Alternativdeutungen zu einer beginnenden Invasion in der Ukraine

Das Narrativ vom Einmarsch in die Ukraine hat mit gestern einen Schritt in die Richtung gemacht, sich zu bewahrheiten. Zur Erinnerung, bis dahin war nichts passiert (was nicht ähnlich in den Vorjahren vorkam und sich innerhalb von Bereichen abspielte, wo Russland seine militärischen Einheiten bewegen kann) und es stand die Möglichkeit im Raum, dass es so bleibt. Stattdessen hat sich die Situation deutlich geändert.

Unklar ist noch, ob eine defacto russische Präsenz im Donezbecken einfach nur offiziell gemacht wird oder ob auch territoriale Ansprüche der Separatistenrepubliken durchgesetzt werden sollen. Denn diese kontrollieren im Moment nicht das gesamte Gebiet, das sie beanspruchen. Russland erkennt diesen Anspruch an, aber was folgt daraus? Würde sich die russische Regierung dazu entscheiden das Gebiet mit militärischen Mitteln wiederherzustellen, käme es zu einem Krieg in der Ostukraine, es sei denn das ukrainische Militär würde sich zurückziehen.

Aber der Fokus soll erneut sein, ist es der Beginn einer Invasion, also eines Einmarschs in Gebiete jenseits der schon seit 2014 umstrittenen? Das eigentliche Narrativ.

In diesem Rahmen ist der Schritt der Anerkennung der Seperatistenrepubliken und Entsendung von russischen Truppen der erste Teil der größeren Invasion. Jetzt müsste es mit provozierenden Eskalationen oder der Konstruktion von Vorwänden weitergehen, die aus russischer Sicht eine Begründung für diese Invasion liefern, denn dahingehend haben sie bisher nicht auf ihre Bevölkerung eingewirkt. (Einer der Anhaltspunkte, die gegen eine Invasion sprechen.)

Soviel zu den Vorbemerkungen, welche andere Deutung dieses Schrittes gibt es nun, wenn man weiterhin davon ausgeht (so wie ich), dass eine Invasion jenseits der Ostukraine nicht geplant ist?

An dem Punkt, greife ich einen Irrtum meinerseits auf. Denn obwohl ich die Anzeichen für die Anerkennung der Separatistengebiete gesehen hatte, mindestens zwei Tage vorher, habe ich gleichzeitig nicht gedacht, dass es zu diesem Zeitpunkt zur Intervention kommen würde:

Warum ich selbst eine Intervention Russlands im Donezbecken weiterhin für unwahrscheinlich halte, ich denke man sieht hier eine sehr günstige Gelegenheit Konzessionen von der ukrainischen Regierung zu bekommen quasi durch negative Fremd-PR für die eigene Seite und für die Zukunft des Landes. Gleichzeitig ist fraglich, ob eine Besetzung des Donbass die sicherlich signifikanten darauf folgenden Sanktionen wert ist, die sich im ungünstigsten Fall überhaupt nicht unterschieden könnten, von denen bei einer wirklichen Invasion ukrainisch kontrollierten Territoriums.

(Letzteres hat sich nicht bewahrheitet, die Sanktionen sind noch zurückhaltend, obwohl die deutsche Regierung jetzt sehen muss, wie sie die Eröffnung von Nord Stream 2 rechtfertigen will. Natürlich könnte der Versuch die Grenzen des Separatistengebiets auszudehnen, direkt schärfere Sanktionen nach sich ziehen.)

Mein Fehler lag darin zwar eine Gelegenheit zu sehen, aber nicht dass deren Ziel für Russland nicht mehr attraktiv war. Letztlich haben Deutschland und Frankreich das Angebot unterbreitet, die seit Jahren verschleppte Umsetzung des zweiten Minsker Abkommmens wieder in Gang zu bringen. Meine Überlegung war, dass man die beidseitig hergestellte Drohkulisse nutzen würde, um Kiew zu konkreten Schritten zu bewegen, die sie nie gemacht hatten. Aber letztlich gibt es für die Umsetzung einen langen Weg, nach einigen Schritten hätte man den Prozess leicht erneut verschleppen können.

Ich denke die russische Regierung hat hier eine erste Konsequenz aus einem aus ihrer Sicht zu schlechten Verhandlungsangebot des Westens gezogen und hat dieses Kapitel vermutlich permanent geschlossen. Dazu kommt, dass es auch auf Seiten der Russen eine narrative Diskrepanz gibt, wenn man einerseits die Einwohner dieser Gebiete als schutzbedürftige Russen darstellt und andererseits jahrelang berichtet - mal mehr, mal weniger berechtigt - wie sie unter Beschuss genommen werden.

