Ich denke, dass die Debatte nicht ganz richtig ist und möchte gerne ausbreiten, wieso. Meine Argumentationskette ist vielleicht am Anfang verwirrend, ich versuche aber den Knoten immer weiter aufzumachen.
Es gibt eine gewisse Grundversorgung in Heil- und Pflegeberufen. Diese braucht man quasi immer, durch Unfälle, Krankheiten etc. Diese Grundversorgung ist wie der Name sagt eine Art „Mindestvoraussetzung“. Dazu gibt es natürlich sozusagen „Aufsätze“, also speziellere Versorgungen und „Überversorgung (Reservekapazität)“. Mittlerweile bewegen sich auch viele Medizin- und Pflegeberufe in betriebswirtschaftlichen Massstäben, was weitreichende Folgen hat. Was möchte ich damit sagen?
Wir alle möchten möglichst wenig Steuern und Versicherungskosten bezahlen. Wir möchten aber eine permanente Grundversorgung in der Medizin und hier fängt das Problem an: Medizinberufe sind eben nicht mit Fertigungsprozessen vergleichbar (also nicht so einfach plan- und messbar), weil die Komponente Mensch halt sehr stark mitspielt.
Beispiel: Meine Frau arbeitet als Hebamme in einem kleinen Krankenhaus. In diesem Krankenhaus ist rund um die Uhr mindestens eine Hebamme anwesend. Dieses Krankenhaus verfügt über vier „Gebs“, also Gebärzimmer plus OP. Jetzt kann sich jeder selbst ganz einfach ausrechnen, wo das Problem anfängt. Jetzt gibt es Nachtschichten, in denen kein einziger Anruf kommt und solche, in denen sie alleine (mit der Option auf Pikett-Unterstützung) mit drei Gebärenden beschäftigt ist. Wenn dann spontan ein Kaiserschnitt fällig wird, bei dem sie mit in den OP Saal muss, ist sofort eine kritische Betreuungssituation erreicht. Ist es jetzt sinnvoll für den unwahrscheinlichen Fall, dass alle Frauen gleichzeitig kommen vorsorglich immer mindestens zwei Hebammen auf dem Dienst zu haben? Grundsätzlich wäre das sinnvoll, denn selbst zu zweit wäre eine solche Betreuungssituation je nach Geburtsverlauf bereits kritisch. und genau da kommen wir ins grosse Problem.
Ich bin voll dabei, dass sämtliche Medizin- und Pflegeberufe in staatliche Hand gehören. Solche Leistungen dürfen nicht der liberalen Wirtschaftslogik von Angebot und Nachfrage unterworfen werden, denn dann haben wir ganz schnell ein noch viel grösseres Problem. Andererseits macht es aber auch keinen Sinn permanent vier Hebammen im Dienst oder Pikett zu halten für den unwahrscheinlichen Ausnahmefall, dass mal alle Sääle gleichzeitig belegt sind (und noch eine OP stattfindet).
Dennoch ist es zu einfach, wenn man sagt, man hätte einfach ausbauen müssen. Das führt nämlich zu dem Trugschluss, dass nicht jeder seinen Anteil an solchen Katastrophen hat. Die Problematik entsteht ja in den Belastungsspitzen, nicht in der Grundlast. Jeder Peak, egal, wie viel Geld wir investieren, wird zum Problem, denn die Grundlast inkl. Reserve ist nicht auf sprunghaften Anstieg (Stichwort exponentielles Wachstum) und Peak-Versorgung ausgelegt. Wenn morgen ein Zugunglück passiert mit einigen hundert Verletzten, ist es fast nicht möglich, diese alle gleichzeitig vor Ort zu versorgen, wenn wir nicht eine sehr grosse Reserve einbauen würden. Diese Reserven wären dann aber einerseits unbezahlbar (weil das Personal dann immer auf Abruf wäre und damit Entschädigung zu Gute hat) und andererseits damit verbunden, dass das Personal vermutlich 80% der Zeit Däumchendrehen müsste.
Weiter greift das Argument den Fall der Ausbildung nicht auf. Viele Menschen möchten nicht mehr in diesem Beruf arbeiten, sie werden meist schlecht bezahlt und sind psychisch überdurchschnittlich belastet. Es gab keine Möglichkeit mal Schnell 10000 Pflegekräfte zu finden und eine mehrjährige Ausbildung zur spezialisierten Intensivpflegekraft auszubilden.
Noch ein letzter Absatz zum Thema: Man muss das nicht vertuschen, die Pflegekapazitäten wurden abgebaut. Aber ja nicht nur aus betriebswirtschaftlichen Gründen, sondern auch darum, weil einfach niemand mehr wirklich diesen Job machen will. Das liegt zum einen an den oben beschriebenen schlechten Bedingungen, starken Einschränkungen im Privatleben für verhältnismässig wenig Geld. Wir wissen das alles, teilweise seit Jahrzehnten. Wir wissen, dass unsere Grosseltern im Altersheim teilweise nicht mehr richtig betreut werden können, wir wissen, dass Pflegepersonal teilweise psychisch nicht mehr kann, weil es permanent zu viel zu tun gibt. Wir wissen das alles. Wir ändern aber halt nichts.
Ja, es wäre wünschenswert, wenn man Kapazitäten aufbauen würde (und aus meiner Sicht bitter nötig), das ändert aber halt nichts daran, dass wir Peaks niemals komplett abfedern können (wie in der aktuellen Pandemie) und es ändert auch nichts daran, dass man nicht alles tun sollte, um diese schweren Verläufe zu verhindern. Also, mein persönliches Fazit: Besser die Stationen leer lassen mit der Impfpflicht.