Liebes Lage-Team,
ihr habt beim Bericht über die republica: das Thema Meinungsfreiheit angesprochen und zusammengefasst, dass es in Deutschland keine staatliche Zensur gebe und das Missverständnis oft darin liege, dass Meinungsfreiheit nicht bedeute, seine Meinung unwidersprochen äußern zu können. Ich möchte hier gerne drei ergänzende Anknüpfungspunkte liefern, die zeigen, dass die Situation komplexer ist:
1. § 188 StGB – Schutz von Politikern vor übler Nachrede
Der neue § 188 StGB, der die üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens zu Recht unter besonderen Schutz stellt, ist fraglos wichtig, um insbesondere auch die regelmäßig verbal ekelig angegriffene Kommunalpolitiker zu schützen – damit diese ihre Ämter nicht hinschmeißen – wie immer öfter passiert. Die Kehrseite ist jedoch, dass nun auch vergleichsweise harmlose Formulierungen staatlich sanktioniert werden können, auch ohne das der/die Betroffene sich persönlich „ehr-verletzt“ fühlen muss und Strafantrag stellt. . Ein Beispiel ist die Hausdurchsuchung bei einem Mann, der Robert Habeck als „Schwachkopf“ bezeichnet hatte (Robert Habeck und „Schwachkopf“: Die rechtlichen Folgen).
Auch der unverdächtige Economist warnt vor einer zunehmenden Bedrohung der Meinungsfreiheit in Deutschland durch gesetzliche Überreaktionen, welche die Grenzen der Meinungsfreiheit immer weiter einschränken (The threat to free speech in Germany)- der volle Artikel leider hinter Paywal).
2. Israelkritik und Antisemitismus-Definition
Ihr habt in eurer ausgezeichneten Folge über Antisemitismus selbst auf die Schwierigkeiten und Probleme hingewiesen, die mit der in Deutschland verbreiteten IHRA-Definition von Antisemitismus verbunden sind. Insbesondere in der Kulturszene und an Hochschulen fühlen sich viele Menschen verunsichert, ihre Meinung zum Nahostkonflikt zu äußern. Zwar wird hierzulande niemand wegen politisch unpassenden Äußerungen eingesperrt, aber die Angst vor gestrichenen staatlichen Förderungen und Zuschüssen ist in beiden Bereichen groß. Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen Veranstaltungen oder Förderungen insb. aufgrund des Verdachts auf antisemitische Positionen abgesagt oder gestrichen wurden – auch wenn Gerichte diese Entscheidungen später aufheben, können die Folgen für die Betroffenen existenziell sein.
3. Allgemeine „Cancel Culture“ von Personen und Veranstaltungen
Allgemeiner betrachtet stellt die sogenannte „Cancel Culture“ eine Herausforderung dar, bei der sowohl von links als auch von rechts politischer und gesellschaftlicher Druck auf Personen oder Institutionen ausgeübt wird, bis staatliche Behörden Veranstaltungen absagen oder Redner ausladen. Zwar führt auch dies glücklicherweise niemanden direkt ins Gefängnis, doch kann es für die Betroffenen durch Reputations- und Einkommensverluste zu existenziellen Bedrohungen werden. Darüber hinaus trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, die Meinungsfreiheit sei immer weniger gewährleistet.
Fazit
Laut Allensbach-Institut sind aktuell nur noch 40 % der Deutschen der Meinung, dass sie ihre Ansichten frei äußern können - ein Abfall von ca. 80% (Gefühlte Meinungsfreiheit in Deutschland 2023| Statista). Diese historisch niedrige Zahl zeigt eine tiefe Verunsicherung hinsichtlich der tatsächlichen Meinungsfreiheit in Deutschland. Ich denke, der Schutz der Meinungsfreiheit ebenso essenziell wie der wirksame Kampf gegen gezielte Desinformationskampagnen, die unsere liberale Gesellschaftsordnung bedrohen. Es ist ein schwieriger Balanceakt, der im Einzelfall auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigen kann. Dennoch bleibt das weitverbreitete Gefühl eines Rückgangs der Meinungsfreiheit ein vielschichtiges Phänomen, das sich nicht allein mit dem Hinweis auf ein Missverständnis erklären lässt, Meinungsfreiheit bedeute nicht, von Widerspruch verschont zu bleiben. Vielleicht könntet Ihr dieses Spannungsfeld in einer der nächsten Sendungen noch einmal vertiefend aufgreifen?