Covid19-Strategie und die Rolle der Wissenschaft. Gibt es einen Corona-Revisionismus in Medien, Politik und Gesellschaft?

Schwer zu ertragen… Gerade im Herbst/frühen Winter hat sich die Politik viel zu lange von Streeck und ähnlichen, lauten (aber tatsächlich vergleichsweise wenigen, und wissenschaftlich nicht selten etwas isolierten) Meinungsmachern verunsichern und treiben lassen, so dass wertvolle Zeit für Prävention und mildere Maßnahmen verloren ging. Die lange Schulschließung ab Dez. 2020 war dann die Reaktion auf eine bereis völlig aus dem Ruder gelaufene Situation (es gab ja noch keine Geimpften): völlig überlastete Intensivstationen über Weihnachten bis in Januar/Februar hinein, Absage aller elektiven Eingriffe fast bundesweit, verschobene Krebsbehandlungen, völlig ausgebranntes Krankenhauspersonal und nicht zuletzt zehntausende Toten, die man hätte verhindern können. Aber das ist eine andere Diskussion.

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@Ansgard, mit deinem Post bestätigst du exakt dieses schädliche Verhalten, wegen dessen ich es unverantwortlich halte, wissenschaftlichen Diskurs in der Öffentlichkeit zu führen. Wie oben beschrieben ist nicht entscheidend wer isoliert ist und wer nicht, sondern wer die besseren Argumente hat.

Im Fall Streeck wurde ein sehr hart geführter Diskurs öffentlich ausgetragen und von Medienschaffenden in seiner Bedeutung überzeichnet, was in journalistischen Glanzleistungen gipfelte, wie die Behauptungen Streeck u. a. seien schädlicher als Coronaleugner (Christian Drosten zu Corona: »Wir müssen durchhalten – und vor allem: auf die Bremse treten« - DER SPIEGEL) und falschen False-Balance Behauptungen.

Dieses falsche Bild hat sich in den Köpfen der Öffentlichkeit eingebrannt. Tatsächlich, in der Fachcommunity hat man sich dagegen sicher schon lange die Hand gegeben und honoriert, wo der jeweils andere richtig lag und diskutiert darüber, wie man es in Zukunft besser macht. So kann man auch die Wortmeldungen von Lauterbach und Drosten verstehen, die in der Rückschau doch einige Fehleinschätzungen zugunsten der vormals kritisierten Wissenschaftler einräumten.

Das ist völlig normal, kommt aber anscheinend nicht gut an. Wenn du magst können wir das gern per PN weiterführen. Ich denke hier würde das den Thread aber zu sehr verwässern.

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Seinen Höhepunkt hat diese Form des Journalismus in einem Artikel der Bild-Zeitung namens " Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch" gefunden, der mich wirklich daran hat zweifeln lassen, wie es um das öffentliche Verständnis darüber steht, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert.

Das stimmt auch der Bild-Artikel war völlig daneben. Ich nehme die Bild aber ehrlich gesagt ohnehin nicht ernst. Daher war das vermutlich bei mir nicht so auf dem Schirm.

Ich finde die Idee gut, diese Diskussion aus der größeren Debatte um „den gesellschaftlichen Diskurs“ auszuklammern! Allerdings finde ich die Überschrift etwas missverständlich. Meiner Meinung nach geht es eher darum, wie die Gesellschaft (allen voran Politik und Medien) mit Kontroversen innerhalb der Wissenschaft umgehen. Das lässt sich anhand des Themas Schulschließungen wegen Corona m. E. gut diskutieren. Hierzu möchte ich gerne die bisherigen Beiträge in diesem neuen Thread in einen Kontext stellen - sorry wenn das etwas länger wird.

Im März 2020 gab es in vielen Ländern mehr oder weniger überhastete Lockdowns und auch Schulschließungen. Danach begann in einigen Ländern eine Evaluation dieser Maßnahmen und u. a. die skandinavischen Länder entschieden sich relativ schnell dazu, Schulen (zumindest für die unteren Klassen) wieder zu öffnen. Das geschah auf der Grundlage damals schon vorliegender Studien und einer Abwägung mit den erwartbaren negativen Folgen von Schulschließungen.

