Hi Ulf, Philip,
ich hatte mich letzten Samstag auch auf den Weg zur Demo in der Friedrichstraße gemacht, bzw. zur Veranstaltung an der Siegessäule. Bei der ersten Demo am 01.08. war ich noch im Urlaub und habe nur entfernt davon mitbekommen. Ich fand das mediale Bild relativ undifferenziert, darum wollte ich mir selbst ein Bild machen.
Zunächst mal hat es mich positiv überrascht, dass ihr mit Herrn Ballweg ein Interview geführt habt. Ich fand es dann trotzdem sehr schade, denn normalerweise kenne ich es von euch, dass solche Interviews sich nicht auf zwei Aussagen beschränken und ihr diese dann auseinandernehmt. Bei Herrn Lauterbach z.B. habt ihr euch lange Zeit genommen und intensiv Fragen gestellt und eurem Gast die Möglichkeit gegeben, seine Position darzustellen. Warum habt ihr bei Herrn Ballweg davon abgesehen? Ich kann nachvollziehen, dass euch seine Perspektive nicht gefällt, trotzdem hätte ich gerne das ganze Interview gehört.
Zurück zum 29.08, zur Demo in der Friedrichstraße bin ich gar nicht bekommen, weil die Polizei frühzeitig alle Wege zur Demo abgeschnitten hat. So wie ich es mitbekommen habe, hat die Polizei die Demo nicht starten lassen, d.h. vorne ging es nicht weiter, von hinten kamen neue Leute hinzu. Die Abstände wurde nicht eingehalten, die Masken wurden nicht aufgesetzt, die Demo wurde abgebrochen. Da kann man sich natürlich die Frage stellen, warum Seitenstraßen (so wie im Hygienekonzept vorgesehen) von der Polizei abgesperrt wurden, bzw. warum man die Demo nicht hat starten lassen. Ist natürlich klar, dass dann die Abstände nicht eingehalten werden können. Aus Sicht der Polizei war das natürlich clever, aus Sicht der Demonstranten sehr schade, weil ein entsprechendes Hygienekonzept ja vorlag und vom Oberverwaltungsgericht bestätigt wurde.
An der Siegessäule sah das ganze natürlich deutlich anders aus, hier war genügend Platz. Die Leute hatten keine Masken, allerdings wurde sich weitestgehend an die Abstandsregeln gehalten. Ich persönlich sehe mich nicht als Corona-Leugner, Antisemit oder Nazi. Ich habe viele Fahnen gesehen, Schwedische, Holländische, Israelische, Deutsche, Regenbogen, Amerikanische, uvm. und ja, ich habe auch sehr vereinzelt Menschen mit Reichsflagge gesehen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hätte ich aber als typische Mittelschicht eingeordnet. Es gab Leute mit T-Shirts „ganz normaler Bürger“ und so kam es mir auch vor. Natürlich kann nicht in die Köpfe der Menschen reinsehen, allerdings kann ich schon Stimmungen wahrnehmen. Viel Applaus gab es gleich anfangs bei der kurzen Rede von Michael Ballweg. Wörter wie Frieden, Freiheit, Demokratie und Liebe wurden mehr als nur einmal an diesem Tag verwendet. Damit habe ich mich identifiziert und nicht mit dem <1% Nazis. Auch ganz klar, es gab eine ganz klare Abgrenzung zu linken und rechtem Extremismus vom Veranstalter, auch nicht nur einmal. Auch das sollte man vielleicht mal medial erwähnen und ich bin mir sicher, dass Herr Ballweg das in einem Interview mit euch erwähnt hat.
Was mich im Nachgang doch sehr wundert, dass es keine inhaltlich sachliche Diskussion über das Thema Corona gibt. Ihr hatten in der letzten Folge davon berichtet, dass es doch im Grunde keine großen Maßnahmen mehr gibt, Versammlungsfreiheit bzw. die Grundrechte im allgemeinen seinen doch kaum betroffen. Die vielen Millionen Menschen in Kurzarbeit habt ihr auch im Blick? Jemand schon mal seine Oma im Altersheim besucht? Bis auf der bisschen Maske aufsetzen sei doch alles wieder normal, oder? Ich muss sagen, dass ich mich bisher noch nicht an das neue „normal“ gewöhnt habe, bzw. fühlt es sich für mich immer noch nicht normal an. Wie geht euch?
Am Sonntag habe ich mich dann über die Prioritäten in der Berichterstattung gewundert. Frau Esken sprach von „Zehntausenden Rechtsradikale, Reichsbürger, QAnon-Anhänger“ usw. die „offen zum Sturm auf den Reichtag aufrufen“. Wie ihr es ja treffend beschrieben habt, es waren 200-300 Rechte, die sich auf die Stufen des Reichstags gestellt haben. Ich glaube auch Frau Esken kann nicht in die Köpfe reinsehen und ich finde es sehr schwierig, alles über einen Kann zu scheren. Die Veranstaltung an der Siegessäule (von Herrn Ballweg) hatte nicht mit dem zu tun, was am Reichstag passiert ist. Die verschiedenen Veranstaltungen einfach mal zu vermischen und von „den Demonstranten“ zu sprechen geht einfach gar nicht.
Mein Fazit ist schon, dass die mediale Berichterstattung größtenteils sehr einseitig ausfällt. Inhaltliche Diskussion gibt es eigentlich nicht, weil alle Menschen eh entweder Spinner sind (oder Esoteriker), Verschwörungstheorien nahestehen (also auch Spinner) oder gleich Nazis sind. Demokratisch ist das m.E. nicht, vor allem nicht die Diffamierung die immer stattfindet. Sollte man nicht gerade auf die Menschen zugehen und die Diskussion suchen, bzw. mit den Argumenten und der anderen Perspektive auseinandersetzen? Heißt das nicht gerade integrieren? Oder anders gesagt, ist die Ausgrenzung von einer doch beachtlichen Gruppe von Menschen (es waren ja wohl min. 50000 da) nicht gerade eine eher rechte Position. Linke integrieren, Rechte grenzen andere aus?
Nebenbei. Ich habe mit jemand auf der Demo gesprochen und diese Person fühle sich an die DDR erinnert. Da gab es auch eine Staatsmeinung und eine Minderheit, die mit empfindlichen Maßnahmen rechnen durfte, wenn man öffentlich oder auch im privaten, eine andere Meinung vertreten hat. Diese Person fühlte sich durchaus an die DDR erinnert. Denn versucht mal im Freundeskreis/Bekanntenkreis Corona-skeptisch zu sein, da wirst du heutzutage gnadenlos ausgegrenzt und bestenfalls als Spinner bezeichnet. Ich habe das erst nicht verstanden und den DDR-Vergleich abgelehnt, aber mit etwas Abstand verstehe ich die Position. Wer heute anderer Meinung, als medial vertreten, muss damit rechnen ausgegrenzt zu werden und das ist nicht demokratisch. Und ich sage es nochmal, die Diskussionsgrundlage fehlt, wenn man von Vorhinein als Spinner bezeichnet wird, nur weil man an einer Demo teilnimmt. Vielleicht verändern wir ja mal die Diskussionskultur? Es würde mich freuen, wenn ihr damit anfangt.
Viele Grüße