Ich war in einer Kleinpartei aktiv und habe genau dafür geworben. Ich habe immer gesagt: „wenn ich am Wahlkampfstand stehe, dann muss ich den Leuten doch sagen können, was genau für sie besser wird mit uns.“
Es ist aber eben viel leichter anzuprangern, was die anderen falsch machen.
Man ist so von seinen Konzept überzeugt, dass man gar nicht versteht, wie das Teile der Bevölkerung nicht verstehen - und beschließt, sie wollen es eben nicht verstehen.
Ein positives Konzept zu entwerfen, bedeutet, sich zusammen zu setzen und Dinge zu planen, die, sollte man tatsächlich mal regieren, durch den Fleischwolf der Koalitionsverhandlungen gedreht werden.
Je konkreter das Konzept, desto angreifbarer macht man sich. Denn jedes Konzept hat natürlich irgendwo Schwachpunkte, auf die die Gegner sich genüsslich stürzen werden.
Wir sind leider ein unglaublich destruktives Volk.
Ideen werden nicht weitergedacht sondern zerredet.
Ist Denkfaulheit der Grund, warum die BSW eine Alternative für 10% der Bevölkerung (je nach Umfrage) ist? Mir erscheint das zu einfach. Wenn ich dem folgen würde, kann ich 35% bis 40% der Bevölkerung abschreiben (AfD+BSW-Wähler).
Wie kommst du auf bis zu 40 % der Wählenden (gar der Bevölkerung)?
Bei der Europawahl bekam die AfD 15,9 % der Stimmen, das BSW 6,2 %. Das sind dann zusammengenommen 22,1 %.
In der Politischen Vierteljahresschrift wurden Befragungsdaten zur Bundestagswahl 2021 ausgewertet (Huber et al. 2022). Hier findest du die Populismus-Affinität nach Parteivotum:
Die Flächen im Bereich > 0 zeigen die Anteile mit populistischen Einstellungen.
Bei den Wählenden der Grünen war der Anteil besonders niedrig, bei Wählenden der Linken (damals noch mit Wagenknecht) und der AfD erwartungsgemäß besonders hoch.
Beim Grad politischer Unzufriedenheit kamen jedoch die Wählenden der Grünen nach denen von AfD und Die Linke auf Platz 3:
Dieser Positionswechsel zeigt schon an, dass Unzufriedenheit alleine - auch wenn das von den Studienautoren anders interpretiert wird - nicht der wesentliche Treiber für Populismus sein kann.
Die 2022/23 durchgeführte Rechtsextremismus-Studie von Zick et al. stellt fest, dass unter Grünen-Wählenden die Zustimmung zu Rechtsextremismus-Dimensionen am geringsten sei, wohingegen sie unter Linke-Wählenden, als Wagenknecht noch nicht ausgestiegen war, in einigen Dimensionen (Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und erstaunlicherweise auch Sozialdarwinismus) höher war als bei CDU/CSU- und SPD-Wählenden, bei der Dimension Fremdenfeindlichkeit war das bei Wählenden der Linken gegenüber denen der SPD der Fall. (Vgl. S. 75)
Dort gibt es ein ganz interessantes Kapitel unter dem Titel „Mittendrin: In der »Querfront«“ (S. 137).
Die letzte Leipziger Autoritarismus-Studie von Decker et al. 2022 bestätigt diese Tendenz innerhalb der Wählenden der Linken, wobei insbesondere deutlich erhöhte Antisemitismus-Werte und stark erhöhte Werte bei Chauvinismus (hiermit ist Nationalchauvinismus gemeint) und Ausländerfeindlichkeit hervorstechen (vgl. S. 59).
Die Partei Die Linke wurde bei der Bundestagswahl prozentual fast drei Mal so häufig im Osten gewählt:
Bei Kategorien wie „autoritäre Unterwürfigkeit“ u. dgl. findet die Leipziger Studie signifikante Ost-West-Unterschiede (vgl. S. 80).