In Deutschland waren sich die Bundesländer durchaus uneins. Genau zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte Drosten die erste Version seines bekannten „Viruslastpapiers“, in dem er behauptete, dass a) Kinder eine ähnlich hohe Viruslast haben wie Erwachsene und b) die Viruslast ein aussagekräftiges Indiz für die Bestimmung von Infektionswegen ist (wer steckt wen an). Nur wenige Tage nach Erscheinen der Studie entschied die Kultusministerkonferenz bundesweit eine Fortsetzung der Schulschließungen. Gleichzeitig gab es vergleichsweise harte fachliche Kritik an Drostens Thesen, u. a. von namhaften Statistikern, aber auch von Alexander Kekule. Auf diese Kritik bezog sich die Bild-Schlagzeile, die @MarkusS zitiert hat. Ich würde sagen: Typischer Bild-Kampagnenjournalismus (den ich generell ablehne), aber in der Sache durchaus diskussionswürdig. Drosten setzte sich in der Folge allerdings nicht mit der fachlichen Kritik auseinander. Vielmehr griff er Kekule für dessen fachliche Kritik persönlich an. In einer zweiten Version des Papers fehlte These a) auf einmal. Bei These b) blieb Drosten noch sehr lange, auch bei seiner Stellungnahme für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über Schulschließungen. Dabei - so wiederum die Kritik aus Fachkreisen - ignorierte er systematisch wissenschaftliche Positionen, die seiner These widersprachen.

Im gesellschaftlichen Diskurs war das Ergebnis eine enorme Polarisierung. Die These, dass Kinder (und damit Schulen) einen entscheidenen Anteil am Infektionsgeschehen haben (also Drostens Position), galt als Position „der Wissenschaft“. Gegenlautende Positionen wurden als unwissenschaftlich, populistisch oder „verharmlosend“ abgetan. Auch eine ernsthafte Abwägung mit den damals schon absehbaren und zum Teil schon beobachtbaren negativen Folgen von Schulschließungen fand kaum statt. Das setzte sich auch im Herbst 2020 fort, so dass klar war, dass im Winter wieder Schulschließungen drohen würden - und zwar nicht, weil das Infektionsgeschehen diese unausweichlich machte (wie @Ansgard in seinem Post suggeriert) sondern weil aufgrund eben jenes gesellschaftlichen Diskurses. In diesem Kontext veröffentlichte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zusammen mit Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen zielgerichtetere Coronamaßnahmen forderten (was auch hieß: bitte keine Schulschließungen mehr). Und genau in diesen Kontext passt das Interview des Spiegel mit Drosten, das @pitus erwähnte. Darin heißt es:

Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck. […] Wann platzt Ihnen der Kragen?

Wissenschaftsredakteur:innen(!) eines der wichtigsten Medien in Deutschland sprechen renommierten Forschern ihre Wissenschaftlichkeit ab und unterstellen, sie richteten allein aufgrund ihrer Forderung nach einer anderen politischen Strategie einen „größeren Schaden“ [für die Gesellschaft] an, als Leute, die gerne mal im Verbund mit Neonazis Verschwörungsphantasien verbreiten und die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung offen & direkt attackieren. Die „Frage“ an Drosten ist dann sinngemäß auch nur noch, ob er seine Fachkollegen eigentlich noch zu ertragen bereit ist. Ganz ehrlich: Wenn mich jemand so etwas über meien Fachkollegen fragen würde, würde ich sagen „Wer solche „Fragen“ stellt, betreibt keinen seriösen Journalismus - das Interview ist hiermit beendet.“

TL/DR: Der Diskurs um Schulschließungen zeigt m. E. exemplarisch, dass es eben nicht um eine Auseindersetzung um das „bessere Argument“ ging, sondern dass bestimmte wissenschaftliche und poltische Positionen als „die Wissenschaft“ dargestellt wurden und abweichende Positionen von Leitmedien delegitimiert wurden.

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Die Politik in der Corona-Pandemie war immer ein „Fahren auf Sicht“, das war auch immer klar. Und natürlich waren nicht alle Maßnahmen zu 100 % optimal.

Mich beschleicht ja eher das Gefühl, dass einige Leute, die schon immer gegen die Corona-Maßnahmen waren, jetzt gerne hören wollen, dass sie ja schon immer Recht hatten und vielleicht auch, dass der Staat ihnen nie hätte irgendwelche Vorschriften machen dürfen.

