Corona, (k)eine Naturkatastrophe?

Lieber Ulf, lieber Phillip,
mindestens zweimal habe ich Euch in der von mir sehr geschätzten Lage der Nation von Corona als einer Naturkatastrophe reden gehört. Ich glaube, dass dies falsch ist. Anbei ein Link zu einer Artikel aus le monde diplomatique. Es geht um das Überspringen des Virus aus der Tierwelt durch die Einschränkung der Lebensräume. Der biologische Fachbegriff dafür ist Zoonose.
Meiner Überzeugung nach ist es wichtig, zu betonen, dass das Auftreten von Corona unter Menschen eben keine Naturkatatrophe, sondern durch die industrielle Landwirtschaft und die damit einhergehende Einschränkung der Lebensräume von Wildtieren entstand (und sich durch die globalen Wirtschaftsbeziehungen und Tourismus eben so schnell verbreitet hat). Auch Herr Drosten hält die Zoonose-Erklärung im Podcast für die z.Z. wahrscheinlichste. Wenn ich Corona als Naturkatastrophe bezeichnet, kann es so klingen, als wäre das über uns als Menschheit gekommen und wir hätten dafür keine Verantwortung. Das scheint so nicht zu sein. Ich plädiere dafür, die Pandemie als Kulturkatastrophe zu bezeichnen. Kultur meine ich hier als Gegensatz zu Natur.
Wie denkt Ihr dazu?
Viele Grüße aus Bonn von
Stefan

Ich habe schon häufiger die These gehört, dass Zoonosen etwas mit unserer modernen Lebensweise zu tun haben. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob das wirklich überzeugend ist, denn nach meinem Verständnis haben Menschen in früheren Kulturstufen viel enger mit Tieren zusammen gelebt als wir in unseren Industriegesellschaften.

Oder nehmen wir das Beispiel der Abholzung des Regenwaldes: Natürlich ist das eine blöde Idee, aber warum es Menschen in engeren Kontakt zu Tieren bringen soll habe ich ehrlich gesagt noch nie verstanden.

Auch ganz konkret am Beispiel des SARS-Corona-Virus-2 kann man sich die Frage stellen, ob dieses Erklärungsmuster wirklich überzeugend ist. Denn der Übergang auf den Menschen soll doch auf einem Markt in China stattgefunden haben. Ich glaube nicht, dass zB mittelalterliche Märkte in Europa sehr viel anders ausgesehen haben als der konkrete Markt in Wuhan. Wo ist da jetzt der globale Kapitalismus Schuld?

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@vieuxrenard: Hier betrachtest du nur das Überspringen von Tieren auf den Menschen. Darin sehe ich ebenfalls keine Ursache der modernen Welt. Mit Blick auf die Verbreitungswege sehe ich da schon die primäre Ursache in unserer global vernetzten Welt. Eine derart schnelle Verbreitung wäre im Mittelalter undenkbar gewesen. In der größten Deutschen Stadt lebten im 14. / 15. Jahrhundert gerade einmal 40000 Menschen. Die Distanzen mussten zu Fuß oder zu Pferd zurückgelegt werden. Die Wahrscheinlichkeit einer weltweiten Ausbreitung eines solchen Erregers war also eher gering.

Ich habe was den Wuhan-Markt angeht durchaus Zweifel. Ich finde die Theorie von Herrn Kekulé und wohl auch Herrn Drosten überzeugender, dass es mit der Zucht von Marderhunden zusammenhängt. Es gibt wohl bei Wuhan auch eine große Farm für die Zucht von Marderhunden für Pelze, diese sind ein gutes Reservoir für den Virus wo er häufiger mit Menschen in Kontakt kommt und zwischen den Tieren und Menschen hin und herspringen und sich anpassen kann.
Vielleicht war der Markt dann der Ausbruch aus der Farm, aber nicht der Ort der ersten Übertragung des Virus (wobei natürlich auch eine Übertragung von Fledermaus auf Marderhund auf dem Markt statt gefunden haben kann).

Zoonosen gab es auch vor Corona vielfach (nicht zuletzt HIV, Masern uvm.) und auch vor der „modernen Lebensweise“. Die Bevölkerung ist nun aber dichter und stärker vernetzt und durch große Tierfarmen kann es zu größeren Hotspots kommen in denen die Viren zwischen Tieren und Menschen hin und herspringen und sich evolutionär anpassen.
Die „moderne Lebensweise“ hat vor allem durch die engere Vernetzung und durch mehr Tiervirus-Reservate in großen, engen Tierfarmen zur Pandemie beigetragen.

In wie weit die Abholzung von Regenwald dazu beigetragen hat ist schwierig zu beurteilen. Es verengt zumindest natürliche Lebensräume und erhöht über die Arbeiter etc. die Wahrscheinlichkeit, dass ein Virus in größere Metropolen eingeschleppt wird oder über Jäger die nun auch bisher isoliertere Tiere (häufiger) erreichen/finden.

Im Endeffekt ist es aber auch ein natürlicher Vorgang, dass Viren von Tieren auf Menschen überspringen

Sicherlich ist es richtig, dass bei anderen Naturkatastrophen (z.B. Erdrutsche, Trockenheit, Lawinen, Waldbrände) der Menschliche Einfluß signifikant zu Zustande kommen bzw. den Auswirkungen beigetragen hat.
Sind es nun Kulturkatastrophen statt Naturkatastophen?

Ich finde die Begriffsänderung nicht hilfreich, da der Auslöser ein natürliche Ursache hat, auch wenn menschliche Umstände dazu beigetragen haben. Eine Kulturkatastrophe wäre meinem Verständnis nach etwas was wo der Auslöser in der Kultur liegt oder die Kultur betrifft.

Zu Deinem letzten Absatz: Die Wissenschaftsjournalist Sonia Shah argumentiert in der März-Ausgabe der le monde diplomatiwue, dass die stetige Landnahme durch die industrialisierte und globalisierte Landwirtschaft die Wahrscheinlichkeit der Zoonose deutlich erhöht und zwar dadurch, dass der Lebensraum gerade für Wildtiere deutlich eingeschränkt wird. So ist hier von mir der Begriff Kultur gemeint. Kultur im Sinne von (Land)Wirtschaft.
Der Auslöser der Pandemie ist also eben nicht ausschließlich natürlich, sondern durch die expansive Wirtschaftsweise mindestens stark gefördert.