Solche Einstellungsdifferenzen spielten sicher auch bei den damaligen Wählenden der Linken (inkl. Wagenknecht) eine Rolle und pausten sich gewissermaßen stärker durch.
Dass nach Wagenknechts Weggang nicht die Linksliberalen gegangen sind, sollte klar sein.
Bei der Europawahl sind neben vielen vorherigen Linke-Wählenden auch erstaunlich viele SPD- und mindestens dem ökonomisch rechten Spektrum zuzuordnenden Partei-Wählende zum BSW gewechselt:
Von CDU/CSU, FDP und AfD kamen insgesamt ca. 650.000 Stimmen, von der SPS 580.000 und von Die Linke 470.000, von den Grünen 150.000.
Man kann wohl davon ausgehen, dass das jene Wählenden waren, die auch schon früher populistischen Einstellungen zuneigten (vgl. Abb. 1).
Ich glaube, man macht es sich zu einfach, Linkewählern diktatorische Tendenzen zu unterstellen und dies dann vor allem im Osten zu verorten.
Die Hemmschwelle eine linke Partei zu wählen ist im Westen einfach deshalb schon wesentlich höher weil bis zu meiner Generation wir noch aufgewachsen sind mit dem Wissen, dass das der Klassenfeind ist.
In Bayern scheiterte die Linke regelmäßig an der 5%-Hürde und das nicht, weil die Bayern nicht zu „autoritärer Unterwürfigkeit“ neigen würden.
Im Gegenteil: es gibt sogar einen Verein, der sich für die Rückkehr der Monarchie einsetzt.
Ich denke, wer sich politisch am Rand (rechts oder links) verortet, ist meist ja grundlegend mit unserem politischen System unzufrieden, oder zumindest mit unserer Form der Demokratie.
Das Paradoxe ist ja, das diese Menschen einerseits ihren Status Quo behalten wollen, aber doch grundlegende Systemveränderungen gutheißen oder fordern.
Dazwischen (also zwischen Rand und Mitte des politischen Spektrums) tummeln sich viele unentschlossene Wähler, die sich aus dem politischen/ populistischen „Angeboten“ die für sie attraktiven Aspekte raussuchen und den Rest ignorieren.
Bei denen kann man sicher argumentativ ansetzen….wen man will.
Alle Daten aus empirischen Erhebungen weisen immer wieder die gleichen Befunde auf. Das kannst du nicht durch Glauben vom Tisch wischen.
Die gleichen Forschenden aus Leipzig, die schon jahrelang den Autoritarismus in Gesamtdeutschland erheben, kommen in einer Studie, die auf den Osten fokussiert, zu folgenden Ergebnissen:
„Hier ist damit das Potential für extrem-rechte und neonazistische Parteien, Wähler zu finden, besonders hoch. Jeder zweite wünscht sich eine ‘starke Partei‘, die die ‚Volksgemeinschaft‘ insgesamt verkörpert. Statt pluralistischer Interessensvielfalt wird eine völkische Gemeinschaft gewünscht“, erläuterte Brähler. Decker fügt hinzu: „Unsere Untersuchung zeigt, dass sich derzeit viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr demokratische Teilhabe und Sicherung der demokratischen Grundrechte wünschen, sondern die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit.“
Das kann man ja doof finden, aber man muss sich zumindest mit der Forschungslage, die übrigens auch von Zick et al. 2023 (s. o.) bestätigt wird, auseinandersetzen.
Leider wird hier mal wieder oberflächlich das Klischee des eher rechts wählenden Ostdeutschen bedient.
Dabei wird in der Studie, die du oben anführst (Link zu der Leipziger Studie) und zitierst, sehr wohl auf die wichtigen Hintergrund-Faktoren eingegangen, leider erst ab Seite 161ff. :
In zurückliegenden Veröffentlichungen haben wir neben der spezifischen ostdeutschen Transformationserfahrung und der jüngeren Geschichte Ostdeutschlands immer wieder auf Strukturfaktoren hingewiesen, die augenfällige Ost-West-Unterschiede erklären könnten.