Denn ansonsten ist das Thema Bildung in Deutschland leider eher ein Randthema und wird sehr stiefmütterlich behandelt.

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Ich gehe hier vollkommen mit. Daher finde ich den aktuellen Titel auch ziemlich unglücklich, denn um Revisionismus geht es hier nicht.

Es geht viel mehr um den gesellschaftlichen Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren typischer Unsicherheit.

@ExMod Wäre der Titel
(Un-)Verantwortlicher Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in den Medien
besser?

Als Untertitel bietet sich an:
Wie Clickbaiting im (Wissenschafts-)Journalismus dem gesellschaftlichen Diskurs schadet

Dieses Gefühl habe ich auch, und es ist einer Aufarbeitung natürlich enorm hinderlich.

Das Problem ist halt auch, dass es im Grunde zwei Phasen der Pandemie gab, in der teilweise Aussagen in einer Phase korrekt, in der nächsten aber falsch waren, und andersherum. In fast allen Diskussionen jetzt, in denen über die Sinnhaftigkeit verschiedenster Maßnahmen resümiert wird, werden diese beiden Phasen in einen Topf geworfen und einmal kräftig durchgerührt. Und jeder kann sich dann „im Recht“ sehen, indem er sich einfach das Zeitfenster rauspickt, in dem seine Sichtweise rückblickend eher zutreffend war.

Ich sehe eine relativ klare Trennlinie zwischen der Phase mit der Urvariante und später mit der Delta-Variante, und dann der Phase als Omikron übernommen hat. Viele Leitsätze, die in ersterer Phase nach heutigem Wissensstand nachweislich korrekt waren - „Corona ist zigfach tödlicher als die Grippe“ oder „Impfen schützt auch vor der Weitergabe“ - waren in der zweiten Phase gar nicht oder mindestens deutlich weniger zutreffend, was man heute weiß, damals zu Beginn dieser zweiten Phase aber erst mal nicht wusste.

Damit macht man es sich zu leicht.
Staaten haben immer Schwierigkeiten zuzugeben, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben.
Beispiel:
Dem Tennisspieler Novak Djokovic wird auch im März 2023 (!) die Einreise in die USA verwehrt- aufgrund seines Status als ungeimpfter.
Dass eine Impfung nur die Person selbst schützt, aber nicht vor Übertragung, ist wissenschaftlicher Konsens. Das führt jedoch bislang nicht zur Abschaffung der entsprechenden Einreisegesetze.

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Im Grunde gebe ich dir recht. Aber einige Irrtümer waren von Anfang an offensichtlich. Beispielsweise der Zweck der Maskenpflicht im Freien oder des Verbots sich zu zweit im Park aufzuhalten, war in jeder Phase unsinnig.

Die Wahrscheinlichkeit sich unter normalen Umständen (also nicht bei der Querdenker-Demo) draußen bei jemandem anzustecken, ist wegen der sehr schnellen Verdünnung durch stets vorhandene Luftströmungen äußerst gering. Darauf haben auch renommierte Strömungsmechaniker hingewiesen.

Dennoch wurden Aufenthalte im Freien in Phase 1 sehr stark reglementiert und auch in Phase 2/3 gab es unwürdige Szenen. Ich erinnere mich beispielsweise an den Winter 2020, als Menschen im Harz nicht wandern durften, weil man dort zu viele Menschen wähnte.

Anyway, mir ging es mit meiner Kritik gar nicht zu vorderst darum, welche Corona-Maßnahmen gut und welche Quatsch waren und wer öfter recht hatte, Priesemann oder Schmid-Chanasit.

Mir geht es viel mehr darum, was viele Medienhäuser daraus machten und wie es auf die Bevölkerung wirkte. Offensichtlich halten noch immer einige Mitbürger wahlweise Frau Brinkmann oder Herrn Streeck für völlige Idioten, obwohl beide mal im Recht und manchmal total daneben lagen.

Dieses Spannungsfeld sorgt dann auch für solche Zoten, wie dieser hier

, denn würde die USA diese Regelung einfach fallen lassen, fühlten sich möglicherweise Anhänger des Teams Vorsicht ebenso vor den Kopf gestoßen, wie die die sich nur unter Protest haben impfen lassen, während gleichzeitig Impfgegner triumphierten.

