zwischen
“Der Stadtrat beschließt X” und “die Verwaltung setzt X tatsächlich um”. In dieser Auseinandersetzung glaube ich auch das die parteipolitischen Strukturen den Politiker:innen der Stadträte helfen und es sonst noch schlimmer wäre

Vielleicht interessant dazu:

Ich kann das Buch „Gegen Wahlen“ auch nur empfehlen. Übrigens wurde in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens inzwischen ein Bürgerrat eingesetzt, der das gewählte Parlament bei ausgewählten Themen berät.

In Deutschland fände ich es sinnvoller, wenn statt der Hälfte des Bundestages die zweite Kammer (also aktuell der Bundesrat) durch eine Bürgerversammlung ersetzt würde. Denn nach meinem Eindruck sitzen in Bundesrat und Bundestag momentan sehr ähnliche Profile, da könnte eine geloste Bürgerversammlung tatsächlich eine größere Repräsentation bringen.

2 „Gefällt mir“

Ich finde das einen sehr spannenden Punkt. Legitimität entsteht auf Dauer (meiner Meinung nach) durch

  1. Die Wirksamkeit der Entscheidungen
  2. Die Berücksichtigung aller Interessengruppen bei Entscheidungen
  3. Die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen

Ich kann eine Entscheidung (gegen meine Meinung) eher akzeptieren, wenn sie nachvollziehbar ist und wenn mein Standpunkt Teil der Diskussion war.
Die spannende Frage ist daher, welches Verfahren auf Dauer hierbei besser funktioniert.

Sie haben natürlich recht, aber ich möchte zu bedenken geben, dass auch das Wahlrecht zuerst nicht allen zur Verfügung stand und erst nach und nach allen Bevölkerungsgruppen zugesprochen wurde.

Die wichtigste Qualifikation eines Parlamentariers ist seine Loyalität gegenüber seiner Partei, den seine Wiederwahl hängt mehr von ihr ab, also vom Wähler.

Das heißt, dass ein Abgeordneter einer Regierungspartei in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Ministerien steht und im Zweifelsfall Gesetze, die ein Ministerium wünscht, einfach abnickt.

Geloste Abgeordnete haben diesen Makel nicht und können (wie es im Grundgesetz steht) ihrem Gewissen folgen. Allerdings ist es hier entscheidend, welche Informationen den Abgeordneten für ihre Entscheidungen zur Verfügung stehen. Hier ist durchaus viel Transparenz notwendig, um eine einseitige Machtkonzentration zu verhindern.

2 „Gefällt mir“

Vielleicht interessiert es in diesem Kontext:

Wie eine Lotterie für mehr und bessere Beteiligung sorgen kann…