Darunter zählen die Alters- und Bildungsstruktur, das Geschlechterverhältnis, Arbeitslosigkeitserfahrungen sowie die wirtschaftliche Strukturschwäche gerade im Osten und viele weitere Faktoren. Solche Umgebungs- oder Kontextfaktoren können bei der Herausbildung von Einstellungen eine Rolle spielen, werden bei der Analyse aber meist nur implizit oder im Nachhinein als mögliche Erklärungen berücksichtigt.
Das ist genau das Problem solcher oberflächlicher Statistiken. Es wird zu selten geschaut, welchen Bildungshintergrund und welches sozio-ökononische Umfeld die Befragten haben :
In den letzten Jahren stellten Untersuchungen entsprechend fest, dass die AfD in solchen Wahlkreisen und Regionen häufiger gewählt wird, die durch Alterung, Abwanderung und wirtschaftliche Benachteiligung geprägt sind, da in diesen Regionen auch eine geringere Zufriedenheit mit der Demokratie vorzufinden ist (Franz et al., 2018; Meisner, 2019; Brachert et al., 2020)
Zu behaupten autoritäre Parteien wie AfD oder BSW wären ein rein ostdeutsches Problem ist also eine Fehlannahme, die bei zunehmender Ungleichverteilung von Wohlstand in der Gesellschaft, durchaus problematisch werden könnte.
Auch die Aussage von @der_Matti zum Thema Bayern wird durch die Quelle von @Schnackerio bekräftigt:
Neben dem Ost-West-Unterschied sind aber auch andere regionale Unterschiede relevant. Bereits in unseren Untersuchungen von 2008 (Decker & Brähler, 2008) und 2014 (Decker et al., 2015), in denen auf Grundlage kumulierter, d. h. zusammengeführter
Stichproben der Jahre 2002–2008 bzw. 2002–2014 ein Bundesländervergleich möglich war, zeigte sich, dass offenbar auch ein Nord-Süd-Gefälle bei der Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen besteht. Vor allem für den Freistaat Bayern zeigten sich dabei sehr hohe Werte.
Was man dagegen tun kann? Sicher nicht einfach. Ich frage mich immer, wieso es so leicht sein kann/darf, überall öffentlich Lügen, demagogische Parolen, Rassismus u. ä. zu verbreiten und immer wieder zu wiederholen, bis es sich in den Köpfen als Wahrheit einnistet. Im privaten Bereich ist dem nur schwer beizukommen, aber z. B. in den Medien (z. B. Talkshows) wünsche ich mir oftmals eine Art Video-Schiedsrichter, der sofort auf objektive Unwahrheiten, Täuschungen etc. reagiert und Falsches richtigstellt, vielleicht KI-unterstützt. Es gibt das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber kein Recht auf die Wahrheit!? Das wäre mal eine sinnvolle Anwendung für KI und würde die Wagenknechts, Weidels, Trumps und wie sie alle heißen schnell entlarven, natürlich auch alle anderen, die sich gern mal die Wahrheit etwas zurecht biegen.
Ja, ich sehe die Frage „was ist die Wahrheit, wessen Wahrheit ist die richtige?“ Vielleicht kann man bei den plumpsten Lügen, die wissenschaftlich zu widerlegen sind, anfangen und sich weiter vorarbeiten…
Dass „autoritäre Parteien wie AfD oder BSW […] ein rein ostdeutsches Problem“ wären, habe ich an keiner Stelle behauptet, sondern lediglich festgestellt, dass es eine hohe Plausibilität dafür gibt, dass es autoritär gesinnte Personen eher zum BSW zieht, weil es unter den vormals Linken-Wählenden immer schon vermehrt rechte Einstellungen gegeben hat und selbige nicht nur im Osten häufiger sind, sondern auch Wählende der Partei Die Linke. Das überlappt sich also.
Dass der „Bildungshintergrund“ bei der Affinität zum Autoritarismus eine wesentliche Rolle spielt (im Übrigen auch das Geschlecht), ist ja rund um den Globus in Studien immer wieder bestätigt worden.