Hätte man das Thema nicht so aufgeladen, könnte man einfach der Situation angemessen entscheiden.

Sicherlich mag es Leute geben, die „schon immer gegen die Corona-Maßnahmen“ waren - genauso wie es Leute gibt, die bis heute alles genau so richtig finden wie es gewesen ist. Aber das scheint mir mit den bisher hier in diesem (bzw. im vorherigen) Thread geäußerten Positionen nicht viel zu tun zu haben. Falls doch, fände ich es gut, wenn Du und @Matder Euch direkt auf das Gesagte bezieht, sonst wirkt es hier für mich eher wie ein Pappkamerad.

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Ach lib, du sollst doch keine Lügen erzählen.

Menschen, die trotz Impfung und/oder einer früheren Infektion erneut an COVID-19 erkran­ken, geben das Virus seltener an andere Menschen weiter als Personen ohne eine Immunität gegen SARS-CoV-2. Dies zeigen Erfahrungen, die in den Gefängnissen von Kalifornien während der ersten Omikron­wel­le im Winter 2021/22 gemacht wurden und die jetzt in Nature Medicine […] publiziert wurden.

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/140008/Omikron-Impfungen-und-fruehere-Erkrankungen-senken-das-Uebertragungsrisiko

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Ich beginne im April ein Praktikum in einem Bundesministerium und die wollen, dass man 24 Stunden vorher einen Covid-Test macht. Auch beim Weltwirtschaftsforum in Davos wurde vorletzten Monat viel Aufwand in die Corona-Maßnahmen gesteckt.

Die Maßnahmen ergeben also immer noch Sinn und wurden offenbar nicht aus medizinischen Gründen fallengelassen, sondern nur aus politischen Gründen. Angesichts der immer noch existenten Long-Covid-Gefahr, für das es noch keine von den Krankenkassen finanzierte Therapiemöglichkeit gibt, ziemlich fahrlässig in meinen Augen.

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Habe bei der Diskussion auch etwas das Gefühl, dass mitunter versucht wird, alte Rechnungen zu begleichen, deshalb nur ein etwas grundsätzlicherer Punkt zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit: Der Wissenschaftsrat hat sich bereits 2021 in einem ca. 100-seitigen „Positionspapier“ Gedanken dazu gemacht, wie sich Wissenschaftskommunikation (besser) auf die Anforderungen von Krisensituationen unter massenmedialen Bedingungen einstellen sollte. Oder auch ganz allgemein dazu, wie gute Wissenschaftskommunikation stimuliert werden könnte: https://www.wissenschaftsrat.de/download/2021/9367-21.pdf?__blob=publicationFile&v=10

Interessant in diesem Zusammenhang hier vielleicht Punkt I.1.a: Vorläufigkeit und Mehrstimmigkeit transparent machen.

Position des Wissenschaftsrats: Wissenschaftskommunikation sollte rationale Auseinandersetzungen unterstützen, indem sie wissenschaftliches Wissen bereitstellt und zugleich dessen Prozesshaftigkeit, Perspektivität und Selektivität transparent macht. Damit fördert sie das Wissenschaftsverständnis von
Laien und die Unterscheidung richtiger und falscher Informationen. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Kommunikation, die die Vorläufigkeit und Mehrstimmigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, die Grenzen individueller Expertise ebenso wie die Entstehungsbedingungen von Forschung offenlegt, auf Kritik oder Unverständnis stößt. Eine Kommunikation, die Vorbehalte und Einschränkungen transparent macht, ist aber, wie die Wirkungsforschung zur Wissenschaftskommunikation zeigt, grundsätzlich eher dazu geeignet, Glaubwürdigkeit zu erhöhen und das Vertrauen in wissenschaftliche Integrität zu stärken. Ebenso klar sollte kommuniziert werden, wenn ein konsolidierter Wissensstand erreicht ist und begründet von gesichertem Wissen ausgegangen werden kann.

Wissenschaft sollte, so zumindest der Wissenschaftsrat, also nicht - wie im Ausgangsthread an einer Stelle gefordert - nur dann informieren, wenn es einen neuen Konsens gibt, sondern sollte der Öffentlichkeit Einblicke in die Entstehung von wissenschaftlichem Wissen geben, die Prozessualität wissenschaftlicher Erkentnis mitreflektieren, mögliche Vorbehalte thematisieren und insbesondere die Multiperspektivität von Wissen transparent machen, d.h. die Modulationsleistungen, die Wissenschaftler:innen aufbringen, um zu ihrern Erkenntnissen zu gelangen.