Nun geht es aus Sicht der Russen vermutlich nur noch um die eigentliche Kernfrage gegenüber dem Westen, die Frage nach Garantien gegen eine westliche militärische Präsenz in der Ukraine.

Läuft es darauf nun nicht zwangsläufig hinaus? Die Führungen in den beiden „Volksrepubliken“ wollen doch ganz klar mehr als das jetzt von ihnen beherrschte Gebiet. Wenn deren Truppen nun vorrücken, wie sollten ukrainische Streitkräfte ihre Stellungen halten, ohne das Risiko einzugehen, auf der anderen Seite auch auf „echte“ Russen zu feuern? Entweder die ukrainische Seite weicht zurück oder die russischen Streitkräfte werden früher oder später in Kämpfe hineingezogen. Falls das nicht ohnehin das Kalkül hinter der Stationierung dieser „Friedenstruppen“ ist.

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Nun, es wäre auch möglich, dass Russland erstmal nur die jetzige Demarkationslinie sichert. Grenzen lassen sich auch langsam verschieben. Aber das wird sich sicherlich bald zeigen.

Nur meine ich das auch nicht mit Invasion. Ich habe nicht genau geschaut, ich denke mal die beanspruchen die beiden gleichnamigen Oblasten. Wenn jetzt Russland genau dieses Gebiet erobern würde und nicht mehr, würde das dann der Erzählung von der Invasion der Ukraine aus den letzten Monaten entsprechen? Ich denke nein. Die geht über dieses umstrittene Gebiet deutlich hinaus. Eigentlich hat es darin sogar nur am Rande Erwähnung gefunden, denn das „haben“ die Russen ja schon. Das typische Bild war der Angriff auf Kiew.

Wenn dieses Einrücken im Donbass der erste Schritt dieser Art von Invasion ist, dann braucht es auch Argumente für eine Intervention, die über das Gebiet des Donbass hinausreichen.

Was man sich unter einer „Invasion“ vorstellt, ist jedermann anheim gestellt. Sollte es zu einem echten Krieg kommen, müssten die russischen Streitkräfte wenigstens so weit in die Ukraine vorstoßen, um einen militärischen Sieg zu erringen.

Welchen Teil der Ukraine es zu erobern gilt, wer weiß das schon. Als es 2014 losging mit der Errichtung von „Neurussland“ gab es unterschiedliche Vorstellungen unter den Separatisten, wie weit in die Ukraine hinein die Ansprüche reichen. Aber selbst wenn man nur die beiden Bezirke Luhansk und Donezk anschaut, geht es schon um eine Verdreifachung der momentan von Separatisten/russischen Streitkräften besetzten Gebiete. Auch ist unklar, ob die russische Führung eine erfolgreich verlaufende Heimholung der als russisch angesehenen Gebiete nach Belieben stoppen könnte.

Irgendwo vor Lemberg wird wohl spätestens Schluss sein. Willst du nun einen Längengrad benannt bekommen, ab dem es dann eine echte Invasion ist? Wenn man sich mal ganz naiv die Landkarte anschaut, dann war der Vorstoß der Wehrmacht bezogen auf das gesamte Staatsgebiet der UDSSR auch lediglich ein ‚minor incursion‘.

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Das meine ich vor wenigen Tagen widerlegt zu haben auch wenn das wenig überraschend nicht auf fruchtbaren Boden gestoßen ist.

Korrekt, mit dem heutigen Tag hat sich das grundlegend geändert.
Für alles, was jetzt passiert muss das russische Volk seinem der Realität völlig entrückten Machthaber die Schuld geben.
Vermutlich war es gut, dass Merkel schon nach 16 Jahren abgetreten ist.
Russland hat das Zuckerbrot abgelehnt.
Sie können die Separatistengebiete besetzen und werden wirtschaftlich isoliert.
Oder sie marschieren weiter und die demokratischen Staaten werden zur Peitsche greifen.
Putin hat sich in seinem Machtrausch total überschätzt und hat, statt die Situation zu seinem Vorteil zu nutzen, alles verspielt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die wirtschaftlichen Folgen in Russland Frust erzeugen und dann wird es extrem spannend, wie sehr das Volk noch zu seiner Führung steht.

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Nun ich werde mich mit niemanden darüber streiten, ob das eine Invasion ist. Außer man erkennt, wie Russland, diese Gebiete als unabhängige Länder an, ist es offensichtlich eine. (Wobei es jetzt heißt, es wären noch keine Truppen entsandt worden. Aber wer weiß.) Mir geht es nur um die Frage, ob es die Invasion ist, die uns monatelage „versprochen“ wurde. Bzw. eigentlich, ob es für den Medienhype eine wirkliche belastbare Erkenntnisgrundlage gab oder was sonst dahintersteckt.