Eftedal et al. 2020 haben in einer interessanten Zwillingsstudie festgehalten, dass „es [in der Forschung] gut etabliert ist, dass Bildung und Rechtsautoritarismus (RWA) ziemlich stark negativ korreliert sind […].“ Weiter schreiben die Forschenden: „Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit einem kausalen Effekt von Bildung zur Verringerung von RWA. Der soziale Status im Erwachsenenalter hat diesen Effekt nicht bewirkt. Wir stellen fest, dass die negative Korrelation zwischen RWA und Bildung durch störende Einflüsse, vor allem aus dem familiären Umfeld, die teilweise mit dem SES [d. i. der sozioökonomische Status] zusammenhängen, noch verstärkt wird.“ (Übers.)
Und in einem Überblicksartikel von Osborne et al. in Nature Psychology Reviews 2023 heißt es: „Ähnliche Arbeiten zeigen, dass Offenheit für Erfahrungen (eine Eigenschaft, die das Interesse an Neuem und intellektuelle Neugier erfasst) negativ mit Rechtsautoritarismus korreliert.“ (Übers.)
Der ersten von mir angeführten Quelle nach zu urteilen bestätigt die Forschung zwar, dass Bildung positive Effekte gegen Autoritarismus zeitigt, aber der sozioökonomische Status als solcher nicht.
Grundsätzlich sehe ich es ferner so, dass strukturelle Faktoren keine Ausrede für Autoritarismusaffinität sein können - und zwar weder im Osten noch im Westen.
Ein weiterer Forschungsbefund zum sozioökonomischen Status ist noch bemerkenswert:
AfD-Wähler sind unabhängig von sozioökonomischen Faktoren mit ihrer finanziellen Situation und ihrem Leben unzufriedener als die Unterstützer aller anderen Parteien.
Ich glaube, viele der teilweise wunderlichen Einstellungen, die wir aktuell im Politbetrieb in Deutschland beobachten können, lassen sich auf zwei Eigenschaften zurückführen, die in meiner Wahrnehmung in Deutschland weit verbreitet sind:
- Wir neigen dazu, die Risiken des Wandels zu überschätzen.
- Wir neigen dazu, die Risiken des Stillstands zu unterschätzen.
Daher die starken Beharrungskräfte in Bereichen wie Klimaschutz, Digitalisierung, Wirtschaftswandel, Bargeld und so weiter und so fort.
Das führt dazu, dass Parteien, die …
- … Änderungen anstreben, es besonders schwer haben. Parade-Beispiel: Die Grünen.
- … Wahlen gewinnen wollen, sich kaum trauen, über Änderungen zu sprechen. Parade-Beispiel: CDU.
- … sich als Hüterinnen einer idealisierten Vergangenheit inszenieren, zumindest teilweise leichtes Spiel haben. Parade-Beispiele: AfD & BSW.
Mein kühnes Gedankenspiel aus dem Schnellkochtopf der Küchenpsychologie: Die deutsche Gesellschaft leidet an einem historischen Trauma aus der Zeit, in der die Nazis die Macht ergriffen haben. Innerhalb weniger Monate wurden viele, zum Teil massive Änderungen durchgeführt, die Deutschland in die Katastrophe geführt haben. Daher die Abneigung gegen Änderungen und der Wunsch nach Beständigkeit. Dass die Parteien, die sich heute als Hüterinnen der Beständigkeit geben, den umsturzartigen Handlungen, die das Trauma erst ausgelöst haben, besonders nahe stehen, ist Teil der bitteren Ironie. Aber funktionieren Traumata nicht genau so? Dass Traumatisierte unbewusst eine Wiederholung des Traumas anstreben, um es zu verarbeiten?