Oder anders gesagt: Gute Wissenschaftler:innen erkennt man vor allem daran, dass sie ihren Arbeitsprozess offenlegen, Einschränkungen und Vorläufigkeiten der eigenen Erkenntnisse thematisieren und den Status des Wissens im Hinblick auf noch offene Fragen offenlegen.

Christian Drosten ist m.E. vor allem deshalb ein Beispiel erfolgreicher Wissenschaftskommunikation, weil er diese Art von wissenschaftlichem Habitus exzellent verkörpert.

Letzter Punkt: Man sollte Wissenschaftskommunikation vermutlich nicht danach ausrichten, was „Bild“ oder „Welt“ damit anrichten können. Das führt zu nichts.

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Hast du die Fehlerbalken der Studie gesehen?

In adjusted analyses, we estimated that any vaccination, prior infection alone and both vaccination and prior infection reduced an index case’s risk of transmitting infection by 22% (6–36%), 23% (3–39%) and 40% (20–55%)

Bei 95% sicheren 3-39% Übertragungswahrscheinlichkeit bei vorherigen Infektionen und 6-36% bei vorheriger Impfung erkenne ich aus der Studie genau gar keine Vorteile der Impfung in Bezug auf die Übertragungswahrscheinlichkeitssenkung.

Die einzig relevante Bezugsgröße scheint zu sein, wann eine Person zuletzt Kontakt mit dem Virus hatte. Ob dies über eine Infektion oder Impfung geschieht, spielt keine Rolle.
https://www.nature.com/articles/d41586-022-02328-0

Eine gerade erst genesene Person ist also weniger eine Gefahr für andere als eine vierfach geimpfte Person, deren Impfungen aber alle schon länger zurückliegen.

Auch an Dich die Bitte: Wenn Du jemandem hier im Thread „alte Rechnungen“ vorwirfst, konkretisiere doch bitte a) was du damit meinst, also was für „Rechnungen“ das sein sollen und b) an wen sich der Vorwurf richtet - sonst bleibt nur ein Pappkamerad. Mit unbegründeten Gefühlen und Meinungen um sich zu werfen, „führt zu nichts“ - um Dich zu zitieren.
Ich habe mehrmals ausführlich argumentiert, warum ich den Diskurs um Schulschließungen als exemplarisch ansehe, er also aus meiner Sicht auf einen grundsätzlicheren Punkt verweist. Das von mir Beschriebene steht aus meiner Sicht im eklatanten Widerspruch zu den Überlegungen für gute Wissenschaftskommunikation - erst Recht wenn diese genau in dieser Zeit so explizit formuliert wurden.
In diesem Sinne würde ich gerne eine Begründungen lesen, warum Du Drostens Verhalten z. B. in den von mir beschriebenen Punkten anders und so überaus positiv bewertest.

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Die erste Version von Drostens Studie ist von Ende April 2020. Erstmals im Podcast besprochen wurde sie am 30. April, dort übrigens mit massiven Einschränkungen versehen, was ihre Aussagekraft für das reale Geschehen angeht. Bereits am 28. April hat die Kultusministerkonferenz ein Rahmenkonzept für schrittweise Öffnungen des Schulbetriebs vorgelegt; erste Öffnungen gab es regional bereits seit Mitte April. Das Konzept sah die breite Öffnung des Schulbetriebs für den 04. Mai 2020 vor - zu der es dann ja auch kam. Am 06. Mai 2020 beschlossen die Kanzlerin und die Ministerpräsident:innen die weitere Öffnung der Schulen. Im Juni schließlich gab es den Beschluss, nach den Sommerferien wieder in den Regelbetrieb zu wechseln.

Im Corona-Virus Update Nr. 46 vom 04. Juni 2020 setzt sich Drosten ausführlich mit der Kritik an seiner Position auseinander.

