Ich finde die Idee gut, diese Diskussion aus der größeren Debatte um „den gesellschaftlichen Diskurs“ auszuklammern! Allerdings finde ich die Überschrift etwas missverständlich. Meiner Meinung nach geht es eher darum, wie die Gesellschaft (allen voran Politik und Medien) mit Kontroversen innerhalb der Wissenschaft umgehen. Das lässt sich anhand des Themas Schulschließungen wegen Corona m. E. gut diskutieren. Hierzu möchte ich gerne die bisherigen Beiträge in diesem neuen Thread in einen Kontext stellen - sorry wenn das etwas länger wird.
Im März 2020 gab es in vielen Ländern mehr oder weniger überhastete Lockdowns und auch Schulschließungen. Danach begann in einigen Ländern eine Evaluation dieser Maßnahmen und u. a. die skandinavischen Länder entschieden sich relativ schnell dazu, Schulen (zumindest für die unteren Klassen) wieder zu öffnen. Das geschah auf der Grundlage damals schon vorliegender Studien und einer Abwägung mit den erwartbaren negativen Folgen von Schulschließungen.
In Deutschland waren sich die Bundesländer durchaus uneins. Genau zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte Drosten die erste Version seines bekannten „Viruslastpapiers“, in dem er behauptete, dass a) Kinder eine ähnlich hohe Viruslast haben wie Erwachsene und b) die Viruslast ein aussagekräftiges Indiz für die Bestimmung von Infektionswegen ist (wer steckt wen an). Nur wenige Tage nach Erscheinen der Studie entschied die Kultusministerkonferenz bundesweit eine Fortsetzung der Schulschließungen. Gleichzeitig gab es vergleichsweise harte fachliche Kritik an Drostens Thesen, u. a. von namhaften Statistikern, aber auch von Alexander Kekule. Auf diese Kritik bezog sich die Bild-Schlagzeile, die @MarkusS zitiert hat. Ich würde sagen: Typischer Bild-Kampagnenjournalismus (den ich generell ablehne), aber in der Sache durchaus diskussionswürdig. Drosten setzte sich in der Folge allerdings nicht mit der fachlichen Kritik auseinander. Vielmehr griff er Kekule für dessen fachliche Kritik persönlich an. In einer zweiten Version des Papers fehlte These a) auf einmal. Bei These b) blieb Drosten noch sehr lange, auch bei seiner Stellungnahme für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über Schulschließungen. Dabei - so wiederum die Kritik aus Fachkreisen - ignorierte er systematisch wissenschaftliche Positionen, die seiner These widersprachen.
Im gesellschaftlichen Diskurs war das Ergebnis eine enorme Polarisierung. Die These, dass Kinder (und damit Schulen) einen entscheidenen Anteil am Infektionsgeschehen haben (also Drostens Position), galt als Position „der Wissenschaft“. Gegenlautende Positionen wurden als unwissenschaftlich, populistisch oder „verharmlosend“ abgetan. Auch eine ernsthafte Abwägung mit den damals schon absehbaren und zum Teil schon beobachtbaren negativen Folgen von Schulschließungen fand kaum statt. Das setzte sich auch im Herbst 2020 fort, so dass klar war, dass im Winter wieder Schulschließungen drohen würden - und zwar nicht, weil das Infektionsgeschehen diese unausweichlich machte (wie @Ansgard in seinem Post suggeriert) sondern weil aufgrund eben jenes gesellschaftlichen Diskurses. In diesem Kontext veröffentlichte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zusammen mit Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen zielgerichtetere Coronamaßnahmen forderten (was auch hieß: bitte keine Schulschließungen mehr). Und genau in diesen Kontext passt das Interview des Spiegel mit Drosten, das @pitus erwähnte. Darin heißt es:
Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck. […] Wann platzt Ihnen der Kragen?
Wissenschaftsredakteur:innen(!) eines der wichtigsten Medien in Deutschland sprechen renommierten Forschern ihre Wissenschaftlichkeit ab und unterstellen, sie richteten allein aufgrund ihrer Forderung nach einer anderen politischen Strategie einen „größeren Schaden“ [für die Gesellschaft] an, als Leute, die gerne mal im Verbund mit Neonazis Verschwörungsphantasien verbreiten und die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung offen & direkt attackieren. Die „Frage“ an Drosten ist dann sinngemäß auch nur noch, ob er seine Fachkollegen eigentlich noch zu ertragen bereit ist. Ganz ehrlich: Wenn mich jemand so etwas über meien Fachkollegen fragen würde, würde ich sagen „Wer solche „Fragen“ stellt, betreibt keinen seriösen Journalismus - das Interview ist hiermit beendet.“
TL/DR: Der Diskurs um Schulschließungen zeigt m. E. exemplarisch, dass es eben nicht um eine Auseindersetzung um das „bessere Argument“ ging, sondern dass bestimmte wissenschaftliche und poltische Positionen als „die Wissenschaft“ dargestellt wurden und abweichende Positionen von Leitmedien delegitimiert wurden.