Man könnte hier argumentieren, dass die Nazis nicht Auslöser sondern bereits erste Reaktion auf ein Veränderungstrauma waren. Der Einschnitt der Nachkriegszeit mit dem neuen Staatsmodell einer Republik, die sich wirtschaftlichen Katastrophen nicht hinreichend gewachsen zeigte, hatte weitreichendere Auswirkungen auf das Alltagsleben als viele Einschnitte der Nazis. Bis heute taucht ja auch der Geist der Inflationsangst gerade in Deutschland immer wieder auf.
- Wir neigen dazu, die Risiken des Wandels zu überschätzen.
- Wir neigen dazu, die Risiken des Stillstands zu unterschätzen.
Das ist nichts anderes als eine Variante der Verlustaversion:
In einem Buchkapitel von Lauriola/Weller über Aspekte der Risikopsychologie von 2018 ist zudem nachzulesen:
Wir haben Studien untersucht, die die Risikobereitschaft mit Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung bringen. […] Von den Big Five waren Extraversion und Offenheit für Erfahrungen mit Risikobereitschaft assoziiert, während Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit eher mit Risikoaversion in Verbindung standen. Neurotizismus-Facetten wie Angst und Sorge standen in einem negativen Verhältnis zur Risikobereitschaft […]. Negative Emotionalitätsmerkmale führen zu einer erhöhten Gefahrenwahrnehmung und motivieren in erster Linie die Risikovermeidung. (Übers.)
Der schon zitierte Review-Artikel hält fest:
Die Veranlagung zur sozialen Konformität führt dazu, dass sich Menschen mit der bestehenden sozialen Ordnung identifizieren und sich auf Bedrohungen des Status quo konzentrieren. Zusätzlich zu den indirekten Auswirkungen, die diese Persönlichkeitsmerkmale durch eine erhöhte Bedrohungssensitivtät auf den Rechtsautoritarismus haben, wirken sich Merkmale, die die soziale Konformität fördern, direkt auf den Rechtsautoritarismus aus, indem sie die Menschen dazu veranlassen, Ordnung, Struktur, Stabilität und Sicherheit zu bevorzugen. (Übers.)
McFarland fasst den Forschungsstand in seiner Masterarbeit von 2020 so zusammen:
Frühere Untersuchungen zeigen einen starken Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Bedrohung und dem rechtsgerichteten Autoritarismus (RWA). (Übers.)
Bedrohungssensitivität, Rechtsautoritarismus und Risikoaversion hängen also miteinander zusammen.
Auf Wählende von AfD und BSW dürfte das zutreffen.
Eine erhöhte Bedrohungssensitivität bedeutet übrigens nicht, dass eine Bedrohung real ist, sondern lediglich, dass etwas - unabhängig von seiner tatsächlichen Bedrohlichkeit - als Bedrohung wahrgenommen wird. Deshalb spricht man im Englischen auch von „perceived threat“.
In der englischen Wikipedia heißt es dazu:
Die Integrated Threat Theory (ITT), auch bekannt als Intergruppen-Bedrohungstheorie, ist eine Theorie der Psychologie und Soziologie, die versucht, die Komponenten der wahrgenommenen Bedrohung zu beschreiben, die zu Vorurteilen zwischen sozialen Gruppen führen. […] Die wahrgenommene Bedrohung umfasst alle Bedrohungen, von denen die Mitglieder einer Gruppe glauben, dass sie ihnen ausgesetzt sind, unabhängig davon, ob diese Bedrohungen tatsächlich existieren. (Übers.)
Und somit wären wir dann wieder beim Wahrheitsproblem (s. o.).
Ich glaube, das stimmt vor allem für die Menschen, die damals gelebt haben. Für die heute lebenden Menschen, die mit geerbten Verhaltensweisen und Denkmustern an die Wahlurnen gehen, wiegt – so würde ich vermuten – nichts so schwer wie die Machtergreifung der Nazis selbst und das, was daraus folgte. Allein die Masse an Filmen, die dem dritten Reich gewidmet sind, sticht alles aus, was davor war. Damit will ich nicht sagen, dass das Davor nicht relevant wäre. Es zeigt meines Erachtens nur, dass das Davor als weniger ausschlaggebend wahrgenommen wird.
