Eurer Argument geht, wenn ich Eure Kommentare richtig verstanden habe, so: Die offizielle Begründung - keine (Partei)öffentlichkeit bei der Delegiertenwahl - der Grünen (formal am Ende des Bundesschiedsgerichts) ist so hanebüchen, dass es nur vorgeschoben sein kann, und tatsächlich sollte durch den Ausschluss des OV Saarlouis sichergestellt werden, dass bei der zweiten Delegiertenkonferenz das Frauenstatut eingehalten wird, was den eigentlich demokratisch gewählten Kandidaten Ulrich verhindern würde.
Ich möchte folgende Gegenthese aufmachen, die ja in anderen Kommentaren schon anklang: Die Grünen suchten nach Möglichkeiten, den despotischen Provinz-Paten Ulrich (in Anlehnung an Cohn-Bendit aus dem oben verlinkten tagesspiegel-Artikel) zu stoppen. Denn an den in dem Spiegel-Artikel von 1999 beschrieben Umständen hat sich wenig geändert. Ulrich hält den Ortverband Saarlouis besetzt und dominiert dadurch den kleinen Saarländer Landesverband. Weil man an die kaputten Strukturen im Saarland nicht rankommt und sie schon gar nicht im Wahlkampf thematisieren will, dachten die Grünen, sie könnten über einen Formfehler des OV Saarlouis diesem beikommen. Der Verstoß gegen das Frauenstatut war gemeinsam mit Ulrich auf Platz 1 und dem Verlauf der ersten Delegiertenkonferenz nur der parteiinterne Anlass, die Saarländer Verhältnisse nicht länger hinzunehmen.
Im Einzelnen:
Sowohl der Bundeswahlleiter wie auch Ihr hebt stark darauf ab, dass ein Drittel der Delegierten ausgeschlossen worden sei und daher ein gravierender Verstoß gegen das Demokratieprinzip vorliege. Was der Bundeswahlleiter zurecht nicht problematisiert, was die Grünenspitze kaum sinnvoll vorbingen kann, was aber aus meiner Sicht der Kern des Problems ist, ist die Frage:
Wie um alles in der Welt kann es sein, dass der Ortsverband Saarlouis ein Drittel der Delegierten einer Landesdelegiertenkonferenz stellt??
Der Tagesspiegel spricht von 700 Mitgliedern der Grünen im Ortsverband Saarlouis, einem Kaff von 34.400 Einwohnern und dem Stamm-Ortsverband von Hubert Ulrich. Das Saarland hat eine knappe Millionen Einwohner. Unten kommen noch ein paar Zahlenspiele, im Ergebnis würde man bei einem solchen Ortsverband ca. 30-40 Mitglieder oder 2,5 % der Landesdelegierten erwarten. Auf der einen Seite ist es mir ein Rätsel, wie jemand mehrere Hundert Gefolgsleute aus seinem Verwandten- und Bekanntenkreis rekrutieren kann. Auf der anderen Seite scheint Ulrich nicht der Menschenfänger zu sein, der die Massen in Saarlouis begeistert (zumindest wenn man die sehr durchschnittlichen Wahlergebnisse betrachtet). Nun ist es nicht verboten, in eine Partei aus persönlicher Verbundenheit zu einem Funktionär einzutreten und auch in anderen Parteien, Zeiten und Orten soll es immer wieder zu Eintrittswellen vor wichtigen Wahlen gekommen sein. Was in Saarlouis läuft, sprengt aber jeden Rahmen.
Während die Bundes-Grünen bislang das Theater im Saarland eher mit geringem Nachdruck zu lösen versucht hatten (laut Tagesspiegel verstieß der Landesverband auch bei den vorangegangenen Listenaufstellungen gegen das Frauenstatut und der aktuelle MdB aus dem Saarland ist ja auch ein Mann, was gegen die These spricht, das Frauenstatut sei der eigentliche Grund gewesen), sah man diesmal sowohl den dringenden Bedarf (Ulrich will selbst in den Bundestag) wie auch die Möglichkeit (nachgewiesene Unregelmäßigkeiten) einzugreifen.
