Die Fokusierung auf Infektionsschutz und die neoliberal-oder-nicht-Debatte in diesem Kontext ist vielleicht berechtigt, aber ich halte sie für nicht zentral. Wir reden meist von den Eltern und/oder Angehörigen, aber selten von den Kindern selbst. Stelle ich aber deren Belange in den Vordergrund, dann werden vor allem soziale und didaktische Aspekte wichtig:
Zum Sozialen:
Die Schule hat nicht nur eine Lernvermittlungsfunktion, sondern stellt für viele Kinder die zentrale Quelle von Reizen und Impulsen dar und den einzigen Ort, an welchem sie aus einen möglicherweise toxischen oder bedrückenden Umfeld zu Hause entkommen können. Das betrifft nicht nur prekäre Familien, aber ich gehe nun einmal besonders auf diese ein: Je prekärer die Situation zu Hause, desto wichtiger wird die Rolle der Schule. Während bei der akademischen Mittelstandsfamilie ein Regal mit alteresgerechten Sachbüchern, das pädagogisch wertvolle LEGO-Bastelset zu Weihnachten, das Gemüsebeet im eigenen Garten, Ausflüge in den Zoo, Klavierunterricht und Sportvereine (letzteres vielleicht nicht gerade im Lockdown) für genügend Input sorgen, so dass die Schule nicht mehr sooo wichtig in der Entwicklung wird, ist bei prekären Verhältnissen die Schule eine unersetzliche Quelle von externen Anreizen. Als Beispiel sei ein Fall aus dem Bekanntenkreis genannt, in dem eine Grundschullehrerin feststellen musste, dass ein Drittel der Kinder ihrer Klasse bei einem Schulausflug zum ersten mal in ihrem Leben einen Wald gesehen haben.
Hinzu kommt, dass (wie bereits oben angeklungen) die Digitalisierung des Unterrichts in besser situierten Elternhäusern halbwegs klappt, woanders hingegen gar nicht. Selbst wenn man SchülerInnen Tablets zur Verfügung stellt, scheitert es oft daran, dass es zu Hause keinen geeigneten Arbeitsplatz oder kein WLAN gibt (Eltern haben oft nur 1GB Datenflat auf dem Handy und manche verstehen auch nicht richtig, wie das so richtig mit den Daten funktioniert). Und auch da kann man nun über Digitalisierung und Bildungspolitik schimpfen, aber Bildungsdigitalisierung wird leider immer noch vom Prototyp der AkademikerInnen-Mittelstandsfamilie her gedacht. Die nötigen Anstrengungen, um das ganze auch sozial gerecht gestalten zu können, haben wir nicht einmal ansatzweise auf dem Schirm, da sie dann auch Dinge wie „Internet in jeder Wohnung“ und „ausreichend Wohnraum für kinderreiche Familien“ beinhalten.
Zum Didaktischen:
Didaktische Forschungen unterstützen die These (Disclaimer: Ich arbeite zwar in der Hochschullehre, habe aber keinen dezidiert pädagogischen Hintergrund), dass soziale Eingebundenheit für die Lernmotivation essentiell ist. Das bedeutet, dass eine wichtige Funktion des Systems „Schule“ auch darin, dass SchülerInnen im Lernprozess in einer Gruppe/Klasse/Jahrgangsstufe navigieren können. Würden sie den Lernprozess überwiegend als EinzelgängerInnen erfahren, dann ist das signifikant weniger motivierend. Die Klassengemeinschaft (sogar Animositäten und Feindschaften - nicht nur Freundschaften) und das, was auf den Fluren, auf dem Pausenhof und auf dem Weg nach Hause an sozialer Interaktion passiert, ist ein Bestandteil des Lernkonzepts „Schule“ und kann nicht einfach weggelassen werden. An Hochschulen, in der Arbeitswelt und in den oberen Jahrgangsstufen des Gymnasiums kann man darüber diskutieren, wie solche Aspekte sozialer Interaktion heutzutage auch in sozialen Medien substituiert werden, aber auf Grundschulniveau sehe ich da keine praktikable Lösung.
Von daher denke ich schon, dass aus sozialer und didaktischer Sicht Präsenzunterricht an Schulen (fast) immer besser ist. Und je jünger und unterpriviligierter die SchülerInnen, desto besser ist er.
[edit: zu viele peinliche Typos]