Da wir gerade so schön die deutsche Seele zerlegen, wollte ich noch einmal versuchen, den Bogen zur Ausgangsfrage zurückzuschlagen:
Ich glaube, das BSW kann sich als hilfreich erweisen, wenn es das Stillstandslager in kleinere Grüppchen zerlegt, und kann gefährlich werden, wenn es das Stillstandslager insgesamt attraktiver macht oder deutlich vergrößert.
Sehr interessante Analysen in den einzelnen Kategorien, vielen Dank für den sehr detaillierten Beitrag!
Ich nehme hier nicht die Wahlergebnisse als Basis, sondern die aktuellen Potentiale, die ich wie folgt aufschlüsseln würde:
- AfD: Hatte vor dem „Remigrationstreffen“ und Krahs krasser Zurschaustellung von peinlicher Unfähigkeit ein Potential von 20% in den Umfragen. Nur durch eine massive Auseinandersetzung konnte das aktuelle Ergebnis auf 15,9% gedrückt werden, und das ist angesichts der aufgekommenen Fakten erstaunlich wenig Verlust. 20% ist aber locker das Potential das AfD (Gesamt Ost und West).
- BSW: Hier gibt es interessante neue Zahlen (siehe Link): Das Wählerpotential ist im Osten bei 27% und im Westen bei 13% angegeben, also Menschen, die BSW attraktiv finden. Macht um die 16% bis 20% gesamt, je nach Gewichtung.
Analyse zum Wählerpotenzial der BSW: Jeder vierte Ostdeutsche findet Wagenknecht gut
Aus diesem Potential beziehe ich die 35% bis 40%. angenommen, es gibt keine Überschneidung/„Kannibalisierung“ zwischen AfD und BSW.
Das ist natürlich nicht komplett wissenschaftlich, aber ich gehe davon aus, dass in „guten Zeiten“ Menschen tendenziell auch Mittelparteien wählen, aber in (wahrgenommenen oder erlebten) Krisenzeiten eben die Tendenz haben, stärker autoritär/nationalbezogen zu wählen, insofern erscheint mir das plausibel. Die Wahlen in den drei neuen Bundesländern werden zeigen, ob meine Hypothesen Wert haben
Sehr interessant - das heißt: 60% der Linkenwähler, 50% der FDP, SPD und CDU-Wähler sind also zu unterschiedlichen Graden anfällig für populistische Positionen und können, abhängig von der ökonomischen Situation und der richtigen Umstände, abgeholt werden? Oder bin ich da zu pessimistisch?
Das würde ich eher als schwierig betrachten, das so aufaddieren zu wollen. Hier mal ein gegriffenes Beispiel von 2011:
Die Wählerpotenziale der fünf Parteien summieren sich zu 141 % auf.
Der von dir verlinkte Tagesspiegel-Artikel verweist auf folgende Publikation:
Es handelt sich um eine Erwerbspersonenbefragung:
Als Grundgesamtheit sind die deutschsprachigen Erwerbspersonen in Deutschland ab 16 Jahren definiert, die über einen Online-Zugang verfügen.
Es fallen also schon mal einige Personen mit höherer Bildung am unteren Ende raus. Die meisten Menschen, die das Abitur anstreben oder noch studieren. Höhere Bildung ist aber ein Gegenmittel gegen Autoritarismus (s. o.), was sich auch in Nachwahlauswertungen betreffs der AfD-Ergebnisse bestätigt. So wählten z. B. bei der Europawahl in diesem Jahr Menschen mit hoher Bildung nur halb so oft AfD, was einem Unterschied von 100 % entspricht.
Eine Auswertung der letzten Bundestagswahl ergab ferner, dass unter den Berufstätigen fast ein Fünftel mehr AfD gewählt wurde als im Durchschnitt (vgl. „Stimmabgabe nach Beruf und Konfession (Zweitstimme)“).
Bei der Europawahl wurde überdurchschnittlich in der Altersspanne zwischen 25 und 59 Jahre AfD gewählt:
Also im Erwerbsalter.