Das ist jetzt nur das, was mir beim ersten Blick auf deine Rekonstruktion aufgefallen ist. Als ich meine Antwort überlegt habe, trug das Thema noch einen Titel, bei dem es irgendwie um „Öffentlichkeit und Wissenschaft“ gehen sollte. Das fand ich eine interessante Fragestellung. Wann und wie Hendrik Streeck oder anderen doch mal eine sinnvolle Aussage unterlaufen ist, finde ich weniger interessant.

Zu Drostens Habitus: Wenn man den Podcast hört, macht Drosten eigentlich genau das, was der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme fordert: Er reflektiert über den epistemischen Status von Wissen; stellt Annahmen auf der Grundlage vorherigen Wissens an, ohne sie absolut zu setzen; zeigt blinde Flecken des Wissens auf und benennt Derivate; legt offen, auf welcher Grundlage er seine Annahmen trifft und gibt einen Einblick in den ‚Maschinenraum‘ des Wissenschaftlers, etwa im Hinblick auf eigene Laborstudien oder die vorgeführte Dekonstruktion von Studien.

Damit will ich im Übrigen nicht sagen, dass er nichts Falsches oder Problematisches gesagt oder vertreten hat. Mir geht es eher um den Habitus, den ich zumindest im öffentlichen Auftreten etwa Streecks oder Schmidt-Chanasits vermisse. Aber dafür habe ich sie möglicherweise auch zu wenig zur Kenntnis genommen.

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Mir ist in der Tat ein kleiner Fehler unterlaufen, der wahrscheinlich zu Verwirrung geführt hat. Es stimmt, dass das „Rahmenkonzept“ der Kultusministerkonferenz (KMK) schon vom 28.4.2020 war. Am 30.4. fand hingegen die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) statt. Dort wurde die Entscheidung über anhaltende Schulschließungen getroffen. Drosten hat seine Studie am Abend vor dieser MPK veröffentlicht. In Folge 37 seines Podcasts vom 30.4. rühmt er sich noch, das Papier in Rekordzeit geschrieben und veröffentlicht zu haben. Übrigens nicht - wie üblich - auf einem Preprint-Server (was einige Tage gedauert hätte), sondern auf seiner eigenen Website. Er wollte also unbedingt, dass die Kernaussage seines Papiers noch vor der MPK die Öffentlichkeit erreicht. Und wie gewünscht machten am Morgen der MPK dann viele Medien mit Schlagzeilen wie „Kinder genau so ansteckend wie Erwachsene“ auf.
Die Entscheidung, Schulen nach dem Sommerferien - also erst Monate später - wieder im Normalbetrieb laufen zu lassen, würde ich nicht als „Öffnung“ bezeichnen, sondern als fortgesetzte Schließung. Vor allem im europäischen Vergleich. Auch gab es zu diesem Zeitpunkt in diversen europäischen Ländern bereits Studien, die eine deutlich geringere Beteiligung von Kindern am Infektionsgeschehen im Vergleich zu Erwachsenen feststellten. Diese Studien besprach Drosten in seinem Podcast wenn überhaupt nur selektiv und mit einem starkem Bias).

Genau das tut er gerade nicht. Am 30.4. behauptet er noch: „Im Wesentlichen muss
man sagen, es gibt keine nachweisbaren Unterschiede in der Viruslast.“ Mehrere Statistiker, u.a. Leonard Held, Jörg Stoye, Dominik Liebl und David Spiegelhalter zeigten mit den Daten aus der Studie, dass es sehr wohl signifikante Unterschiede zwischen den Viruslasten gab. In Folge 43 vom 26.5. hebt er vor allem auf die Bild-Kampagne ab und behauptet: „Alle vier Wissenschaftler haben sich inzwischen
deutlich von dieser gesamten Berichterstattung distanziert“. Das ist höchstens halbrichtig - denn die vier genannten distanzierten sich zwar von der Art und Weise wie die Bild Kampagne machte, aber nicht von ihrer fachlichen Kritik, die die Aussage des Papiers komplett infrage stellte. Dennoch behauptet Drosten ebenfalls am 26.5.: „Aber das hat für die medizinische Interpretation und die Bedeutung dieser
Daten überhaupt keine Konsequenz.“ Auf Kekule, der sie fachliche Kritik der Statistiker öffentlich zusammenfasst, reagiert Drosten am 28.5. per Twitter ad hominem. Am selben Tag suggeriert Drosten, es gäbe generelle Probleme mit Statistiken über Kinder im Zusammenhang mit Corona. Auch enge Kollegen von Drosten, etwa aus dem europäischen Verbundprojekt „Recover“ kritisieren Drosten auf fachlicher Ebene stark und zum Teil öffentlich - was Drosten in seinem Podcast am 28.5. als reine Medienkampagne abtut.
Folge 46 vom 4.6. bezieht sich hingegen auf die zweite Version des Viruslastpapiers. Darin fehlt erstaunlicherweise der zuvor so starke Fokus auf die Viruslast - aber die im Podcast selbst erklärtte politische Agenda „Vorsicht mit Schulöffnungen“ bleibt. Ebenso wie das Lamento über ein „Medienklima, das sich zum Teil mit Aggressivität gegen die Wissenschaft und gegen einzelne Wissenschaftler wie mich richtet“ - ob das ein souveräner und transparenter Umgang mit fachlicher Kritik ist, mag jede:r für sich selbst beurteilen.