Die Argumentation des Bundesschiedsgerichts erscheint mir dabei nicht so abwegig wie es der Kommentar von Ulf und die komplette Nichterwähnung in der Folge vermuten lässt. Dass die Öffentlichkeit einer Wahl Teil des Demokratieprinzips ist, hat der Verfassungsblog-Beitrag schon herausgearbeitet. Daraus folgt zwar mMn nicht zwingend, dass die Wahl der Delegierten auch öffentlich für nicht-Stimmberechtigte sein muss. Man kann aber sehr wohl argumentieren, dass die Ausgestaltung des demokratischen Prozesses den Parteien obliegt und diese konkrete Ausgestaltung dann den Maßstab für die Frage bildet, ob bestimmte Delegierte ordnungsgemäß gewählt wurden. Gleiches gilt ja etwa für Ladungsfristen und ähnliches. Und das Öffentlichkeitsprinzip erscheint in einem anderen Licht angesichts der dubiosen Umstände in diesem Ortsverband. Dass die Partei wissen will, ob Ulrichs Privat-Ortsverband sich bei der Wahl an alle Regeln hält, erscheint sehr berechtigt (Beschlussfähigkeit, Rederecht für Gegenkandidaten usw).
Allerdings haben sich die Grünen dann komplett auf diesen Fehler fokussiert, weil sie meinten ein Mittel gegen das eigentliche Demokratieproblem im Saarland gefunden zu haben. Auch der Bundeswahlleiter spricht ja an, dass man eher auf Zeit gespielt hat und offensichtlich nicht bemüht war, die Fehler bei der Delegiertenwahl zu fixen. Denn das hätte ja das Kernproblem des absurd aufgeblähten OV Saarlouis nicht gelöst. Die „Lösung“ der Schiedsgerichte, zu versuchen, einen Fehler des OV maximal auszureizen, weil man an die Klüngel-Armee nicht rankommt, erscheint mir auch zweifelhaft und zumindest handwerklich maximal undurchdacht.
Ich bitte Euch aber zu überdenken, ob Ihr Hubert Ulrich wirklich uneingeschränkt als Demokraten darstellen wollt, der von einem überhöhten Frauenstatut oder fiesen Bundes-Grünen ausgebremst wurde. Oder ob es nicht andere Erklärungsansätze mit mindestens der gleichen Plausibilität gibt, die die Grünen zwar auch nicht reinwaschen, die aber vielleicht nicht ganz so eindimensional sind.
Es folgen nun einige Zahlenspiele, die die Absurdität des Ortsverbands Saarlouis belegen sollen:
Wenn man die Mitgliederzahlen von Ende 2019 zugrunde legt (Parteimitglieder nach Bundesländern | bpb.de), die noch ein bisschen niedriger waren und daher plausibel sind zu den Zahlen vom Tagesspiegel, dann
- hatten die Grünen insgesamt 96.487 Mitglieder. Damit kommen auf ein Mitglied bundesweit 862 Einwohner oder 43 Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2017,
- hatten die Grünen im Saarland 1.728 Mitglieder, wovon ein Drittel auf den Ortsverband Saarlouis entfallen soll, einem Kaff mit 34.400 Einwohnern,
- hatten also die Grünen in Saarlouis 576 Mitglieder. Damit kommen auf ein Mitglied 60 Einwohner oder 2,2 Zweitstimmen (die Grünen hatten in Saarlouis 1.248 Zweitstimmen! https://wahlergebnis.saarland.de/BTW/details_gemeinde-44115-saarlouis_gesamt.html).
Umgekehrt würde man bei normalen Verhältnisses zwischen 40 (bezogen auf die Einwohner) und 29 (bezogen auf das Wahlergebnis als Hinweis auf die Stärke der Partei vor Ort) Mitglieder erwarten. Die Zahlen stimmen sicher nicht 100%, weil sie mit unterschiedlichen Jahreszahlen hantieren und zum Beispiel Ortsverband und Gemeinde gleichsetzen. Die Tendenz dürfte aber stimmen. Ich wäre froh, wenn mir jemand meinen Denkfehler aufzeigen könnte.
Transparenzhinweis: Ich bin Mitglied bei den Grünen, allerdings nur einfaches. Ich habe daher keinerlei interne Einblicke, sondern lese nur Zeitung und mutmaße.