Jene ca. 27 % der Wahlberechtigten, die schon 65 Jahre oder älter sind und somit in den allermeisten Fällen schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, finden in der Erwerbspersonenbefragung ebenfalls keine Berücksichtigung.
Das Wählerpotenzial wird also durch diese Erwerbspersonenbefragung in mehrfacher Hinsicht verzerrt, einmal durch den Ausschluss höher gebildeter junger Menschen - die Studienanfängerquote als Anteil der Studienanfänger an der Bevölkerung des entsprechenden Geburtsjahres lag 2022 bei 56,4 % - und zum anderen durch den Ausschluss von Menschen im Rentenalter, die ebenfalls deutlich unterdurchschnittlich autoritär gewählt haben. Obwohl der Anteil der jungen Menschen, die noch zur Schule gehen oder studieren, demografiebedingt nicht so groß ist, kommt man zusammen mit den aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen sicher auf ungefähr 30 %, die bei der Erwerbspersonenbefragung außen vor bleiben. Das ist dann angesichts der abweichenden Wahlpräferenzen schon erheblich.
Lange Rede, kurzer Sinn: Vom BSW-Wählerpotenzial der WSI-Befragung muss man wohl - bezogen auf die Gesamtbevölkerung - gewaltig abschichten. Und danach hat man immer noch das verbleibende Problem der Überlappung.
Dies nur, um deinem Pessimismus etwas entgegenzuwirken.
Die Wahlen in den drei neuen Bundesländern werden zeigen, ob meine Hypothesen Wert haben
Daraus würde ich nicht allzu viel ableiten, zumal diese Bundesländer nicht sonderlich repräsentativ für Deutschland sind. Vom kumulierten AfD-BSW-Ergebnis von 22,1 % wichen diese Bundesländer bei der Europawahl in Prozentpunkten wie folgt ab:
Sachsen: + 22,1
Thüringen: + 23,6
Brandenburg: + 19,2
Im Schnitt also betrug die Abweichung ca. 100 %.
Zusammengenommen stellen diese drei Bundesländer ungefähr 11,4 % der Wahlberechtigten.
Hier zudem noch die Gegenüberstellung für die AfD-Ergebnisse in den drei Bundesländern der jeweils letzten Landtagswahlen von 2019 zum derzeitigen Erhebungsstand (n. Dawum):
Sachsen:
27,6 % → 31 % (+ 3,4)
Thüringen:
23,4 % → 28,6 % (+ 5,2)
Brandenburg:
23,5 % → 23,6 % (+ 0,1)
Sooo groß sind die Unterschiede überwiegend gar nicht. In Brandenburg kann man sogar von einem Stagnieren sprechen.
Ich begrüße die differenzierte Formulierung bzgl. „autoritäre Regierung“ und BSW. Nichtsdestotrotz lässt die Fragestellung offen, warum eine spezielle Nennung des BSW hier relevant ist:
Auf was zielt die Frage: autoritäre Systeme im Allgemeinen oder speziell Russland? Gibt es eine Partei im Bundestag, die nicht „im Verdacht“ steht „die Nähe zu autoritären Systemen zu suchen“ (man denke an die regelmäßige Hofierung diverser Bundesregierungen in beispielsweise Saudi-Arabien oder Katar)? Und was ist mit Annäherung gemeint: das binäre Gegenteil von (gezielter) Entfremdung oder eine klar proaktive Bevorzugung eines Landes gegenüber einer Neutralität bzw. Gleichbehandlung?
Statt BSW hätte ich auch AfD sagen können, aber das Problem ist: Das würde vom Thema ablenken, da es so viele andere, legitime Gründe gibt, warum die AfD eine Gefahr für die Demokratie ist, sodass die Tatsache, dass sie Russland hofiert, das geringste Problem ist Beim BSW ist die teilweise völlig unreflektierte Übernahme russischer Propaganda hingegen eines der, wenn nicht das, größte Problem der Partei.