Ich habe dargestellt, wie persönliche Angriffe auf einzelne Wissenschaftlicher im Namen „der“ Wissenschaft (wie im Spiegel) einer Wissenschaftskommunikation wie sie sein sollte, fundamental widerspricht. Deine Reaktion darauf ist sinngemäß zu sagen: „Es interessiert mich nicht, ob ein renommierter Professor für Virologie aus Versehen mal was Sinnvollles sagt.“ Das spricht für sich.

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Zu Verwirrung führt bei mir gerade eher dein idiosynkratisches Verständnis von „Schließungen“. Im Beschluss der MPK vom 30.04. ist festgehalten, dass das Bundeskanzleramt sowie die Staats- und Senatskanzleien damit beauftragt werden, „Beschlussvorschläge für den 6. Mai zur
schrittweisen weiteren Öffnung von Schulen […] zu erarbeiten“. Im Beschluss der MPK vom 06.05. wird dann der „teilweise[] Präsenzunterricht“ für „alle[] Schüler“ wieder aufgenommen und soll fortgesetzt werden.

Diese Entscheidungen als „Fortsetzung der Schließungen“ zu bezeichnen scheint mir schon ein recht tendenziöses Framing zu sein.

Im Hinblick auf die vollständige Öffnung ‚erst‘ nach den Sommerferien gehören zum Gesamtbild natürlich auch die Ausbrüche in israelischen Schulen im Mai/Juni 2020, auf die dann wiederum mit Schulschließungen reagiert wurde.

Sehr selektive Lektüre. In Folge 46 nennt Drosten „eine fundierte Methodenkritik von Statistikern“, deren Hinweise man für die Überarbeitung aufgenommen habe. Dann spricht er über die unterschiedlichen Perspektiven von Statistik und Virologie auf das Problem und gibt längere Einblicke in die eigene Arbeitsweise und wie man zu den Ergebnissen gekommen ist. Sein Argument scheint etwa Folgendes zu sein: Der „erfahrene Virologe“ sieht, dass die statistisch ermittelten Unterschiede so gering sind, dass sie klinisch nicht wesentlich relevant sein dürften.

Es ging mir nicht darum, ob dir die inhaltliche Auseinandersetzung plausibel erscheint oder nicht. Deine Behauptung war, dass keine Auseinandersetzung stattgefunden habe. Das ist wiederum - offensichtlich - eine tendenziöse Darstellung.

Für mich hat es keinen sonderlichen Appeal, diese Revisionen zu betreiben. Mir ging es in meinem Beitrag um etwas anderes. Manche Dinge kann man aber eben trotzdem nicht einfach so stehen lassen.

Wenn es für Dich „idiosynkratisch“ und „tendenziös“ ist, auch Wechselunterricht und andere Formen teilweiser Schließungen unter „Schulschließungen“ zu subsummieren, dann gilt das aus Deiner Sicht vermutlich auch das Global Monitoring of School Closures der UNESCO, das ebenso vorgeht. Deine anderen Versuche, meine Argumentation als „offensichtlich tendenziös“ oder „selektiv“ abzutun sind aus meiner Sicht ähnlich unsubstantiiert. Offenbar ist es auch außerhalb der Wissenschaft nicht für alle einfach zu akzeptieren, dass auch Interpretationen legitim sein können, die nicht der eigenen Sichtweisen entsprechen.

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