Denn so wie ich das sehe, besteht sogar die Möglichkeit, dass diese russischen Schritte jetzt durch den Hype ausgelöst wurden.

Die Territorialansprüche sollen wohl klar umrissen sein und stehen in der Verfassung der jeweiligen Volksrepublik.

Ich würde vermuten, dass spätestens jetzt die Hilfe in eine Weisung umschlägt.

Wodurch?

Eigentlich hat es sich nicht grundlegend geändert, denn Russland befindet sich bereits seit 2014 mit militärischen Einheiten auf überwiegend international als ukrainisch anerkanntem Gebiet ohne dafür eine Erlaubnis zu haben. Relativ sicher inklusive dem Osten des Landes. Montag wird da ziemlich überhöht.

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Eine Ergänzung: Die Aktionen Russlands jetzt überraschen mich nicht wirklich. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber eigentlich nur, weil man sich daran gewöhnt hatte, dass Russland offenbar den Status Quo in der Ostukraine akzeptiert. Allerdings so im Nachhinein war der vermutlich nicht mehr stabil, also noch ein Status Quo. Ich erinnere mich an eine Einschätzung, dass zuletzt der Ankauf eines bestimmten Drohnentyps durch die Ukraine von der Türkei, das militärische Gleichgewicht zu Gunsten der ukrainischen Armee verschoben haben soll. Da eine Lösung über das zweite Minsker Abkommen praktisch von Anfang an keinerlei Fortschritte gezeigt hat, war diese Anerkennung, um offiziell intervenieren zu können, vermutlich doch in den Karten.

Das ist bis jetzt zwar deutlich mehr als nichts, aber eben doch keine Invasion großer Teile der Ukraine.

Glaubst du allen Ernstes, dass die Russen im Falle einer heißen Auseinandersetzung an den Grenzen des Donbass plötzlich stoppen würden?

Dann ist die Erzählung sehr schnell geändert in "wir müssen die Ukrainer so vernichtend schlagen, dass sie von einer „Invasion“ des Donbass absehen.

Zu Deiner Aufstellung, dass ja jedes Jahr Truppen entsendet werden würden und darum sich dieses Mal nicht von vorherigen entscheiden würde, meinte ich:

Du sahst in der Brücke keine Eskalation, ich habe es aber damals schon als das Symbol empfunden, als das es gemeint war: Straßen (Verkehrswege) sind immer auch da, um etwas an sich zu binden. Das war schon bei den Römern so und ist auch jetzt das erklärte Ziel der neuen Seidenstraße.

Nur hat Russland das bisher im Bezug auf den Donbass immer abgestritten. Damit war es aus diplomatischer Sicht noch nicht passiert und war aus diplomatischer Sicht auch nicht geplant.
Diese Situation hat sich nun geändert. Auch amerikanische Diplomaten können das jetzt offen behaupten ohne dass sich Russland verletzt fühlt.

Würde mich ja gerne in Putin reinversetzen und verstehen, was das soll (sofern es nicht die irrationale Hoffnung ist, innenpolitisch von internen Problemen abzulenken).
Wie denkt er, wird die EU reagieren?
„Böser Putin, Menschenrechte!!11!, hier hast ein Leckerli, jetzt gib bitte wieder Dein Gas frei, wir nehmen es Dir auch nicht übel nur ein bisschen für die öffentliche Wahrnehmung“?
Ich glaube ja eher, dass Victor Orban es ganz lustig fand, in der Krise sich mit Putin fotografieren zu lassen und die EU ein bisschen zu ärgern. Aber glaubst Du ernsthaft, er ist scharf darauf, eine direkte Grenze zu Russland zu haben? Letztendlich wissen doch sowohl Polen als auch Ungarn, dass es unter dem Rockzipfel der Europa wesentlich gemütlicher lebt als unter dem Stiefel Russlands.

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Da ich den US-Amerikanern und Briten, also vermutlich letztlich den Five Eyes, ihre behauptete Invasion nicht abnehme, glaube ich das. Wenn die Ukrainer mit Ansage einen Rückeroberungsversuch starten würden, dann würde ich das Szenario von Georgien 2008 erwarten. Da das auch die Ukrainer wissen, halte ich auch das für eher unwahrscheinlich.