Dass auch die Union und die SPD z.B. im Hinblick auf Saudi-Arabien gerne wegschauen ist korrekt, aber ich glaube, es ist fair zu sagen, dass Saudi-Arabien und Katar keine Vorbilder für die politische Gestaltung sind, während Russland als ein Block einer bi- oder gar multipolaren Welt definitiv ein solches Vorbild ist. Also bei Katar und Saudi-Arabien wird aus wirtschaftlichen Erwägungen darüber hinweg geschaut, dass diese Staaten keine Demokratien sind (ähnlich wie beim „lupenreinen Demokraten“ Putin früher…), aber in der aktuellen Situation mit Russlands imperialistischen Ambitionen ist eine Annäherung gerade an dieses Land doch noch etwas anderes…
Die Frage im Rahmen der Demokratie bleibt halt wirklich: Wenn eine Mehrheit des Volkes irgendwann tatsächlich BSW und AfD wählen würde (oder andere Parteien, die sich eher nach Osten als Westen orientieren wollen), wäre das für uns im Rahmen des Grundgesetzes in Ordnung? Oder wäre das schon etwas, wo wir sagen würden, dass wir das im Zweifel mit einem Parteiverbot verhindern müssten, weil die Ost-Orientierung mit tragenden Grundsätzen unserer Verfassung nicht vereinbar wäre (z.B. das Rechtstaatsprinzip)?
Die AfD hatte ich nicht gemeint (die sehe ich eher direkt bei „möchte autoritärer Regierung“), sondern SPD, Union und Grüne – zumindest bzgl. „autoritäre Systeme“.
Ich stimme zu, dass Russland für unsere Politik wesentlich relevanter ist als Saudi-Arabien oder Katar. Aber das gilt unabhängig davon, ob dort autoritäre Systeme herrschen. Zielt die Frage nicht eher darauf, wie unsere Demokratie damit zurecht kommen würde, falls die Mehrheit des Volkes die aktuelle Positionierung Deutschlands in der multipolaren Weltordnung ändern möchte?
Ich kann nicht nachvollziehen, welche Indizien für eine Kollision des BSWs mit dem Grundgesetz sprechen sollen oder geht um die Befürchtung, dass das BSW eine AfD-Regierung und deren Grundgesetz-Verstöße tolerieren könnte?
Ich befürchte, wenn diese Neupositionierung hiesse, sich eher dem russischen Einfluss zuzuwenden statt dem amerikanischem, das wir dann wohl über kurz oder lang nicht mehr über eine Demokratie sprechen. Zumindest nehme ich Putin als aktuellem Staatsführer Russlands nicht als Verfechter demokratischer Werte wahr.
Was wiederum für das BSW bedeutet, das sich recht offensichtlich eher zu Russland statt zu den USA positioniert, zumindest einem Wechsel weg von der Demokratie nicht aktiv im Wegecstehen würde, sondern das ggf auch begrüßen würde
So meine Wahrnehmung.
Die Forderung nach einer weniger starken strategischen Abhängigkeit Europas von den USA impliziert nicht den Wunsch nach Abhängigkeit von Russland.
Frankreich (bzw. Macron) wirbt für ein autonomeres Europa. Das heißt ein Europa, dass weder Juniorpartner in einer US-amerikanischen, russichen oder chinesischen Einflusssphäre ist, sondern die Außenbeziehungen zu allen Großmächten souverän mitgestalten kann.
Da reden wir von zwei verschiedenen Dingen.
Das wir unabhängiger von den USA werden müssen und als Europa selbstständiger ist das eine, da bin ich auch bei Dir.
Aber Parteien wie BSW oder AfD implizieren doch eher eine stärkere Hinwendung zu Russland, das sehe ich kritisch.
Mir fällt tatsächlich kein Staat ein im direkten Einflussbereich Russlands, der sich zu einer prosperierenden und freien Demokratie entwickelt hätte. In der Regel erst wenn man diesen Einflussbereich klar verlassen hat.