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Ja, dann wundert es mich nicht, dass es „nicht auf fruchtbaren Boden gestoßen“ ist, denn das widerlegt mitnichten, dass die Massierung von russischen Truppen an der ukrainischen Grenze im Winter erstmal typisch ist.

Ich sehe darin nur eine Eskalation, wenn man bis dahin dachte, die Russen würden die Krim zurückgeben. Aber sie hatten das Land bereits an sich gebunden mit dem Zeithorizont „für alle Ewigkeiten“. Diese Brücke (die nebenbei schon vor der Annexion geplant war) bedeutet schlicht, es auch so zu behandeln. Denn das ist nun kein kleines Territorium und will zuverlässig versorgt sein. Ich finde man hat eher einen Punkt, wenn man die Brücke als Demütigung der Ukraine bezeichnen würde, denn sie wurde nicht so ausgelegt, dass sie den Schiffsverkehr ins Asowsche Meer möglichst ungestört lässt.

Keine Ahnung, so scharf wie die Russen auf zehn Jahre Partisanenkampf in den Karpaten? Denn den gäbe es vermutlich, um diese Grenze zu halten. Reich der Phantasie, wenn du mich fragst.

Um die Ukraine nach Möglichkeit davon abzuhalten, sich militärisch zur Wehr zu setzen gegen was auch immer die russische Führung letztlich vorhat, müssen die russischen Streitkräfte in hinreichender Zahl und nah an der Grenze bereitstehen, so dass sie nötigenfalls auch eine „echte“ Invasion durchführen können.

Dieses Szenario würde aber vorraussetzen, dass die Ukrainer, die momentanen Gebiete angreifen.

Halten die Ukrainer still und bewegen sie sich nicht vorwärts, befürchte ich, wird von den Separatisten eine Offensive ausgehen die momentanen ukrainisch kontrollierten Gebiete „ihrer“ ausgerufenen VR’n zu erobern.

Damit würde die heiße Auseinandersetzung die ich meine beginnen.

Sollte das so sein wäre das einzigste was die Ukrainer tun könnten das Gebiet kampflos zu räumen, etwas das sie seit Beginn des Konflikts nicht tun, also warum sollten sie das jetzt auf einmal?

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Und die US-Regierung hat den Aufbau dieser Drohkulisse als Planung einer großen Invasion misinterpretiert? Oder die Russen haben ihnen Informationen gefüttert, damit sie so einen großen Hype erzeugen? Denkst du das?

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Welche Motivation sollten die USA und ihre Verbündeten haben, den Umfang des russischen Aufmarschs herunterzuspielen? Wenn das, was nahe der Grenze herumsteht, für eine Invasion ausreichend ist, warum dies dann nicht auch so benennen?

Ne, im Fall von Georgien 2008 wurden die abtrünnigen Provinzen angegriffen, nicht umgekehrt.

Also es würde mich sehr wundern, wenn Russland sich von den Separatisten den Grad an weiterer Eskalation in dieser delikaten Lage diktieren lässt. Wenn die Separatisten sich systematisch vorwärts bewegen, dann ist das auch abgesprochen.

Du willst sagen, sie lügen oder täuschen bei ihren Erkenntnissen zur Intention des Aufmarschs. Nicht die Verbündeten übrigens. So ist das nicht gelaufen: https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-11-11/u-s-warns-europe-that-russian-troops-may-plan-ukraine-invasion

The U.S. is raising the alarm with European Union allies that Russia may be weighing a potential invasion of Ukraine as tensions flare between Moscow and the bloc over migrants and energy supplies.

[…]

The assessments are believed to be based on information the U.S. hasn’t yet shared with European governments, which would have to happen before any decision is made on a collective response, the people said. They’re backed up by publicly-available evidence, according to officials familiar with the administration’s thinking.

(„They’re backed up by publicly-available evidence […]“ - Oh je.)

Motivation ist ein gutes Stichwort. Denn die fehlt mir hier wirklich. War es schlicht, dass unter Trump die Aufstockung der Truppenpräsenz über den Winter viele Jahre ignoriert wurde und die neue US-Regierung bei der ersten wirklichen Gelegenheit ein Zeichen setzen wollte, dass sie Russland damit nicht durchkommen lassen? Dann haben sie sich aber offenbar selbst in die Idee von der Invasion hineingeredet. Biden scheint im Moment zu schwanken, ob das schon die auch ihm versprochene Invasion war oder ob sie noch kommt.

Da passt ganz viel nicht zusammen. Ohne Invasion jenseits des Donbass - die natürlich noch kommen kann - oder meinethalben halbwegs glaubwürdige Beweise, dass sie abgewendet wurde, hätte ich gerne Antworten.